U I 122/23
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Im Namen der Republik!
Das Strafbezirksgericht I in Wien als Pressegericht hat heute in Ab
wesenheit des
Privatanklägers Karl Kraus
und
des Angeklagten Karl Schiffleitner,
in Gegenwart des
Pr.Ankl.Vertreters Dr. Oskar Samek
und des Verteidigers Dr. Heinrich Foglar-Deinhardstein
über die Anklage verhandelt, die
der Privatankläger gegen
Karl Schiffleitner
26 J., verh. verantwortlicher
Redakteur
der „Reichspost“
wegen der Uebertretung des § 23 Preßgesetz erhoben hatte, und über
den vom Ankläger gestellten Antrag auf Bestrafung und Veröffentli
chung der Berichtigung zu Recht erkannt:
Karl Schiffleitner wird von der Anklage wegen der Uebertretung
nach § 23 Pr.G., angeblich begangen dadurch, daß er als verantwortli
cher Redakteur der
„Reichspost“ sich grundlos weigerte,
die ihm mit
Bezug auf den mit der
Ueberschrift „‚Nachruf‘ nicht von, sondern
aufKarl Kraus“ in der Nr. 38 der „Reichspost“ vom 9./II. 1923 abgedruck
ten Artikel
zugekommene Berichtigung zu veröffentlichen,
gem. § 259/3 St.P.O. freigesprochen.
Gründe:
Das Gericht ließ sich bei der Entscheidung von folgenden Erwä
gungen leiten:
Der strafbare Tatbestand des
§ 23 Pr.G. wäre vorliegendenfalls
nur dann gegeben, wenn sich
der Beschuldigte
grundlos geweigert
hätte, die Berichtigung zu bringen.
Der Beschuldigte gibt zu, daß er das Berichtigungsschreiben erhalten
hat und daß seither mehr als
2 Nummern der „Reichspost“ erschienen
sind,
ohne daß die Berichtigung gebracht wurde, er verantwortet sich
aber
dahin, daß die Berichtigung, da sie keine Berichtigung mitgeteilter
Tatsachen ist, dem Gesetze
nicht entspricht.
Das Gericht war aus nachstehenden Gründen derselben Ansicht:
Die zu berichtigende Stelle
„Obendrein
ein Mensch, der sich mit
Begeisterung in den Umsturz gestürzt hat, aber sofort wieder aus allen
Himmeln der Republik stürzte,
als ihm Genosse Breitner die neu er
fundenen Steuern
abzwackte; der die Republik über den grünen Klee und
über alle monarchische
Vergangenheit pries, bis er wegen magistrali
cher Belästigung
mit Zahlungsaufträgen mit dem Auswandern drohte ……“
kann überhaupt nicht berichtigt
werden; denn diese Stelle enthält kei
ne Tatsachen,
sondern Meinungen u. zw. die Meinung, daß Pr.Ankl. sich
mit
Beisterung in den Umsturz gestürzt hat, die Mei
nung, daß Privatankläger später seine
Stellungnahme zur Republik änderte und die Mei
nung, daß das
Motiv dieser Aenderung und seiner Androhung der Auswan
derung die Lustbarkeitssteuer war. Da
gem. § 23 Pr.G. nur Tatsachen
berichtigt werden können, die obengenannte Stelle aber, da sie keine Tat
sachen enthält,
überhaupt nicht berichtigungsfähig ist, so erübrigt es,
auf die Frage, ob die Berichtigung selbst
dem Gesetze entspricht, ein
zugehen.
Da aus den angeführten
Gründen der Beschuldigte zur Veröffentlichung
nicht verpflichtet war, so
war seine Weigerung der Veröffentlichung kei
ne grundlose und
der Beschuldigte einen strafbaren Tatbe
standes nach § 23 Pr.G. freizusprechen.
Wien, am 10. April 1923
[Unterschrift]
Beschluß.
Die Kosten des Verfahrens
hat gem. § 390 StPO. der Privatankläger zu
tragen; dieselben sind einbringlich.
Wien, am 10. April 1923
[Unterschrift]