U.I. 3/23
An das
Strafbezirksgericht IWien
Privatankläger: Karl Kraus, Schriftsteller in Wien,III.
Hintere Zollamtsstrasse 3
Beschuldigter: Karl Schiffleitner,
verantwort
licher Redakteur der „Reichspost“ in Wien VIII.Strozzigasse 8
wegen Verweigerung einer
Berichtigung
einfach
Berufungsausführung des Privatanklägers.
Der Unterfertigte legt gegen das Urteil des Strafbezirksgerichtes
I in Wien als Pressgericht Geschäftszahl UI
3/23/4
Berufung ein und
begründet diese wie folgt:
Das Strafbezirksgericht I hat den verantwortlichen Redakteur der „Reichspost“ von der Verpflichtung
freigesprochen, den
Punkt 7
der Berichtigung zu veröffentlichen, mit der Begründung, dass dieser keine
Berichtigung mitgeteilter Tatsachen sei, „da der Um
stand, dass eifrige Anlehnungen etwas zur
Wahrscheinlichkeit
machen‚ eine Meinung und keine Tatsache ist, selbst
wenn
es
richtig sein mag, dass dieser Mei
nung
Tatsachen zugrunde liegen.“ Durch
diese Einschränkung hat das
Gericht zu erkennen gegeben, dass
es sich der Argumentation
der Klage, so wenig es sonst auf sie ein
geht, nicht verschlossen
hat. Indem es aber solches tut und also
anerkennt, dass einer
Meinung eine Tatsache zugrundeliegen kann,
so hat es auch anerkannt,
dass diese Meinung nur scheinbar,
nur für den oberflächlichen
Blick eine Meinung ist. Denn jeder
Meinung liegt ja eine
Tatsache „zugrunde“, indem doch eine Meinung
nur über eine Tatsache
gebildet werden kann. Um eine derartige Tat
sache aber handelt es sich
hier keineswegs, sondern vielmehr um
eine solche, die in der Meinung enthalten, die mit
ihr ge
radezu kongruent ist. Wenn das Urteil einräumt, dass es
sich hier um eine solche
Tatsache handelt – und um eine andere
kann es sich ja nicht
handeln, auf die andere müsste ja gar nicht
erst hingewiesen werden –,
so kann es nicht mehr an dem Meinungs
wesen
jener Worte festhalten, sondern müsste vielmehr zugeben,
dass der Meinungsstoff, die Meinungsfarbe der Worte un
möglich über ihren
tatsächlichen Charakter hinwegtäuschen können.
Es ist gewiss bezeichnend,
dass das Urteil hier zu der Formulierung
greift: „der
Umstand, dass eifrige Anlehnungen etwas zur
Wahrscheinlichkeit
machen.“ Diesen „Umstand“ nennt das Urteil eine
„Meinung“, was er nach
der Natur des Wortes nie sein kann. „Umstand“
bedeutet nach jedem
deutschen Wörterbuch nichts anderes als „die
Verhältnisse,
unter denen etwas geschieht“. Damit allein
ist schon der volle
tatsächliche Charakter des Prozesses, durch
den die Anlehnungen etwas
zur Wahrscheinlichkeit machen, also der
Behauptung jenes
berichtigten Artikels, dokumentiert. Selbst wenn
man nicht an und für sich
eine „eifrige Anlehnung“ und nicht an
und für sich eine
„Wahrscheinlichkeit“ berichtigen könnte, so wä
re doch der Umstand, dass eine eifrige Anlehnung eine Wahr
scheinlichkeit ergibt, also
die Tatsache, dass dies der
Fall ist,
berichtigungsfähig. Aber auch an und für sich liegen hier
Behauptungen vor, die dem
§ 23 P.G. zugänglich sind. Das Urteil
verwechselt durchaus den
äussern Wortcharakter der Bestandteile
der Behauptung mit dem Wesen
der Behauptung. Wenn das Gesetz wirk
lich nur beabsichtigt hätte,
die handgreiflichste und konkreteste
Tatsächlichkeit
berichtigungsfähig erscheinen zu lassen, dann könnte
sich die Presse mit leichter
Verklausulierung die handgreiflichsten
und konkretesten
Unwahrheiten leisten, ohne je eine Berichtigung
gewärtigen zu müssen, und
gerade der tückischesten Methode, deren
drastisches Beispiel eben
jener Punkt 7 des berichtigten Artikels
der „Reichspost“ ist, wäre Vorschub geleistet. Wie der § 26 desP.G., so
würde auch der § 23 durch eine solche Auffassung illuso
risch
gemacht werden. Eine Zeitung, der es der § 23 zweifellos er
schwert, zu behaupten, dass X, der neben Y einherging, ihn
bestoh
len hat, brauchte dann bloss zu schreiben, die verdächtige
Nähe, in
der sich
X neben Y aufhielt, mache es wahrscheinlich, dass er ihn
bestohlen
hat, und das Strabezirksgericht I würde
erkennen, der
Umstand,
dass eine verdächtige Nähe den Diebstahl wahrscheinlich
macht,
sei eine Meinung und keine Tatsache.
Es ist aber von
allergrösster prinzipieller Wichtigkeit,
dass eine solche
Entscheidung überprüft werde, damit die Hoffnung
noch Aussicht habe, dass die
gefährlichste Form einer Tatsachen
behauptung, die durch die
indirekte Methode nicht das geringste
von ihrer wahren
Beschaffenheit einbüsst, fassbar sei. Es sei hier
auf den Kommentar von Lisst hingewiesen, der
ganz ausdrücklich
eine solche
Art von Tatsachen unter jene einbezieht, die dem Be
richtigungsgesetz erreichbar
sind. Auch mag das Beispiel, das der
Vertreter des Klägers in der Verhandlung beigebracht hat,
die
Anschauung des Wesens
einer unterstellten Tatsache fördern: die
„Reichspost“ hätte gewiss etwa den Umstand, dass der Kläger im
israelitischen Tempel
gesehen worden ist, zur Erhärtung der von
ihr aufgestellten
„Wahrscheinlichkeit“ herangezogen, dass er zur
jüdischen Konfession
zurückkehren werde. Sollte es ihm da verwehrt
sein‚ im Wege eines
Gesetzes, das dem Schutz der Wahrheit dient,
festzustellen, dass er im
Tempel nur erschienen ist, um einer
Trauung beizuwohnen? Es
müsste wohl schlechthin unmöglich sein,
an der Argumentation der
Klage, die dem Gericht erster Instanz
vorgelegen ist,
vorbeizukommen, und da auch das Gericht es
nicht
konnte, so entzog
es sich ihr mit dem Satze: „selbst wenn es rich
tig ist, dass
dieser Meinung Tatsachen zugrundeliegen“. Aber wenn
dies richtig ist, dann ist
auch die Argumentation richtig und das
Urteil unrichtig, und wenn
„dieser Meinung“ eine
falsche
Tatsache zugrundeliegt‚ so
muss es dem Berichtigungswerber erlaubt
sein, die richtige zu
reklamieren. Der Zeitung bleibt es ja dann
noch immer unbenommen, auf
Grund der richtigen Tatsache ihre
Meinung aufzustellen, und
dann könnte diese allerdings nicht
berichtigt werden, aber
zuerst muss sie, ehe sie eine unwiderleg
bare Meinung aufstellen will, die richtige Tatsache setzen.
Dies hat das Urteil erster
Instanz offenbar verwechselt. Nicht die
Meinung soll berichtigt
werden, die die Zeitung auf Grund einer
richtigen Tatsache ausspricht – das wäre natürlich un
statthaft –‚ sondern der
falschen Tatsache, auf Grund deren sie
ihre Meinung produziert, die
richtige entgegengestellt werden. Der
falschen Tatsache, die sie
durch die angebliche „Meinung“ vor
spiegeln will.
Denn man kann eigentlich nicht davon reden, dass
hier etwas „zugrundeliegt“,
sondern nur davon, dass hier etwas
zugrundegelegt, unterschoben
wird. Wie vollkommen diese Methode
in dem Artikel der „Reichspost“ praktiziert wird‚ geht
insbesondere
auch aus
dern Schlussatz hervor: „Ein Kreislauf ist be
endet“. Kann
nach diesem Satze (auf dessen apodiktische Fassung
ein Leser des Artikels den Berichtigungswerber mit Recht aufmerk
sam macht) für einen solchen
Leser noch ein Zweifel bestehen, dass
die „Reichspost“ eine Tatsache setzen
will? Wird hier
nicht die von
ihr eben noch produzierte „Wahrscheinlichkeit“, die
das Gericht unter dem Eindruck des äusseren Wortcharakters
für
eine „Meinung“ hält,
geradezu aufgehoben? von der Zeitung selbst
aufgehoben, die knapp zuvor
noch von „Wahrscheinlichkeit“ gespro
chen hat? Was will die „Reichspost“ anderes, als dem Leser einen
positiven falschen
Sachverhalt suggerieren, wenn sie ihre Betrach
tung mit der Behauptung
schliesst, dass ein Kreislauf, jener, der
in die jüdische Konfession
zurückführt, beendet ist?
Aber es bedarf für die
überprüfende Instanz gewiss nicht
erst all der Hinweise auf
den Zusammenhang von Tatsächlichkeit,
den die einzelnen
Wortelemente jenes Satzes zwingend herstellen.
Diese selbst sind so
gesetzt, dass ihr tatsächlicher Charakter un
möglich bestritten werden
kann. Die an und für sich unanfechtbare
Rechtsanschauung, dass nach
dem § 23 nur eine Tatsache und keine
Meinung berichtigt werden
kann, hat da geradezu ein Schulbeispiel
des verbreiteten Irrtums
gezeitigt, der den Meinung s
stoff mit dem Meinungswesen
verwec h
selt. „Wahrscheinlichkeit“ ist aus dem zufälligen
Meinungsstoff
verfertigt
und das Gericht erster Instanz nimmt
deshalb an, dass
hier eine
„Meinung“ vorliege.
Wenn das Gesetz die Berichtigung von
Meinungen ausschliesst, so
will es die Freiheit des Urteils in
Sphären, die in sich der
tatsächlichen Natur ermangeln, und über
Qualitäten, die die
subjektive Urteilsbildungansprechen, sichern.
Keineswegs aber will es die
freie Urteilsbildung auch gegenüber den
erweislichen Sachverhalten
sichern. Dass etwas gut oder schlecht sei,
ist eine Meinung, die nach
dem Gesetz nicht berichtigungsfähig ist.
Dass etwas vorhanden oder
nicht vorhanden, geschehen oder nicht ge
schehen ist, ist selbst dann
keine Meinung, sondern eine reine Tat
sache, wenn es dem
subjektiven Ermessen anheimgestellt bleibt, das
Vorhandensein, das
Geschehensein wahrzunehmen. Die „Mei
nung“ ist in der Sphäre, die
wesentlich zu ihr spricht, ver
ankert, nicht in der Optik
des Betrachters. Ihr Element beruht im We
sen der Materie, die der
Betrachtung ausgesetzt ist, und kann darum
immer nur auf die dem Urteil
zugängliche Qualität, nie aber
auf die dem Beweis, der
Feststellung unterworfene Quantität
bezogen sein, mag auch deren
Wahrnehmbarkeit noch der
subjektiven Optik einen Spielraum lassen. Der eine wird einen Sach
verhalt mit grösserer
Deutlichkeit wahrnehmen als der andere: ein
Sachverhalt bleibt es darum
doch, und was in dessen Betrachtung noch
Spielraum hat, ist nicht die
„Meinung“, sondern das Bewusstsein, die
Ausbildung
Fähigkeit
der Sinne, die Wahrhaftigkeit.
Die „Meinung“, die das Gesetz meint, ist nicht
die subjektive Einstellung
des Betrachters zu den Objekten der Tat
sachenwelt, sondern
ausschliesslich die subjektive Bemessung jener
W
o
e
rte, die wesentlich der Beweisführung entrückt und
nur
der Beurteilung
ausgesetzt sind. Eine „Meinung“, wie sie das Gesetz
meint, liegt vor, wenn die
Zeitung sagt, ein Schauspieler habe den
Don Carlos schlecht
gespielt. Denn hier ist das Wesen der Be
hauptung die Meinung. Wenn aber die Zeitung sagt, der Schau
spieler habe „wahrscheinlich
den Don Carlos zum erstenmal gespielt“,
so hat die Behauptung zwar
den Meinungsstoff, ist aber die Be
hauptung einer Tatsache,
wenngleich eine eingeschränkte Behauptung.
(Wenn sie „jedenfalls“
sagte, wäre es darum scheinbar nicht weniger
eine „Meinung“ – wiewohl das
Pressgericht hier am Ende wankend würde –
aber wenn sie nur
„wahrscheinlich“ sagt, so ist es darum doch eine
tatsächliche Behauptung.)
Unmöglich kann das Gesetz dem Schauspie
ler die Möglichkeit
verwehren, einer solchen wenngleich einge
schränkten Behauptung die
Wahrheit entgegenzustellen, dass er den
Don Carlos schon ein
Dutzendmal gespielt habe. Umsoweniger, wenn
die Zeitung noch durch
Erdichtung anderer Umstände einen Zusammen
hang herstellt, der dem
Leser jene falsche Tatsache umso sicherer
suggeriert, an deren
Widerlegung der Schauspieler aus irgendeinem
Grunde ein Interesse hat.
Schlösse das Gesetz eine solche Möglich
keit aus, so wäre der Presse
mit Wendungen wie „Aller Wahrschein
lichkeit nach hat …“ oder
„Gerüchtweise verlautet‚ dass …“ „Nach
unserer Meinung wird …“ (in
welchem Fall nach Ansicht des Press
gerichts die „Meinung“ ja
auf der Hand liegt) für jede Lüge ein
Freibrief ausgestellt. Und
hier, an dem Fall einer durch subjek
tive Färbung unberührbaren
Tatsächlichkeit, wird völlig fassbar,
worin der Unterschied
zwischen Meinung und Tatsache und worin die
Verwechslung beruht, welche
die eigentliche Grundlage des Aus
spruchs der ersten Instanz
bildet. Was berichtigt wurde und was
auch in dem Fall des
Schauspielers, der „wahrscheinlich den Don
Carlos zum erstenmal
gespielt hat“, berichtigt wird, ist keines
wegs die Wahrscheinlichkeit
als solche – in dem strittigen Fall
also keineswegs der Umstand
als solcher, dass eifrige Anlehnungen
etwas wahrscheinlich machen.
Gewiss wäre hier, von dem Punkte der
„Wahrscheinlichkeit“
gesehen, bloss eine Folgerung gezogen, die
dem Ermessen anheimgestellt
bleibt, also eine Meinung ausgespro
chen. Gewiss kann der
Schauspieler nicht berichtigen: Es ist unwahr-,scheinlich dass
es wahrscheinlich ist, dass ich zum erstenmal
u.s.w. Und an und für sich
könnte auch nicht berichtigt werden:
Es ist unwahr, dass
Anlehnungen wahrscheinlich
machen; denn sie machen ja
faktisch nur dem etwas wahrscheinlich,
der die Behauptung
ausspricht. Aber wird denn der Nachdruck auf
diese einzuräumende
Möglichkeit gelegt? Was wird in Wahrheit
berichtigt? „Eifrige Anlehnungen in einem
anderen Aufsatz der‚Fackel‘ an Theodor Herzls
Tagebuch machen den Fall 3 zur
Wahr
scheinlichkeit.“ Das bedeutet nun durchaus nicht, dass dem Schrei
ber das Recht
bestritten wird, etwas, was ihm wahrscheinlich ist,
mutmassend vorzubringen.
Vielmehr wird hier der ganz konkreten,
aus dem Zusammenhang
deutlich vertretenden Behauptung widersprochen:
„Die Anlehnungen sind derartige‚ dass der Fall 3 zur
Wahrscheinlichkeit
wird.“ Nicht die Wahrschein
lichkeit, sondern
der durch eben sie be
dingte
Charakter der Anlehnung wird be
stritten. Nicht die
Wahrscheinlichkeit ist die Konklusion aus der
Anlehnung, sondern die Art der Anlehnung ist
die sich
ergebende Konklusion aus
der
gesetzten Wahrscheinlichkeit. Ob
die Anlehnungen, wenn sie
bereits determiniert wären,
etwas wahrscheinlich machen, wäre natürlich reine Ermessenssache.
Wenn – wahrheitswidrig –
bereits ausgesprochen wäre,
dass es Anlehnungen mit
jüdisch-nationaler Tendenz sind, so dürfte
der Schreiber jede ihm
beliebige Wahrscheinlichkeit folgern, ohne
dass man ihm mit dem § 23 widersprechen könnte. Dann hätte er ganz
gewiss das Recht, welche
Vermutung er will, daran zu knüpfen, und
es wäre nur die Berichtigung
ermöglicht, dass es keine Anlehnungen
mit jüdisch-nationaler Tendenz sind. Dies ist jedoch indirekt
gesagt in der
Form: dass es
solche Anlehnungen sind, die den Fall 3 zur
Wahrscheinlichkeit machen.
Da es nun aber in Wahrheit, solche
Anlehnungen sind, die den
Fall 3 unter gar keinen Umständen zur
Wahrscheinlichkeit machen
können, weil es eben nicht Anlehnun
gen mit jüdisch-nationaler
Tendenz sind, sondern Zitate über einen
Fall von Korruption, also
über etwas tatsächlich Verschiedenes,
so muss die Möglichkeit
gegeben sein, diese Tatsache der Behauptung
entgegenzusetzen. Die behaupteten Anlehnungen
sind
solche, die erst durch die Angabe,
dass sie
den Fall 3 zur Wahrscheinlich-
keit
machen, charakterisiert, förmlich
definiert
werden. Ihre Eigenschaft wird
damit
bezeichnet und es ist ganz so, wie wenn die ih
nen angedichtete
Wahrscheinlichkeit in einem Relativsatz
ausgedrückt wäre. Und dass
es „solche, welche“ sind, wird
berichtigt. Die zwingend
herbeigeführte Vorstellung, dass es sol
che
sind, ist die berichtigte Tatsache. Nicht die Vermu
tung, die an sie geknüpft wird: dass sie etwas wahrscheinlich
machen, wird berichtigt.
Sondern ihre Determinierung durch eben
diese Vermutung: die Aussage, dass es derartige Anlehnungen
sind, die den Fall 3 zur
Wahrscheinlichkeit machen. Nicht die
„Wahrscheinlichkeit“, zu der die Anlehnungen et
was machen, sondern die durch sie bezeichneten „Anleh
nungen“. Es kann doch keinem Zweifel unterliegen, dass auch
durch die abstraktesten
Termini, die der Meinungssphäre entnommen
sind, eine ganz konkrete
Tatsache determiniert sein kann. Nicht
auf jene kommt es an – und
nicht sie werden berichtigt –, sondern
auf die Tatsache, zu deren
Bezeichnung sie verwendet sind. Hätte
die ‚Reichspost‘ wahrheitsgernäss geschrieben, es seien in
jenem
Aufsatz Anlehnungen
enthalten, in denen von der Gewinnsucht der
Neuen Freien Presse die Rede ist, und daran die Konklusion
geknüpft, dass der Verfasser wahrscheinlich zum Judentum zurück
kehren werde, so wäre es
eine Mutmassung, eine Meinung, zu der sie,
wie immer sie deren
Absurdität verantworten wolle, vollkommen berech
tigt wäre. Aber gerade das
Verschweigen, welcherlei Anlehnungen es
sind, lässt ihre Vermutung
ganz und gar nicht absurd erscheinen, son
dern stellt zwingend die
Tatsache her und will sie herstellen, dass
es eben solche Anlehnungen
sind, wie sie es tatsächlich nicht sind.
Indem nun der Kläger den
Fall setzt, dass die ‚Reichspost‘ ganz
dieselbe Wahrscheinlichkeit
an die
von ihr
dadurch
definierten und auf die
völlig verschiedene Sphäre
des Inseratenwesens fixierten Anlehnungen
geknüpft hätte‚ und zugibt,
dass hier (und nur hier) das reine
Wesen der Meinung zum
Ausdruck käme, glaubt er hinlänglich klar ge
macht zu haben, dass sich
die Berichtigung nicht gegen das offen
bare Recht, eine
Wahrscheinlichkeit aufzustellen, gegen das Recht
der Meinung richtet, sondern
gegen etwas ganz anderes, nämlich
gegen das Unternehmen, durch eine solche Mei
nung erst
eine Tatsache zu konstruie
ren;
gegen die fälschliche Charakterisierung jener Anlehnungen
durch
die Wahrscheinlichkeit, die sich aus ihnen ergeben soll;
also gegen die tatsächliche
Unwahrheit, dass es ein Artikel mit
jüdisch-nationaler Tendenz
sei und nicht vielmehr einer über die
Gewinnsucht der Neuen Freien Presse. Was die ‚Reichspost‘ zwar nicht
wörtlich, aber tatsächlich
geschrieben hat, ist: In einem anderen
Aufsatz der Fackel sind derartige Anlehnungen enthalten,
die den Fall 3 zur
Wahrscheinlichkeit machen, Anlehnungen an Herzls
Tagebuch – was ohne nähere Angabe
ausschliesslich nur die
Assoziation der zionistischen Ten
denz
ergeben kann. Das ist berichtigungsfähig. Und hier wird
evident, wie dieselben Worte
im Nu die Meinungsfarbe zugunsten
ihres tatsächlichen Wesens
verlieren. Wenngleich jedoch die Wort
fassade den judizierenden
Betrachter vom Wesen der Behauptung abge
lenkt hat, so sollte er doch
nicht übersehen, dass gerade auf den
Leser, der bloss den
Eindruck des Satzes übernimmt, ohne diesen mit
einem Gesetz zu konfrontieren, mit der
vorgespiegelten Tatsache
eingewirkt wird, nicht mit der Meinung,
die im Wort enthalten ist,
und dass der berichtigte Artikel keine
andere Absicht als eben
diese verfolgt hat. Es macht eben den Cha
rakter und die Gefahr einer
solchen Diktion aus, dass mittels des
selben Trugschlusses, den
die Zeitung bezweckt, dem naiven Leser
durch eine Meinung eine
Tatsache und dem judizierenden mit einer
Tatsache eine Meinung
vorgespiegelt wird. Wenn das Gesetz der Presse
nur das Hindernis bereiten
wollte, dass sie die gröbsten und di
rektesten unwahren Tatsachen
vermeiden muss, dann brauchte sie
überhaupt keine § 23-Berichtigung zu fürchten. Da eine solche Unter
stützung unmöglich die
Absicht des Gesetzes sein kann – weil es sonst
ein völlig unzulängliches,
schlechtes, der technischen Entwicklung
der Zeitungslüge kaum je
gewachsenes und fast nie anwendbares Ge
setz wäre –‚ so hofft der
Berichtigungswerber, dass das Berufungs
gericht das Urteil erster
Instanz aufheben und der Klage gegen den
verantwortlichen Redakteur
der ‚Reichspost‘ in ihrem vollen Umfang
stattgeben werde.