G.Z. U XII 71/26
An das
Strafbezirksgericht IWIEN.
Privatankläger: Karl Kraus, Schriftsteller
in Wien III. Hintere Zollamtsstrasse 3
durch:
Vollmacht ausgewiesen zu U I
109/25
Beschuldigter: Dr. Marc Siegelberg,
stellvertretender
verantwortlicher
Schriftleiter der „Stunde“ Wien VII.Neustiftgasse No.
47
wegen § 45 Abs. 4 Urh.Ges. 1 fach
Privatanklage.
In der Nummer 827 des drittenJahrganges der „Stunde“
vom 10. Dezember 1925,
Seite 5
und 6 erschien ein Artikel unter dem Titel
„Dem Kiebitz ist nichts zu teuer oder Karl Kraus
denunziert schon wieder die
Sozialdemokraten“.
In
diesem Artikel ist ein Brief vom 10. Juni 1900,
den ich Herr Wilhelm Liebknecht schrieb, vollinhaltlich
abgedruckt. Wegen der durch
diesen Abdruck begangenen
Übertretung des § 45 Abs. 4 des Urh.Ges. habe ich
am 19. Januar 1926 um Einleitung
von Vorerhebungen
gegen den Beschuldigten und weitere unbekannte Täter
gebeten. Die Durchführung der
Vorerhebungen haben
jedoch keinen
Mitschuldigen feststellen können und
auch der eigentliche Veröffentlicher des Artikels
und des in demselben enthaltenen
Briefes blieb un
eruierbar, obwohl es
selbstverständlich ist, dass
irgend jemand in der „Stunde“ – und es wurde
ja
fast die ganze Redaktion einvernommen – wissen muss,
wer den Artikel veröffentlicht hat. Es bleibt daher
nichts anderes übrig, als sich an
den damaligen ver
antwortlichen Schriftleiter der „Stunde“, den
Be
schuldigten Dr.
Marc Siegelberg zu halten, der fahr
lässigerweise, obwohl
er als verantwortlicher Schrift
leiter verpflichtet gewesen wäre, sich über die Be
rechtigung zum Abdruck dieses
Briefes zu informieren,
diesen
Abdruck nicht gehindert hat, weil er angeblich
den fraglichen Artikel überhaupt nicht gelesen hat.
Der Beschuldigte hat hiedurch die Übertretung des
§ 45 Abs. 4 des Urheberrechtsgesetzes begangen.
Ich beantrage daher:
1.) gegen den Beschuldigten eine
Hauptverhandlung anberaumen und
ihn zu derselben
zu laden,
2.) Verlesen des
inkriminierten
Briefes,
3.) Verurteilung des Beschuldigten.