Hochgeehrter Herr Professor!


Als der strafrechtliche Berater in dem
Kampfe, den Herr Karl Kraus gegen die Verbrecherbande der
Stunde“ geführt hat und führt – als der ich Ihnen bereits bekannt
sein dürfte – möchte ich Sie um eine grosse Gefälligkeit bitten.
Wie Sie wissen, und wie aus einem freundschaftlichen Schreiben her
vorgeht, das Sie seinerzeit an Herrn Karl Kraus in dieser
Angelegenheit gerichtet haben, treibt sich die längste Zeit der von
der Wiener Staatsanwaltschaft, wegen Verbrechens der Erpressung und
der falschen Zeugenaussage, verfolgte Imre Bekessy in
Paris herum. Er wohnte zuletzt in Paris 20. avenueVictor-Hugo. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft ein
formelles Auslieferungsbegehren an die französische Behörde gestellt,
dessen offizielle Erledigung, wegen Langwierigkeit des diplomati
schen Weges, noch nicht erfolgt ist. Es scheint mir ausser Zweifel
zu sein, dass dieser gefährliche Erpresser auch in Paris die Mög
lichkeit hat, mit dem ihm vertrauten Mittel, sich solche Beziehun
gen zu verschaffen, die zumindest eine Verzögerung behördlicher
Aktionen jedenfalls vor Eintritt der eigentlichen rechtlichen Mass-


nahmen bewirken könnten. Es wäre nun für mich von der allergrössten
Wichtigkeit zu erfahren, in welchem Stadium sich diese Angelegenheit
befindet und ob Bekessy derzeit überhaupt noch sich in
Paris aufhält. Es ist hier ein ganz bestimmtes Gerücht ver
breitet, das auch in die Presse Eingang gefunden hat: dass Bekessy sich den Konsequenzen des Auslieferungsbegehrens bereits
durch die Flucht nach Amerika entzogen hat. Andererseits wird
wieder behauptet, dass er der Duldung der französischen Behörde,
unter Ausspielung der angeblichen Tatsache sicher sein könne, dass
man in Frankreich journalistische Erpresser nicht ausliefert. Wäre
dies der Fall, so hätte allerdings Ihr Land sich eine ganz außer
gewöhnliche Kraft auf diesem Gebiete erworben, deren Wirksamkeit
in Betracht kommenden Kreisen sehr bald zu spüren sein wird. Für
den Kampf könnte dieser Umstand insoferne nicht belanglos sein, als
von einer Sicherung der Position des Erpressers in Paris, eine Rück
wirkung auf Wien zu befürchten wäre, wie wohl es im Bereiche solcher
Möglichkeit schwer glaublich erscheint, dass Imre Bekessy
jemals nach Wien zurückkehrt. Sie würden Ihrem Lande jedenfalls
einen grossen Dienst leisten, wenn Sie präventiv auf die ungeheuere
Gefahr aufmerksam machen, was allerdings überflüssig wäre, wenn
Bekessy tatsächlich sich durch Abreise nach dem Westen be
reits für Europa ungefährlich gemacht hätte. Diese Eventualität
wäre vielleicht noch wirksamer, da er nach erfolgter Auslieferung
und sicherer Aburteilung bei der vollkommenen Moralfreiheit des
öffentlichen Empfindens, auch als Abgestrafter eine journalistische
Renaissance erleben könnte. Ich wäre Ihnen zu grösstem Danke ver-
pflichtet, wenn Sie mir einen Bericht über den Stand der Angele
genheit in Paris zukommen lassen könnten.


Mit dem Ausdrucke der grössten
Hochachtung


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