ReichspostNeue Freie PresseReichspost, 29.11.1922Ein KreislaufTheodor Herzl’s Tagebücher. 1895–1904Die Fackel


Geschäftszahl Bl XV 121/23


Im Namen der Republik Österreich!


Vor dem Landes-Gericht in Strafsachen I Wien als
Berufungsgericht hat gemäß der die Verhandlung anordnenden Verfügung
vom 1.II.1923 am 13. Feber 1923 unter
dem Vorsitz des Hofrat Dr. Wessely
im Beisein des Hofrat Dr. Heidrich
des Hofrat Dr. Künstler und
des Hofrat Gottfried als Richter
und des Kg. Weber als Schriftführer
in Gegenwart des Staatsanwaltes Dr. Formanek
in Abwesenheit
des Privatanklägers Karl Kraus
in Abwesenheit
dessen Vertreters Dr. Oskar Samek
in Abwesenheit
des Angeklagten Karl Schiffleitner und
in Anwesenheit
des Verteidigers Dr. Voglar-Deinhartstein
die Verhandlung über die Berufung des Privatanklägers Karl Kraus pto. Schuld
und Nichtigkeit
gegen das Urteil des Strafbezirksgerichts I Wien
vom 13. Jänner 1923 Geschäftszahl U I 3/23/4
stattgefunden
mit welchem der Angeklagte Karl Schiffleitner von der gegen ihn erhobenen
Anklage, er habe als verantwortlicher Redakteur der in Wien erscheinenden
Zeitung „Reichspost“ sich grundlos geweigert, die ihm mit Bezug
auf den mit der Ueberschrift „Ein Kreislauf“ in der Nummer 319 der „Reichspost“
vom 29. November 1922 zugekommende Berichtigung zu veröffentlichen und habe
hiedurch die Uebertragung nach § 22 Pr.G. begangen, gemäss § 259 Zl. 3 St.P.O. freigesprochen wurde.


Das Landes- als Berufungsgericht hat über den Antrag des
klägerischen Vertreters auf Stattgebung und des Verteidigers auf Zurück
weisung der Berufung am 13. Feber 1923 zu Recht erkannt:


Die Berufung des Privatanklägers pto. Schuld und Nichtigkeit
gegen das obige Urteil des Strafbezirksgerichtes I in Wien wird als unbegrün
det zurückgewiesen.


Gemäss § 390 St.P.O. haftet der Privatankläger als Berufungs
werber für die Kosten der Berufung.


Gründe:


Das Landes- als Berufungsgericht nahm in Uebereinstimmung mit
dem erstrichterlichen Urteile als erwiesen an, dass der Angeklagte als ver
antwortlicher Schriftleiter der Zeitung „Reichspost“ die ihm von dem Pri
vatankläger Herrn Karl Kraus übersendete Berichtigung eines in der Nummer319 der Reichspost am 29. XI. 1922 abgedruckten, den Privatankläger betreff
enden Artikels zu veröffentlichen, bezw. dass er diese Berichtigung weder
in der ersten noch in der zweiten nach dem Einlangen der Berichtigung er
schienenen Nummer zum Abdrucke brachte. Im Sinne des § 24 des Gesetzes vom7. April 1922, Nr. 218 B.G.Bl. Punkt 4 Abs. 3 erkannte das Strafbezirksgericht auf Veröffentlichung eines Teiles der übersandten Berichtigung
der dann auch vom Angeklagten veröffentlicht wurde und sprach den Angeklagten
im Sinne der zit. Gesetzesstelle von der gegen ihn erhobenen Anklage frei.
Das Erstgericht ging nämlich von der Anschauung aus, dass die übersandte Berichtigung auch Stellen enthalte, die nicht eine Berichtigung mitgeteilter
Tatsachen sind, somit in der verlangten Form abgelehnt werden durfte.
Gegen diesen Freispruch nun richtet sich die Berufung des Privatanklägers,
die zwar nicht ausdrücklich pto. Schuld und Nichtigkeit angemeldet und als
solche bezeichnet, wohl aber in einer Weise ausgeführt ist, dass sie als im
Sinne des § 281/9 a St.P.O. erhoben angesehen werden muss.


Das Landes- als Berfungsgericht erachtete die erhobene
Berufung für unbegründet u.zw. aus nachstehenden Erwägungen:


Nach § 23 des Pr. G. vom 7. April 1922 Nr. 218 B.G.Bl. ist
der verantwortliche Schriftleiter einer Zeitung verpflichtet, eine Berichti
gung darin mitgeteilter Tatsachen auf Verlangen eines Beteiligten (Behörde
oder Privatperson) ohne Entgelt zu veröffentlichen. Unter Tatsachen versteht
man einen sinnlich wahrnehmbaren Zustand oder Vorgang der Aussenwelt. Dieser
Zustand oder Vorgang existiert oder er existiert nicht, er ist aber weder


richtig noch unrichtig und Tatsachen können daher auch nicht berichtigt wer
den. Richtig oder unrichtig kann nur die Mitteilung ihrer Existenz oder Nicht
existenz sein, so dass man mit Grund sagen darf, der Gesetzestext des
§ 23 Pr. G. bediene sich eines schiefen Ausdruckes: das Objekt der Berichti
gung bilde nicht die mitgeteilten Tatsachen, sondern die Mitteilung der Tat
sachen.


Die Mitteilung der Tatsachen entspringt einer Vorstellung des
jenigen, der die Mitteilung macht und erweckt Vorstellungen bei dem Kennt
nisnehmer, an den die Mitteilung erfolgt. Die Vorstellung des Mitteilenden
ist das Ergebnis seiner Wahrnehmung und der Gegenstand seiner Wahrnehmung
ist der Zustand oder Vorgang der Aussenwelt, den man als Tatsache bezeich
net. Die Mitteilung als solche ist selbst auch eine Tatsache: sie wird von
dem Kenntnisnehmer wahrgenommen, bildet bei diesem wieder eine Vorstellung
u.zw. normalerweise eine der Vorstellung des Mitteilenden entsprechende Vor
stellung.


Der Berichtiger findet nun, dass die bei dem Kenntnisnehmer auf
Grund der Mitteilung erweckte Vorstellung unrichtig sei, d.h. dass sie von
jener Vorstellung abweiche, die sich bei ihm selbst in derselben Sache ge
bildet hat. Wenn er nun „berichtigt“, so verfolgt er den Zweck, bei dem
Kenntnisnehmer des berichtigten Artikels die „richtige Vorstellung“, d.i.
jene Vorstellung hervorzurufen, die seiner, des Berichtigers, Vorstellung
entspricht.


Nach der Bestimmung des Gesetzes darf der Berichtiger diesen Effekt
aber nur durch Berichtigung der mitgeteilten Tatsachen: recte durch Berich
tigung der Mitteilung von Tatsachen herbeiführen.


Die Mitteilung der Tatsache stellt sich dar als die Behauptung
der Existenz oder als die Behauptung der Nichtexistenz der Tatsache.
Die Berichtigung muss daher die Mitteilung berichtigen, indem
sie im ersten Falle die Nichtexistenz, im zweiten Falle die Existenz dieser
Tatsache behauptet.


Die Mitteilung der Tatsachen beschränkt sich aber möglicherweise
auf gewisse Tatsachen und führt andere mit diesen in engstem sachlichen
Zusammenhange existierenden Tatsachen nicht an. Wenn nun nach Anschauung
des „Beteiligten“ die Kenntnis dieser letzteren, nicht angeführten Tat
sachen geeignet ist, im Zusammenhange mit den mitgeteilten Tatsachen die
richtige, d.i. die dem beteiligten Berichtiger entsprechende Vorstellung dem
Kenntnisnehmer zu verschaffen, dann ist die Mitteilung nicht unrichtig
(im engeren Sinne) sondern entstellt. Die Berichtigung muss dann
die Richtigkeit der Mitteilung zugeben, dieselbe aber als entstellt bezeich
nen und durch Mitteilung der connexen, nicht mitgeteilten Tatsachen ergänzen,
denn nur auf diese Weise lässt sich dann (unter Zugrundelegung der Anschau
ung des Berichtigers) die Vorstellung, die die Mitteilung im berichtigten Ar
tikel bei dem Kenntnisnehmer desselben hervorgerufen hat, anders gestalten
d.i. im Sinne des Berichtigers: „berichtigen“.


In beiden Fällen, gleichviel, ob es sich handelt um die Berich
tigung einer im engeren Sinne unrichtigen Mitteilung oder einer entstellten
Mitteilung kann nach dem Wortlaut des § 23 Pr. G. die Berichtigung sich nur
auf die Mitteilung von Tatsachen beziehen. Es ist die Berich
tigung von Ansichten, Anschauungen, Urteilen etc. ausgeschlossen (Entschei
dung des Obersten Gerichts- und Kassationshofes vom 16. Juli 1908 Kr IV 83/8).
Dieser Grundsatz darf allerdings nicht missverstanden und generalisiert
werden.


Der „Zweck“ der Berichtigung ist jedenfalls der, „Anschauungen“
„Ansichten“ und „Urteile“ richtig zu stellen, denn dem Berichtiger kommt
es ja doch nur darauf an, dass der Kenntnisnehmer des berichtigten Artikels
die richtige Anschauung oder vom Berichtiger gewünschte An
sicht sich bilde. Die Einschränkung der Berichtigung auf „die mitge
teilten Tatsachen“ hat die Bedeutung, dass der Berichtiger sein Berichtigungs
recht nur in der Weise betätigen darf, dass er bei (im engeren Sinne) un
richtigen Mitteilungen als existent behauptete Tatsachen negiert und als
nicht existent behauptete Tatsachen als existent bezeichnet, oder dass er
bei entstellten Mitteilungen nicht mitgeteilte connexe Tatsachen selbst in
der Berichtigung mitteilt; es ist ihm aber verwehrt, Ansichten, Anschauungen
oder Urteile, die im berichtigten Artikel enthalten sind, als solche rück
sichtlich ihrer Richtigkeit zu kritisieren: er muss diese Anschauungen, An
sichten und Urteile vielmehr der Kritik des Lesers seiner „Berichtigung“
überlassen, dem er in der Berichtigung nur die Tatsachen-Elemente als Grund
lage der von ihm angestrebten Schlussfolgerungen, Anschauungen, Ansichten
und Urteile darbietet.


Von diesem Gesichtspunkte aus ist es nun notwendig, in jedem
einzelnen Falle der Berichtigung festzustellen, welche Tatsachen in dem
berichtigten Artikel mitgeteilt wurden, denn es ist nicht möglich, die
Nichtexistenz oder Existenz der behaupteten oder negierten Tatsachen
in der Berichtigung zu behaupten, wenn nicht feststeht, welche Tatsachen
als existent oder nicht existent mitgeteilt wurden. Wo sinnlich wahrnehmbare
Zustände oder Vorgänge der Aussenwelt „expressis verbis“ mitgeteilt
werden, hat diese Feststellung keine besondere Schwierigkeit. Der Fall kann
aber auch so liegen, dass in dem zu berichtigenden Aufsatze zwar nicht
expressis verbis eine bestimmte Tatsache mitgeteilt, dass aber durch die
Mitteilung einer Ansicht, Anschauung oder eines Urteiles die Vorstellung
von der Existenz oder Nichtexistenz eines bestimmten, sinnlich wahrnehmbaren
Zustandes oder Vorganges, d.i. einer Tatsache beim Leser des zu berich
tigenden Artikels hervorgerufen wird.


Es ist nämlich nicht möglich, beim gegenseitigen Gedanken
austausche die ganze Reihe logischer Gedankenoperationen in Worte zu fassen
und sämtliche logischen Schlussfolgerungen zum Ausdrucke zu bringen, die
notwendig vollzogen werden müssen, um eine Mitteilung bestimmten Inhaltes
zu machen. Bei Mitteilungen geht der Mitteilende und der Kenntnisnehmer
der Mitteilung von der Annahme normaler Verhältnisse aus und eine ganze
Reihe von Tatsachen werden als selbstverständlich vorhanden oder nicht vor
handen von beiden Seiten vorausgesetzt. Eine Schlussfolgerung, die unter
normalen Verhältnissen als selbstverständlich richtig allgemein anerkannt
wird, stellt sich als unrichtig dar, wenn bestimmte, abnormale Verhältnisse
vorliegen.


Es kann daher auch in der Mitteilung einer Schlussfolgerung
die Behauptung der Existenz normaler tatsächlicher Verhältnisse oder die
Behauptung der Nichtexistenz bestimmter, abnormaler tatsächlicher Verhält
nisse gelegen sein, und insbesondere wird bei Bezeichnung nur einer
Prämisse und der hieran geknüpften Schlussfolgerung angenommen werden
müssen, dass durch diese Art der Mitteilung, also durch eine Schlussfol
gerung auch die Existenz der anderen Tatsachen-Prämisse behauptet und
mitgeteilt wird. In einem solchen Falle wird demnach die Existenz von


Tatsachen oder die Nichtexistenz von Tatsachen durch die Mitteilung einer
Ansicht, einer Anschauung oder eines Urteiles implicite mitgeteilt. In glei
cher Weise aber auch ist es möglich, dass im Falle der „entstellten“ Mit
teilung der Berichtiger nur durch Mitteilung einer Ansicht, einer Anschauung
oder eines Urteiles erkennt, dass die ihm unrichtig erscheinende Vorstellung
des Kenntnisnehmers auf die Nichtanführung von (mit den mitgeteilten)
connexen Tatsachen sich stützt. Auch in diesem Falle entnimmt er aus der
Mitteilung der Ansicht, der Anschauung oder des Urteiles die Behauptung
der Existenz oder Nichtexistenz welcher nicht mitgeteilten Tatsachen
relevant d.i. geeignet ist, als Ergänzung zu den mitgeteilten Tatsachen
die Vorstellung des Kenntnisnehmers in dem von ihm (dem Berichtiger) ange
strebten Sinne zu bilden, resp. die bereits auf Grund der mitgeteilten Tat
sachen vom Kenntnisnehmer gewonnene Vorstellung zu zerstören oder zu modifi
zieren.


Erfolgt nun in dem zu berichtigenden Artikel die Mitteilung der
Tatsache nicht direkt, expressis verbis‚ sondern indirekt durch Mitteilung
von Ansichten, Meinungen, Urteilen etc., so kann die Bestimmung des § 23Pr. G. kein Hindernis bilden, diese indirekte Mitteilung von Tatsachen in
der gleichen Weise zu berichtigen, als wenn die Mitteilung dieser Tatsachen
expressis verbis erfolgt wäre, es kann also die im zu berichtigenden Artikel
erfolgte Mitteilung von Ansichten, Meinungen, Urteilen etc., welche impli
cite die Behauptung der Existenz oder Nichtexistenz von Tatsachen enthält,
berichtigt werden durch die Behauptung der Nichtexistenz resp. Existenz
dieser Tatsachen.


Ebenso aber kann umgekehrt in dem zu berichtigenden
Artikel die Mitteilung der Existenz oder Nichtexistenz bestimmter
Tatsachen expressis verbis erfolgt sein und die „Berichtigung“ dieser
Mitteilung formell als ein Vorbringen von Ansichten, Meinungen, oder Urtei
len etc. sich darstellen, inhaltlich aber die Behauptung der Nichtexistenz
resp. Existenz der im zu berichtigenden Artikel behaupteten oder negierten
Tatsachen implicite enthalten.


Man kommt demnach zu dem Ergebnisse, dass die Mitteilung von Tat
sachen, sei es in dem zu berichtigenden Artikel oder in der Berichtigung


nicht nur dann als vorliegend anzunehmen ist, wenn die Existenz oder Nicht
existenz von Tatsachen expressis verbis behauptet wird,
sondern auch dann, wenn Ansichten, Meinungen, Urteile, etc. in dem zu be
richtigenden Artikel oder in der Berichtigung in einer solchen Weise ge
äussert werden, die die Vorstellung der Existenz oder Nichtexistenz von Tat
sachen mit der erforderlichen Bestimmtheit
erwecken und dass unter dieser Voraussetzung die Mitteilung von Ansichten,
Meinungen, Urteilen etc. in dem zu berichtigenden Artikel nicht nur
„berichtigt werden“ können, sondern auch, dass mit solchen Mitteilun
gen in der „Berichtigung“ berichtigt werden kann.


Allerdings müssen, wie schon oben bemerkt, solche Mitteilungen
erkennen lassen, die Existenz oder Nichtexistenz welcher Tatsachen
behauptet oder negiert wird; es dürfen die durch Mitteilung dieser
Ansichten Meinungen oder Urteile sich bildenden Vorstellungen der Existenz oder Nicht
existenz von Tatsachen einer gewissen Bestimmtheit nicht entbehren. Die Be
stimmtheit dieser Vorstellungen wird in solchen Fällen wesentlich durch
den Gesamtinhalt des berichtigten Artikels bezw. der Berichtigung beeinflusst.
Der Leser der Berichtigung weiss ja, dass es sich in der Berichtigung darum
handelt, die durch den zu berichtigenden Artikel hervorgerufenen Vorstellun
gen durch gegenteilige Vorstellungen zu ersetzen oder zu modifizieren und
dieser wesentliche Zweck der Berichtigung: die Zerstörung oder Modifizierung
der auf Grund der Kenntnisnahme des zu berichtigenden Artikels entstandenen
Vorstellungen veranlasst ihn naturgemäss, die in der Berichtigung erfolgte
Mitteilung von Ansichten, Meinungen, Urteilen etc. in einer bestimmten Rich
tung zu prüfen; nämlich zum Zwecke der Beurteilung, ob in ihnen nicht eben
die Behauptung der Existenz oder Nichtexistenz von Tatsachen gelegen sei,
die in entsprechendem Gegensatze zu jenen Tatsachen stehen oder die
eine entsprechende Ergänzung jener Tatsachen bilden, die in dem zu berichtigenden
Artikel mitgeteilt waren und bei ihm bestimmte Vorstellungen hervorgerufen
haben.


In der in Frage stehenden Nummer der Reichspost befindet sich
unter der Ueberschrift „Kreislauf“ eine Notiz, die sich mit einem Artikelin der „Fackel“ befasst, diesen Artikel teilweise zitiert und den Konfessions
wechsel des Privatanklägers, des Herausgebers der „Fackel“ bespricht. Zum
Schluss findet sich nachstehender Passus: „ob der ausgetretene wieder irgend
wo ein – oder in den Zustand der Konfessionslosigkeit oder einfach wieder
zum alten Testament seiner Jugend und seiner Väter zurückgetreten ist‚
wird nicht gesagt, eifrige Anlehnungen in einem anderen Aufsatze der‚Fackel‘ an Theodor Herzl’s Tagebuch machen den Fall 3 zur Wahrscheinlich
keit. Ein Kreislauf ist beendet.“


Für die Frage der Zulässigkeit der Berichtigung kommt nur
der Schluss des obigen Passus in Frage, denn die Berichtigung lautet: „Es
ist unwahr, dass ‚eifrige Anlehnungen in einem anderen Aufsatze der
Fackel‘ an Theodor Herzl’s Tagebuch den Fall 3 zur Wahrscheinlichkeit ma
chen‘, nämlich, dass Karl Kraus ‚wieder zum alten Testament seiner Jugend
und seiner Väter zurückgetreten ist‘. Wahr ist, dass in diesem Aufsatze
blos Stellen aus Herzl’s Tagebüchern zitiert sind, in denen von seiner Beziehung
zur Neuen Freien Presse und deren Inseratenteil die Rede ist.[“]


In seiner Form stellt sich der zu berichtigende Artikel so
weit er hier in Frage kommt, als eine Schlussfolgerung dar: eifrige Anlehnung
en in einem anderen Aufsatz der Fackel an Theodor Herzl’s Tagebuch machen
den Fall 3 zur Wahrscheinlichkeit. Inhaltlich werden durch diese Mitteilung
einer Absicht bei dem Leser aber auch Vorstellungen von sinnlich wahrnehm
baren Vorgängen und Zuständen hervorgerufen u.zw.


1.) dass in derselben Nummer der Fackel ein Aufsatz des Privatanklägers ent
halten ist,


2.) dass ein Tagebuch Theodor Herzl’s existiert,


3.) dass dieser Aufsatz des Privatanklägers in der Fackel in irgendeiner Wei
se mit dem Tagebuch Theodor Herzl’s sich befasst. Weiters wird in dem erwähnten
Schlusspassus der Ansicht Ausdruck gegeben, dass der Artikel des Privatanklägers in der Fackel als eine eifrige Anlehnung an Theodor Herzl’s Tagebuch
sich darstelle und der weiteren Ansicht, dass diese Tatsachen- und Ansichts
momente eine ausreichende Grundlage für die Schlussfolgerung bilden, der


Privatankläger Karl Kraus sei zum Judentum zurückgetreten. Die Berichtigung
des Privatanklägers kann nur in der Weise erfolgen, dass sie die in dem zu
berichtigenden Aufsatze implicite enthaltenen Tatsachenbehauptungen berich
tigt. Eine Berichtigung der nur als Ansichts- oder Anschauungs-Behauptung
in Betracht kommenden Mitteilung ist nach dem Gesetze unzulässig. Der Privatankläger könnte also berichtigen, dass in der Fackel ein anderer Aufsatz
von ihm nicht erschien, dass ein Tagebuch von Theodor Herzl nicht existiert
oder dass der erschienene Aufsatz in der Fackel mit dem Tagebuch Herzl’s
sich nicht befasst. Eine Berichtigung, dass diese literarische Behandlung
des Tagebuches Theodor Herzl’s nicht als eifrige Anlehnung sich darstelle oder
dass die mitgeteilten Tatsachen- und Ansichtsmomente den Schluss: der
Privatankläger Karl Kraus sei nunmehr wahrscheinlich wieder zum Judentum
zurückgekehrt, gerechtfertigt erscheinen lassen, ist gesetzlich unzulässig.
Die Berichtigung des Privatanklägers stellt sich in ihrem ersten
Teile als Behauptung der Unrichtigkeit des zu berichtigenden Artikels dar,
ohne dass bei dieser Behauptung zum Ausdrucke gelangt, ob und welche Tat
sachen als unwahr erklärt werden. In ihrem zweiten Teile wird implicite zu
gegeben, dass dieser Aufsatz in der Fackel existiert, dass er sich mit Herzl’s
Tagebüchern befasst und aus dem Zusammenhange ergibt sich, dass auch die
aus dem Artikel ersichtliche Autorschaft des Privatanklägers nicht negiert
wird. Als neue Tatsachenbehauptung wird aufgestellt, dass in dem zu berich
tigenden Aufsatze blos Stellen aus Herzl’s Tagebüchern zitiert sind, in denen
von seiner Beziehung zur „Neuen Freien Presse“ und deren Inseratenteil die
Rede ist. Wenn nun der Leser des zu berichtigenden Artikels die Anschauung
gewinnt, dass der Privatankläger sich mit dem Tagebuche Theodor Herzl’s be
fasst hat, so wird diese Vorstellung in keiner Weise durch die Behauptung
alteriert, dass dieses Befassen mit dem Tagebuche Herzl’s in dem Zitieren
solcher Stellen bestehe, in denen von den Beziehungen Herzl’s zur „NeuenFreien Presse“ und dem Inseratenteile die Rede ist. Es wird im Gegenteil
die Vorstellung des Lesers dadurch nur spezialisiert, sie gewinnt eine be
stimmtere Form, wird aber nicht zerstört oder alteriert.


Dieser positive Teil der Berichtigung des Privatanklägers könnte
als Inhalt einer Berichtigung in gesetzlichem Sinne nur dann dienen, wenn
der zu berichtigende Artikel als eine nicht im engeren Sinne unrichtige
Behauptung, sondern als eine entstellte Behauptung in Betrachtung gezogen werden
könnte. Man müsste dann argumentieren: der Leser des zu berichtigenden Art
ikels gewinnt aus der in Form einer Ansicht erfolgten Mitteilung von Tat
sache und Anschauungen
der Mitteilung von Tatsachen und Anschauungen die
Vorstellung, dass der Inhalt des in der Fackel erschienenen Artikels oder die
Form, in welcher sich der Privatankläger dort mit dem Tagebuche Theodor Herzls
befasst, die Schlussfolgerung auf den Uebertritt des Privatanklägers zum
Judentum gerechtfertigt erscheinen lassen; diese Vorstellung des Lesers
gründet sich auf die Verschweigung bestimmter Tatsachen; durch Behauptung
dieser Tatsachen kann diese Vorstellung des Lesers zerstört werden und die
Behauptung, dass der Privatankläger blos Stellen aus Herzl’s Tagebüchern zi
tierte, in denen von seiner Beziehung zur „Neuen Freien Presse“ und deren
Inseratenteil die Rede ist, ist die Behauptung einer solchen ergänzenden
Tatsache.


Eine solche Argumentation ist aber unzutreffend, denn die Behaupt
ung, dass der Privatankläger in dem Aufsatze Stellen aus Herzl’s Tagebüchern
zitierte, dass in diesen Stellen von den Beziehungen Herzl’s zur Neuen FreienPresse und dem Inseratenteile der Neuen Freien Presse die Rede ist, sind
Behauptungen von Tatsachen, die weder die Existenz der im zu berichtigenden
Artikel behaupteten Tatsachen negieren, noch auch durch ihre Existenz geeig
net erscheinen, jene Vorstellungen zu modifizieren, die der Leser aus der
Mitteilung der im zu berichtigenden Artikel implicite enthaltenen Tatsachen
behauptungen gewinnt, denn jeder Leser muss sich sagen, dass, auch wenn der
Privatankläger in seinem Artikel sich auf das Zitieren von jenen Stellen des
Tagebuches beschränkte, in denen von den Beziehungen Theodor Herzl’s zur
Neuen Freien Presse und dem Inseratenteile der Neuen Freien Presse die Rede
ist, dies ja doch nicht ausschliesst, dass der Privatankläger durch den
sonstigen Inhalt seines Artikels oder durch die Form der literarischen
Behandlung dieser Zitate eine starke Sympathie für das Judentum zum Ausdrucke
bringt, die dann die Schlussfolgerung auf den Uebertritt des Privatanklägers
zum Judentum wahrscheinlich machen.


Mit Rücksicht auf diese Erwägungen wurde die Berufung des Privatanklägers als unbegründet zurückgewiesen.


Wien, am 13. Feber 1923.


Der Vorsitzende: Der Schriftführer: