Ein KreislaufTheodor Herzl’s Tagebücher. 1895–1904


U.I. 3/23


An das
Strafbezirksgericht IWien


Privatankläger: Karl Kraus, Schriftsteller in Wien,III. Hintere Zollamtsstrasse 3


Beschuldigter: Karl Schiffleitner, verantwort
licher Redakteur der „Reichspost“ in Wien VIII.Strozzigasse 8


wegen Verweigerung einer Berichtigung


einfach


Berufungsausführung des Privatanklägers.


Der Unterfertigte legt gegen das Urteil des Strafbezirksgerichtes I in Wien als Pressgericht Geschäftszahl UI 3/23/4
Berufung ein und begründet diese wie folgt:


Das Strafbezirksgericht I hat den verantwortlichen Redakteur der „Reichspost“ von der Verpflichtung freigesprochen, den
Punkt 7 der Berichtigung zu veröffentlichen, mit der Begründung, dass dieser keine Berichtigung mitgeteilter Tatsachen sei, „da der Um
stand, dass eifrige Anlehnungen etwas zur Wahrscheinlichkeit
machen‚ eine Meinung und keine Tatsache ist, selbst wenn
es richtig sein mag, dass dieser Mei
nung Tatsachen zugrunde liegen.“ Durch
diese Einschränkung hat das Gericht zu erkennen gegeben, dass
es sich der Argumentation der Klage, so wenig es sonst auf sie ein
geht, nicht verschlossen hat. Indem es aber solches tut und also
anerkennt, dass einer Meinung eine Tatsache zugrundeliegen kann,
so hat es auch anerkannt, dass diese Meinung nur scheinbar,
nur für den oberflächlichen Blick eine Meinung ist. Denn jeder
Meinung liegt ja eine Tatsache „zugrunde“, indem doch eine Meinung
nur über eine Tatsache gebildet werden kann. Um eine derartige Tat
sache aber handelt es sich hier keineswegs, sondern vielmehr um
eine solche, die in der Meinung enthalten, die mit ihr ge
radezu kongruent ist. Wenn das Urteil einräumt, dass es
sich hier um eine solche Tatsache handelt – und um eine andere
kann es sich ja nicht handeln, auf die andere müsste ja gar nicht
erst hingewiesen werden –, so kann es nicht mehr an dem Meinungs
wesen jener Worte festhalten, sondern müsste vielmehr zugeben,
dass der Meinungsstoff, die Meinungsfarbe der Worte un
möglich über ihren tatsächlichen Charakter hinwegtäuschen können.
Es ist gewiss bezeichnend, dass das Urteil hier zu der Formulierung
greift: „der Umstand, dass eifrige Anlehnungen etwas zur
Wahrscheinlichkeit machen.“ Diesen „Umstand“ nennt das Urteil eine
„Meinung“, was er nach der Natur des Wortes nie sein kann. „Umstand“
bedeutet nach jedem deutschen Wörterbuch nichts anderes als „die
Verhältnisse, unter denen etwas geschieht“. Damit allein
ist schon der volle tatsächliche Charakter des Prozesses, durch
den die Anlehnungen etwas zur Wahrscheinlichkeit machen, also der
Behauptung jenes berichtigten Artikels, dokumentiert. Selbst wenn
man nicht an und für sich eine „eifrige Anlehnung“ und nicht an
und für sich eine „Wahrscheinlichkeit“ berichtigen könnte, so wä
re doch der Umstand, dass eine eifrige Anlehnung eine Wahr
scheinlichkeit ergibt, also die Tatsache, dass dies der
Fall ist, berichtigungsfähig. Aber auch an und für sich liegen hier
Behauptungen vor, die dem § 23 P.G. zugänglich sind. Das Urteil
verwechselt durchaus den äussern Wortcharakter der Bestandteile
der Behauptung mit dem Wesen der Behauptung. Wenn das Gesetz wirk
lich nur beabsichtigt hätte, die handgreiflichste und konkreteste
Tatsächlichkeit berichtigungsfähig erscheinen zu lassen, dann könnte
sich die Presse mit leichter Verklausulierung die handgreiflichsten
und konkretesten Unwahrheiten leisten, ohne je eine Berichtigung
gewärtigen zu müssen, und gerade der tückischesten Methode, deren
drastisches Beispiel eben jener Punkt 7 des berichtigten Artikels
der „Reichspost“ ist, wäre Vorschub geleistet. Wie der § 26 desP.G., so würde auch der § 23 durch eine solche Auffassung illuso
risch gemacht werden. Eine Zeitung, der es der § 23 zweifellos er
schwert, zu behaupten, dass X, der neben Y einherging, ihn bestoh
len hat, brauchte dann bloss zu schreiben, die verdächtige Nähe, in
der sich X neben Y aufhielt, mache es wahrscheinlich, dass er ihn
bestohlen hat, und das Strabezirksgericht I würde erkennen, der
Umstand, dass eine verdächtige Nähe den Diebstahl wahrscheinlich
macht, sei eine Meinung und keine Tatsache.


Es ist aber von allergrösster prinzipieller Wichtigkeit,
dass eine solche Entscheidung überprüft werde, damit die Hoffnung
noch Aussicht habe, dass die gefährlichste Form einer Tatsachen
behauptung, die durch die indirekte Methode nicht das geringste
von ihrer wahren Beschaffenheit einbüsst, fassbar sei. Es sei hier
auf den Kommentar von Lisst hingewiesen, der ganz ausdrücklich
eine solche Art von Tatsachen unter jene einbezieht, die dem Be
richtigungsgesetz erreichbar sind. Auch mag das Beispiel, das der
Vertreter des Klägers in der Verhandlung beigebracht hat, die
Anschauung des Wesens einer unterstellten Tatsache fördern: die
Reichspost“ hätte gewiss etwa den Umstand, dass der Kläger im
israelitischen Tempel gesehen worden ist, zur Erhärtung der von
ihr aufgestellten „Wahrscheinlichkeit“ herangezogen, dass er zur
jüdischen Konfession zurückkehren werde. Sollte es ihm da verwehrt
sein‚ im Wege eines Gesetzes, das dem Schutz der Wahrheit dient,
festzustellen, dass er im Tempel nur erschienen ist, um einer
Trauung beizuwohnen? Es müsste wohl schlechthin unmöglich sein,
an der Argumentation der Klage, die dem Gericht erster Instanz
vorgelegen ist, vorbeizukommen, und da auch das Gericht es nicht
konnte, so entzog es sich ihr mit dem Satze: „selbst wenn es rich
tig ist, dass dieser Meinung Tatsachen zugrundeliegen“. Aber wenn
dies richtig ist, dann ist auch die Argumentation richtig und das
Urteil unrichtig, und wenn „dieser Meinung“ eine falsche
Tatsache zugrundeliegt‚ so muss es dem Berichtigungswerber erlaubt
sein, die richtige zu reklamieren. Der Zeitung bleibt es ja dann
noch immer unbenommen, auf Grund der richtigen Tatsache ihre
Meinung aufzustellen, und dann könnte diese allerdings nicht
berichtigt werden, aber zuerst muss sie, ehe sie eine unwiderleg
bare Meinung aufstellen will, die richtige Tatsache setzen.
Dies hat das Urteil erster Instanz offenbar verwechselt. Nicht die
Meinung soll berichtigt werden, die die Zeitung auf Grund einer
richtigen Tatsache ausspricht – das wäre natürlich un
statthaft –‚ sondern der falschen Tatsache, auf Grund deren sie
ihre Meinung produziert, die richtige entgegengestellt werden. Der
falschen Tatsache, die sie durch die angebliche „Meinung“ vor
spiegeln will. Denn man kann eigentlich nicht davon reden, dass
hier etwas „zugrundeliegt“, sondern nur davon, dass hier etwas
zugrundegelegt, unterschoben wird. Wie vollkommen diese Methode
in dem Artikel der „Reichspost“ praktiziert wird‚ geht insbesondere
auch aus dern Schlussatz hervor: „Ein Kreislauf ist be
endet“. Kann nach diesem Satze (auf dessen apodiktische Fassung
ein Leser des Artikels den Berichtigungswerber mit Recht aufmerk
sam macht) für einen solchen Leser noch ein Zweifel bestehen, dass
die „Reichspost“ eine Tatsache setzen will? Wird hier
nicht die von ihr eben noch produzierte „Wahrscheinlichkeit“, die
das Gericht unter dem Eindruck des äusseren Wortcharakters für
eine „Meinung“ hält, geradezu aufgehoben? von der Zeitung selbst
aufgehoben, die knapp zuvor noch von „Wahrscheinlichkeit“ gespro
chen hat? Was will die „Reichspost“ anderes, als dem Leser einen
positiven falschen Sachverhalt suggerieren, wenn sie ihre Betrach
tung mit der Behauptung schliesst, dass ein Kreislauf, jener, der
in die jüdische Konfession zurückführt, beendet ist?


Aber es bedarf für die überprüfende Instanz gewiss nicht
erst all der Hinweise auf den Zusammenhang von Tatsächlichkeit,
den die einzelnen Wortelemente jenes Satzes zwingend herstellen.
Diese selbst sind so gesetzt, dass ihr tatsächlicher Charakter un
möglich bestritten werden kann. Die an und für sich unanfechtbare
Rechtsanschauung, dass nach dem § 23 nur eine Tatsache und keine
Meinung berichtigt werden kann, hat da geradezu ein Schulbeispiel
des verbreiteten Irrtums gezeitigt, der den Meinung s
stoff mit dem Meinungswesen verwec h
selt. „Wahrscheinlichkeit“ ist aus dem zufälligen Meinungsstoff
verfertigt und das Gericht erster Instanz nimmt deshalb an, dass
hier eine „Meinung“ vorliege. Wenn das Gesetz die Berichtigung von
Meinungen ausschliesst, so will es die Freiheit des Urteils in
Sphären, die in sich der tatsächlichen Natur ermangeln, und über
Qualitäten, die die subjektive Urteilsbildungansprechen, sichern.
Keineswegs aber will es die freie Urteilsbildung auch gegenüber den
erweislichen Sachverhalten sichern. Dass etwas gut oder schlecht sei,
ist eine Meinung, die nach dem Gesetz nicht berichtigungsfähig ist.
Dass etwas vorhanden oder nicht vorhanden, geschehen oder nicht ge
schehen ist, ist selbst dann keine Meinung, sondern eine reine Tat
sache, wenn es dem subjektiven Ermessen anheimgestellt bleibt, das
Vorhandensein, das Geschehensein wahrzunehmen. Die „Mei
nung“ ist in der Sphäre, die wesentlich zu ihr spricht, ver
ankert, nicht in der Optik des Betrachters. Ihr Element beruht im We
sen der Materie, die der Betrachtung ausgesetzt ist, und kann darum
immer nur auf die dem Urteil zugängliche Qualität, nie aber
auf die dem Beweis, der Feststellung unterworfene Quantität
bezogen sein, mag auch deren Wahrnehmbarkeit noch der
subjektiven Optik einen Spielraum lassen. Der eine wird einen Sach
verhalt mit grösserer Deutlichkeit wahrnehmen als der andere: ein
Sachverhalt bleibt es darum doch, und was in dessen Betrachtung noch
Spielraum hat, ist nicht die „Meinung“, sondern das Bewusstsein, die
Ausbildung Fähigkeit der Sinne, die Wahrhaftigkeit. Die „Meinung“, die das Gesetz meint, ist nicht
die subjektive Einstellung des Betrachters zu den Objekten der Tat
sachenwelt, sondern ausschliesslich die subjektive Bemessung jener
W o e rte, die wesentlich der Beweisführung entrückt und nur
der Beurteilung ausgesetzt sind. Eine „Meinung“, wie sie das Gesetz
meint, liegt vor, wenn die Zeitung sagt, ein Schauspieler habe den
Don Carlos schlecht gespielt. Denn hier ist das Wesen der Be
hauptung die Meinung. Wenn aber die Zeitung sagt, der Schau
spieler habe „wahrscheinlich den Don Carlos zum erstenmal gespielt“,
so hat die Behauptung zwar den Meinungsstoff, ist aber die Be
hauptung einer Tatsache, wenngleich eine eingeschränkte Behauptung.
(Wenn sie „jedenfalls“ sagte, wäre es darum scheinbar nicht weniger
eine „Meinung“ – wiewohl das Pressgericht hier am Ende wankend würde –
aber wenn sie nur „wahrscheinlich“ sagt, so ist es darum doch eine
tatsächliche Behauptung.) Unmöglich kann das Gesetz dem Schauspie
ler die Möglichkeit verwehren, einer solchen wenngleich einge
schränkten Behauptung die Wahrheit entgegenzustellen, dass er den
Don Carlos schon ein Dutzendmal gespielt habe. Umsoweniger, wenn
die Zeitung noch durch Erdichtung anderer Umstände einen Zusammen
hang herstellt, der dem Leser jene falsche Tatsache umso sicherer
suggeriert, an deren Widerlegung der Schauspieler aus irgendeinem
Grunde ein Interesse hat. Schlösse das Gesetz eine solche Möglich
keit aus, so wäre der Presse mit Wendungen wie „Aller Wahrschein
lichkeit nach hat …“ oder „Gerüchtweise verlautet‚ dass …“ „Nach
unserer Meinung wird …“ (in welchem Fall nach Ansicht des Press
gerichts die „Meinung“ ja auf der Hand liegt) für jede Lüge ein
Freibrief ausgestellt. Und hier, an dem Fall einer durch subjek
tive Färbung unberührbaren Tatsächlichkeit, wird völlig fassbar,
worin der Unterschied zwischen Meinung und Tatsache und worin die
Verwechslung beruht, welche die eigentliche Grundlage des Aus
spruchs der ersten Instanz bildet. Was berichtigt wurde und was
auch in dem Fall des Schauspielers, der „wahrscheinlich den Don
Carlos zum erstenmal gespielt hat“, berichtigt wird, ist keines
wegs die Wahrscheinlichkeit als solche – in dem strittigen Fall
also keineswegs der Umstand als solcher, dass eifrige Anlehnungen
etwas wahrscheinlich machen. Gewiss wäre hier, von dem Punkte der
„Wahrscheinlichkeit“ gesehen, bloss eine Folgerung gezogen, die
dem Ermessen anheimgestellt bleibt, also eine Meinung ausgespro
chen. Gewiss kann der Schauspieler nicht berichtigen: Es ist unwahr-,
scheinlich dass es wahrscheinlich ist, dass ich zum erstenmal
u.s.w. Und an und für sich könnte auch nicht berichtigt werden:
Es ist unwahr, dass Anlehnungen wahrscheinlich
machen; denn sie machen ja faktisch nur dem etwas wahrscheinlich,
der die Behauptung ausspricht. Aber wird denn der Nachdruck auf
diese einzuräumende Möglichkeit gelegt? Was wird in Wahrheit
berichtigt? „Eifrige Anlehnungen in einem anderen Aufsatz der‚Fackel‘ an Theodor Herzls Tagebuch machen den Fall 3 zur Wahr
scheinlichkeit.“ Das bedeutet nun durchaus nicht, dass dem Schrei
ber das Recht bestritten wird, etwas, was ihm wahrscheinlich ist,
mutmassend vorzubringen. Vielmehr wird hier der ganz konkreten,
aus dem Zusammenhang deutlich vertretenden Behauptung widersprochen:
„Die Anlehnungen sind derartige‚ dass der Fall 3 zur
Wahrscheinlichkeit wird.“ Nicht die Wahrschein
lichkeit, sondern der durch eben sie be
dingte Charakter der Anlehnung wird be
stritten. Nicht die Wahrscheinlichkeit ist die Konklusion aus der
Anlehnung, sondern die Art der Anlehnung ist
die sich ergebende Konklusion aus
der gesetzten Wahrscheinlichkeit. Ob
die Anlehnungen, wenn sie bereits determiniert wären,
etwas wahrscheinlich machen, wäre natürlich reine Ermessenssache.
Wenn – wahrheitswidrig – bereits ausgesprochen wäre,
dass es Anlehnungen mit jüdisch-nationaler Tendenz sind, so dürfte
der Schreiber jede ihm beliebige Wahrscheinlichkeit folgern, ohne
dass man ihm mit dem § 23 widersprechen könnte. Dann hätte er ganz
gewiss das Recht, welche Vermutung er will, daran zu knüpfen, und
es wäre nur die Berichtigung ermöglicht, dass es keine Anlehnungen
mit jüdisch-nationaler Tendenz sind. Dies ist jedoch indirekt gesagt in der
Form: dass es solche Anlehnungen sind, die den Fall 3 zur
Wahrscheinlichkeit machen. Da es nun aber in Wahrheit, solche
Anlehnungen sind, die den Fall 3 unter gar keinen Umständen zur
Wahrscheinlichkeit machen können, weil es eben nicht Anlehnun
gen mit jüdisch-nationaler Tendenz sind, sondern Zitate über einen
Fall von Korruption, also über etwas tatsächlich Verschiedenes,
so muss die Möglichkeit gegeben sein, diese Tatsache der Behauptung
entgegenzusetzen. Die behaupteten Anlehnungen
sind solche, die erst durch die Angabe,
dass sie den Fall 3 zur Wahrscheinlich-
keit machen, charakterisiert, förmlich
definiert werden. Ihre Eigenschaft wird
damit bezeichnet und es ist ganz so, wie wenn die ih
nen angedichtete Wahrscheinlichkeit in einem Relativsatz
ausgedrückt wäre. Und dass es „solche, welche“ sind, wird
berichtigt. Die zwingend herbeigeführte Vorstellung, dass es sol
che sind, ist die berichtigte Tatsache. Nicht die Vermu
tung, die an sie geknüpft wird: dass sie etwas wahrscheinlich
machen, wird berichtigt. Sondern ihre Determinierung durch eben
diese Vermutung: die Aussage, dass es derartige Anlehnungen
sind, die den Fall 3 zur Wahrscheinlichkeit machen. Nicht die
„Wahrscheinlichkeit“, zu der die Anlehnungen et
was machen, sondern die durch sie bezeichneten „Anleh
nungen“. Es kann doch keinem Zweifel unterliegen, dass auch
durch die abstraktesten Termini, die der Meinungssphäre entnommen
sind, eine ganz konkrete Tatsache determiniert sein kann. Nicht
auf jene kommt es an – und nicht sie werden berichtigt –, sondern
auf die Tatsache, zu deren Bezeichnung sie verwendet sind. Hätte
die ‚Reichspost‘ wahrheitsgernäss geschrieben, es seien in jenem
Aufsatz Anlehnungen enthalten, in denen von der Gewinnsucht der
Neuen Freien Presse die Rede ist, und daran die Konklusion
geknüpft, dass der Verfasser wahrscheinlich zum Judentum zurück
kehren werde, so wäre es eine Mutmassung, eine Meinung, zu der sie,
wie immer sie deren Absurdität verantworten wolle, vollkommen berech
tigt wäre. Aber gerade das Verschweigen, welcherlei Anlehnungen es
sind, lässt ihre Vermutung ganz und gar nicht absurd erscheinen, son
dern stellt zwingend die Tatsache her und will sie herstellen, dass
es eben solche Anlehnungen sind, wie sie es tatsächlich nicht sind.
Indem nun der Kläger den Fall setzt, dass die ‚Reichspost‘ ganz
dieselbe Wahrscheinlichkeit an die von ihr dadurch definierten und auf die
völlig verschiedene Sphäre des Inseratenwesens fixierten Anlehnungen
geknüpft hätte‚ und zugibt, dass hier (und nur hier) das reine
Wesen der Meinung zum Ausdruck käme, glaubt er hinlänglich klar ge
macht zu haben, dass sich die Berichtigung nicht gegen das offen
bare Recht, eine Wahrscheinlichkeit aufzustellen, gegen das Recht
der Meinung richtet, sondern gegen etwas ganz anderes, nämlich
gegen das Unternehmen, durch eine solche Mei
nung erst eine Tatsache zu konstruie
ren; gegen die fälschliche Charakterisierung jener Anlehnungen
durch die Wahrscheinlichkeit, die sich aus ihnen ergeben soll;
also gegen die tatsächliche Unwahrheit, dass es ein Artikel mit
jüdisch-nationaler Tendenz sei und nicht vielmehr einer über die
Gewinnsucht der Neuen Freien Presse. Was die ‚Reichspost‘ zwar nicht
wörtlich, aber tatsächlich geschrieben hat, ist: In einem anderen
Aufsatz der Fackel sind derartige Anlehnungen enthalten,
die den Fall 3 zur Wahrscheinlichkeit machen, Anlehnungen an Herzls
Tagebuch – was ohne nähere Angabe ausschliesslich nur die
Assoziation der zionistischen Ten
denz ergeben kann. Das ist berichtigungsfähig. Und hier wird
evident, wie dieselben Worte im Nu die Meinungsfarbe zugunsten
ihres tatsächlichen Wesens verlieren. Wenngleich jedoch die Wort
fassade den judizierenden Betrachter vom Wesen der Behauptung abge
lenkt hat, so sollte er doch nicht übersehen, dass gerade auf den
Leser, der bloss den Eindruck des Satzes übernimmt, ohne diesen mit einem Gesetz zu konfrontieren, mit der
vorgespiegelten Tatsache eingewirkt wird, nicht mit der Meinung,
die im Wort enthalten ist, und dass der berichtigte Artikel keine
andere Absicht als eben diese verfolgt hat. Es macht eben den Cha
rakter und die Gefahr einer solchen Diktion aus, dass mittels des
selben Trugschlusses, den die Zeitung bezweckt, dem naiven Leser
durch eine Meinung eine Tatsache und dem judizierenden mit einer
Tatsache eine Meinung vorgespiegelt wird. Wenn das Gesetz der Presse
nur das Hindernis bereiten wollte, dass sie die gröbsten und di
rektesten unwahren Tatsachen vermeiden muss, dann brauchte sie
überhaupt keine § 23-Berichtigung zu fürchten. Da eine solche Unter
stützung unmöglich die Absicht des Gesetzes sein kann – weil es sonst
ein völlig unzulängliches, schlechtes, der technischen Entwicklung
der Zeitungslüge kaum je gewachsenes und fast nie anwendbares Ge
setz wäre –‚ so hofft der Berichtigungswerber, dass das Berufungs
gericht das Urteil erster Instanz aufheben und der Klage gegen den
verantwortlichen Redakteur der ‚Reichspost‘ in ihrem vollen Umfang
stattgeben werde.