Im Auftrage und in
ausdrücklicher Vollmacht des
Verlages „Die Fackel“ in Wien, Hintere Zollamtsstr. 3,
teile ich Ihnen den folgenden
krassen Fall eines Ver
suches mit, das Recht auf freie Meinungsäusserung
im Wege einer privaten Zensur zu
beseitigen. Ich nehme
an, daß Sie
dieser Fall um so mehr interessieren wird,
als der
erfolgreiche Unternehmer
dieses Versuches der Ihrer
Organisation angehörende Schriftsteller Alfred Kerr
ist.
Das Reichsgericht stand, wie Ihnen sicherlich be
kannt ist, bis
vor wenigen Jahren auf dem Standpunkt,
daß Beleidigungen durch die
Presse nur strafrechtlich
verfolgbare sind, nicht aber im Wege einer zivilrecht
lichen einstweiligen
Verfügung verhindert werden können.
Seit einigen Jahren hat aber
bedauerlicher Weise das
Reichsgericht diesen Standpunkt aufgegeben.
Diese neue
Praxis, die
jedermann in die Lage versetzt, eine zu
erwartende unerwünschte
Veröffentlichung schon vor dem
Erscheinen abzuwenden und die das gedruckte Wort in
Wahrheit allen Gefahren
einer Zensur preisgibt, hat
sich nun Herr Alfred Kerr, ohne vorher das Strafgericht
angerufen zu haben,
folgendermassen zunutze gemacht:
Anfang März d.Js. erschien ein
Vorabdruck der
„Fackel“ unter dem Titel „Der größte
Feigling imganzen Land“.
Dieser Titel, der ersichtlich nicht
den geringsten Hinweis auf die
Person des Herrn
Alfred Kerr
enthielt, wurde auch an den Berliner
Anschlagsäulen plakatiert. Herr
Alfred Kerr,
dem es
offenbar gelungen ist,
glaubhaft zu machen, daß sich
dieser Titel auf seine Person beziehe, erwirkte nunmehr
beim Landgericht I, Berlin eine einstweilige Verfügung,
nach der es sowohl der Plakatierungs-Gesellschaft Berek
als auch dem Verlag „Die Fackel“ bezw. deren Heraus
geber Karl Kraus verboten wird, den Titel: „Dergrößte Feigling im ganzen
Land“, dessen Beziehung auf
eine bestimmte Person keinem
Passanten zum Bewußtsein
kommen
konnte, zu plakatieren.
Der folgerichtige Ausbau
dieser Methode würde es
jedem
polemischen Schriftsteller, der bereit und in
der Lage ist, vor dem
zuständigen Strafgericht den Be
weis für Behauptungen
objektiv beleidigender Art
anzutreten, unmöglich machen, von dem ihm durch die Ver
fassung gewährleisteten,
bloss durch das Strafgesetz
eingeschränkten Recht der freien Meinungsäusserung Ge
brauch zu machen.
Ich wäre dem Kampfausschuß dankbar, wenn er mir
von den Schritten, die er in
dieser prinzipiell be
deutsamen Angelegenheit
unternimmt, Kenntnis geben
wollte.
Ergebenst
gez. Dr. Laserstein
Rechtsanwalt.