Ein Zensurverbot?Neues 8 Uhr Blatt (8 Uhr Abendblatt)Zwei geschlossene Vorstellungen an der Neuen Wiener BühneNeues 8 Uhr-Blatt, 9.1.1923


Vor Eingehen in die heutige Hauptverhandlung regte
der Richter den Abschluss eines Vergleiches an, zu dem es auch
nach der mir telefonisch erteilten Ermächtigung gekommen ist. Der
Gegner verpflichtete sich, die Berichtigung im Wortlaute längstens
bis 11.ds. in der Rubrik „Theater“ zu veröffentlichen, einen Sühne
betrag zu Gunsten der Wiener freiwilligen Rettungsgesellschaft
und die Gerichtskosten zu bezahlen. Die Zahlung des Sühnebetrages
und der Kosten wurde sofort geleistet; den Sühnebetrag habe ich
bereits an die Wiener freiwillige Rettungsgesellschaft weiterge
leitet. Auch die Veröffentlichung der Berichtigung ist in der
Nr. 2470 auf Seite 5 erfolgt.


Nach der Verhandlung blieb ich noch einen Augen
blick im Verhandlungssaale zurück, um die Stempelung des Aktes
vorzunehmen. Hiebei teilte mir der Verhandlungsrichter mit, dass
nach seiner Ansicht die verlangte Berichtigung nicht ganz dem
Gesetze entsprochen habe und er daher wahrscheinlich bei Durch
führung der Rechtssache, gemäss § 24, Absatz 3 des Pressgesetzes
festzustellen gehabt hätte, was von dieser Berichtigung zu ver
öffentlichen sei, im Uebrigen er aber den Beschuldigten freige
sprochen hätte, da nach seiner Ansicht die Worte der Berichtigung,
dass dem Verfasser von einem Zensurverbote nichts bekannt sei,
nicht als Berichtigung einer Tatsache aufzufassen sei, da der
zu berichtigende Artikel selbst keine Stelle enthält an der
behauptet werde, dass dem Verfasser ein Zensurverbot bekannt
sei. Durch das Wort „bekanntlich“ bringe die Zeitung eine all
gemeine Ansicht zur Kenntnis des Publikums, es sei daher mög
lich diese Ansicht des Publikums, soweit sie eine Tatsache ent
hält, zu berichtigen, nicht aber sei es möglich darauf hinzu
weisen, dass ein Einzelner diese Ansicht nicht gehabt habe und
die Berichtigung hätte daher nur feststellen können, dass das
Zensurverbot nicht erfolgt ist, nicht aber, dass es dem Verfasser nicht bekannt sei. Schliesslich könnte sonst jeder berichtigen,
dass ihm von einem Zensurverbote nichts bekannt sei.


Ich halte diese Meinung für nicht zutreffendend, da
wenn ein Zensurverbot „bekanntlich“ erfolgt ist, dies doch in
erster Linie dem Verfasser bekannt sein müsste und er daher ge
wiss berechtigt sein muss dem Publikum mitzuteilen, dass sogar
ihm nichts bekannt sei. Im vorliegenden Falle liegt überdies die
Voraussetzung zur Anwendung des Absatzes 3 des § 24 auch des
halb nicht vor, weil die Berichtigung in der verlangten Form gar
nicht abgelehnt wurde, sondern eigenmächtig von Seite der Zeitung ein Satz weggelassen wurde. Die Zeitung durfte aber nach
meiner Meinung die Berichtigung entweder ablehnen oder sie muss
te sie im Wortlaute bringen. Nur im Falle der Ablehnung hat der
Richter die Möglichkeit den Abs. 3 des § 24 anzuwenden.


Ich bringe Ihnen dieses Gespräch mit dem Richter
deshalb so ausführlich zur Kenntnis, weil in dem Prozesse ge
gen die „Reichspost“ derselbe Verhandlungsrichter fungieren
wird, und daher seine Stellungnahme zu dieser Rechtsfrage für
Herrn Kraus von einigem Interesse sein könnte.


Ich zeichne
hochachtungsvoll


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