Geschäftszahl U XII. 71/26
Im Namen der Republik
Das Strafbezirksgericht I Wien
hat heute in Gegenwart
Dr.
Oskar
Samek als Vertreter des P.A. Karl Kraus
in Abwesenheit
des Angeklagten Dr. Marc Siegelberg
und in Anwesenheit Dr. Walter Guttmann
über die Anklage verhandelt, die der Privatankläger
gegen
Dr. Marc Siegelberg 24.VI.1895 geb. verh.
Redakteur
wegen der
Übertretung
nach § 45 Ziffer 4 Urh.Gesetz erhoben hatte,
und über den vom Ankläger
gestellten Antrag auf Bestrafung und Zuspruch
der Befugnis zur
Urteilsveröffenltlichung
zu Recht erkannt:
Dr. Marc Siegelberg ist schuldig, als verantwortlicher
Redakteur
der „Stunde“ den Brief des P.A. vom 10.VI.1900 gerichtet an WilhelmLiebknecht, ohne
Zustimmung des Verfassers in der Nummer 827 desdritten Jahrganges der
„Stunde“ vom 10.
Dezember 1925,
veröffentlicht, sohin entgegen der Vorschrift des § 24, Abs. 2 Urh.Ges.
herausgegeben zu haben.
Er hat hiedurch die
Uebertretung nach § 45 Ziff. 4 Urh.Ges.
begangen und wird gemäss § 45 Urh.Gesetz zu
40 (vierzig) Schilling Geldstrafe
im N.E.F. zu 24 Stunden
Arrest und gemäss § 389 StPO. zum Ersatze der
Kosten des Strafverfahrens
verurteilt.
Gemäss § 51 Urh.Gesetz wird dem Verletzten Karl Kraus die Be
fugnis
zugesprochen, die Verurteilung innerhalb 14 Tagen nach Rechts
kraft des
Urteiles durch Veröffentlichung des Urteils (ohne Gründe)
in den Zeitungen „Die Stunde“ und „Arbeiter-Zeitung“ auf Kosten des
Schuldigen öffentlich bekannt zu machen.
Gründe
Der P.A. erachtet sich dadurch
beschwert, dass in der im Ur
teilsspruche angeführten No. der „Stunde“ ein von ihm am 10.VI.1900
an Wilhelm Liebknecht gerichteter Brief abgedruckt
wurde, ohne dass
die
Zustimmung des Verfassers zur Veröffentlichung
eingeholt wor
den
war. Der Besch. ist wie auf Grund seines
Geständnisses und
des
Zeitungsimpressums feststeht, zur Zeit der Publikation verant
wörtlicher
Schriftleiter der „Stunde“ gewesen. Er
behauptete dass
der Artikel, in dessen Kontext der
fragliche Brief veröffentlicht
wurde, ihm nicht zur
Kenntnis gekommen sei und es konnte in der Tat
diese Verantwortung im Zuge
der durchgeführten Vorerhebungen nicht
widerlegt werden.
Dessenungeachtet erscheint er als verantwortli
cher
Schriftleiter nach seinem eigenen Geständnis für die inkri
minierte
Veröffentlichung, wie die Anklage mit Recht
ausführt, ver
antwortlich und zwar als fahrlässiger Täter (da es in seinen Pflicht
kreis gehört
hätte, von dem gegenständlichen Brief
Kenntnis zu
nehmen und sich
zu gewissern ob nicht durch die Veröffentlichung
eine strafgesetzwidrige
Handlung begangen werde), natürlich unter
der Voraussetzung, dass
objektiv ein gegen das Strafgesetz hier
Urhebergesetz, verstossender
Tatbestand gegeben ist.
Das Gericht hat vorliegendenfalls diese Frage allerdings
bejahen zu müssen erachtet.
Dass die Zustimmung des P.A. zur Veröf
fentlichung des
Briefes nicht vorlag, hat der Besch. gar nicht in
Abrede gestellt und auch
nicht einen bei ihm, Besch., etwa bestandenen
Irrtum über die Autorisation
zur Publizierung behauptet. Ebensowenig
hat der Besch. geltend gemacht, dass die Veröffentlichung „einem
rücksichtswürdigen
Interesse entsprach“. (§ 24 letzter Satz Urh.Ges.)
Auch an sich erscheint ein
solches berücksichtigungswertes In
teresse hier
nicht gegeben. Mit einer Polemik gegen den P.A. hat
es nichts zu tun, wenn – wie
es im bezeichneten Briefe geschieht –
der Führer der reichsdeutschen Sozialdemokraten aufgefordert
wird,
seinem von der
Meinung der „Wiener Sozialdemokraten“ in kulturellen
Belangen angeblich
abweichende Ansicht klarzulegen. Der Besch.
hat
vielmehr nur den
Einwand erhoben, dass der fragliche Brief
kein lite
rarisches Werk sei und daher überhaupt nicht unter eine Urheber
rechtliche
Schutzbestimmung falle. Das Gericht konnte
jedoch dieser
Ansicht nicht
beipflichten. Es ist ein anerkannter Grundsatz des Urheber
rechtes, dass von
dem künstlerischen oder literarischen Wert, des
Werkes die Bedeutung die es
für die Allgemeinheit hat, abgesehen wird.
Ein urheberrechtlich
geschütztes Geisteswerk liegt schon dann vor,
wenn der Verfasser sich
damit oder darin an die geistige Persön
lichkeit des
Lesers wendet, wenn er darin Gedanken entwickelt, die von
unmittelbarer praktischer
Nutzanwendung absehend, der Leser zu einem
„geistigen Anschauen“
veranlassen. Dies trifft im erwähnten Briefe
gewiss zu.
Es werden darin vom Verfasser Gedanken über die Frage aus
gesprochen
inwieweit die Sozialdemokraten sich für bestimmte In
teressen der
„jüdischen
Bourgeoisie“ engagieren sollen und die
Stellungnahme des
Briefschreibens selbst zu dieser Frage festgelegt:
zweifellos also eine
geistige Arbeit. Es ist auch nicht zu verkennen
dass, wenn man mit dem Besch. erst einem Werk von literarischer
Bedeutung den Urheberschutz
zuerkannte, so gut wie jeder Brief aus
dem gesetzlichen
Schutzbereich herausfiele, die Bestimmung des § 24Abs. 2
Urh.Recht also fast nur auf dam Papier stände.
Der Besch. war sonach der Uebertretung nach § 45 Ziffer 4Urh.Ges. schuldig zu erkennen.
Mildernd: war das Geständnis des Tatsächlichen und der Um
stand, dass dem
Besch. nur fahrlässige Begehungsweise
zur Last fällt,
Erschwerend: nichts
Die verhängte Geldstrafe
erschien danach angemessen.
Die übrigen Entscheidungen
gründen sich auf die angeführten
Gesetzesstellen;
insbesondere hat das Gericht dem P.A. –
obwohl
es sich
vorliegendenfalls nur um eine Uebertretung handelt –
die Publikationsbefugnis
zuerkannt, folgend dem vom Landesgericht f.
Strafs. Wien I in der Entscheidung Bl. XV. 358/26 entwickelten
Gedankengängen, wonach im
Hinblick auf die ratis legis und den Um
stand dass der
Wortlaut des § 51 Urh.Ges. keine Einschränkung der Anwend
barkeit der
bezüglichen Gesetzesbestimmung auf das Vergehen nach
§ 44 Urh.Ges enthält – im Gegensatze zu dem §§ 49, 50 u. 51 leg.cit.
zu schliessen ist, dass auch
im Falle nur eine Uebertretung vorliegt –
doch dem Verletzten das
Publikationsrecht gewährt wird. Es erschien
dem Gerichte auch angemessen, konform dem Antrage des P.A. diesem
nicht nur die Befugnis zur
Veröffentlichung in der „Stunde“
selbst
in der der
gegenständliche Artikel erschienen
ist, zuzusprechen,
sondern
auch das Publikationsrecht in der „Arbeiter-Zeitung“
als dem „Zentralorgan der Sozialdemokraten Deutschösterreichs“
zuzuerkennen; letzteres,
weil dem abgedruckten Briefe der P.A.
die Stellungnahme der
Sozialdemokraten zu gewissen kulturellen
Problemen erörtert wird und
die Veröffentlichung das Briefes nach
Zugeständnis des
einbegleitenden Artikels den Zweck
verfolgte,
den P.A. bei den
Sozialdemokraten zu denunzieren, dem P.A. also
eine Abwehr auch in dieser
Richtung zu ermöglichen billig scheint.
Wien am 3. Dezember 1926
Der Richter: Der
Schriftführer:
Dr. Fryda m.p. Dr. Reichl m.p.
Mit
der Urschrift gleichlautend.
4./2. 27 U XII 71/26
Vorstehendes Urteil ist in
Rechtskraft
erwachsen und
vollstreckbar
Wien, am 23./II. 1927
[Unterschrift]