Neues Wiener Abendblatt, 17.9.1927Amnestie?Neues Wiener Abendblatt


Geschäftszahl Bl XV 964/27
UI 403/27


Im Namen der Republik Österreich!


Vor dem Landes-Gericht in Strafsachen Wien I als
Berufungsgericht hat gemäß der die Verhandlung anordnenden Verfügung
vom 2.11.1927 am 6. Dezember 1927 unter
dem Vorsitz des Hofrates Gottfried
im Beisein des Hofrates Dr. Blaschke und
des Hofrates Heidrich
des Hofrates Neuwirth als Richter
und des J.A. Hanak als Schriftführer
in Abwesenheit
des Privatanklägers Karl Kraus
in Gegenwart dessen
Vertreters Dr. Oskar Samek,
in Abwesenheit des
Angeklagten Oskar Hirth und
in Gegen
wart des Verteidigers Dr. Josef Geiringer
die Verhandlung über die Berufung des Privatanklägers wegen Nichtigkeit
und im Punkte der Schuld
gegen das Urteil desStrafbezirksgerichtes I in Wienvom 28. September 1927
stattgefunden. Das Gericht hat über den Antrag des Klagevertreters, der
Berufung des Privatanklägers stattzugeben, und den des Verteidigers,
sie zurückzuweisen,
am 6. Dezember 1927 zu Recht erkannt:


Der Berufung des Privatanklägers wird Folge gegeben und das
Urteil dahin abgeändert, daß der Angeklagte Oskar Hirth schuldig
erkannt wird, er habe sich als verantwortlicher Schriftleiter
der Zeitung Neues Wiener Abendblatt im September 1927 grundlos
geweigert, die vom Privatankläger Karl Kraus verlangte Berichtigung
von in der Nummer 254 der genannten Zeitung vom 17.9.1927 unter
der Ueberschrift: „Amnestie?“ mitgeteilten Tatsachen zu veröffent
lichen, er hat hiedurch die Uebertretung nach § 23 und § 24 Absatz2 Pkt. 3 des Pressgesetzes begangen und wird gemäß dieser Gesetzes
stelle zu einer Geldstrafe von zwanzig Schilling, im Nichteinbringungs
falle zu vierundzwanzig Stunden Arrest und gemäß § 389 und § 390aSt.P.O. zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens in beiden Instanzen
verurteilt.


Gemäß § 24 Abs. 2 Pkt. 3, Abs. 4 und Abs. 6 Pressgesetz wird
derselbe verpflichtet, diese Berichtigung in der nächsten oder zweit
nächsten Nummer obiger Zeitung die nach Zustellung dieses Urteiles
erscheinen wird, in der im § 23 Pressgesetz vorgeschriebenen Weise
zu veröffentlichen, widrigens die genannte Zeitung von dem hienach
bestimmten Tage an nicht mehr erscheinen dürfte.


Gemäß § 5 Absatz 2 Pressgesetz haftet die Steyrermühl Papierfabriksund Verlagsgesellschaft Wien 1. Fleischmarkt 5 für die Geldstrafe
und die Kosten des Strafverfahrens zur ungeteilten Hand mit dem
Verurteilten.


Gründe.


Hinsichtlich der pressgesetzlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten wird auf die zutreffenden erstrichterlichen Gründe verwiesen.


Es ist zwar richtig, daß die These sich wortwörtlich mit
der Stelle des berichtigten Artikels deckt, wie der Berufungswerber
behauptet, da diese Stelle lautet: „Vielleicht ein Zeugnis dessen, daß die sozialdemokratische
Partei etz. nun schon alle möglichen Bundesgenossenschaften mobili
siert“, während die Antithese die Worte enthält, es ist unwahr, daß
Herr Karl Kraus von der sozialdemokratischen Partei als Bundes
genosse mobilisiert wurde. Allerdings wurde aber in den Entschei
dungsgründen behauptet, daß die Antithese keinen vollkommen Gegen-
satz zur These darstelle, in dieser Richtung muss aber dem Berichtigungswerber beigepflichtet werden, wenn er behauptet, daß sich These und
Artikel mit der Antithese inhaltlich decken. Der Artikel spricht, wie sich aus dem
Zusammenhang ergibt, die Vermutung aus, daß Karl Kraus hinsichtlich
des fraglichen Plakates als Bundesgenosse von der sozialdemokratischenPartei mobilisiert wurde und behauptet der Berichtigungswerber dagegen,
daß dies nicht der Fall sei, sondern daß der Plan des Plakates der
eigensten Initiative des Karl Kraus entsprungen sei ohne daß irgend
ein außenstehender Faktor, daher auch nicht die sozialdemokratischePartei darauf Einfluß genommen oder auch nur davon Kenntnis erlangt
hat. Hierin liegt aber die zulässige Berichtigung einer mitgeteilten
Tatsache. Wenn der berichtigte Artikel, die Tatsache, daß die Plaka
tierung durch die sozialdemokratische Partei veranlaßt worden sei,
in die Form kleidet: „Vielleicht ein Zeugnis dessen daß – mobilisiert“
so ist dies unentscheidend, dann auch Tatsachen, Mitteilungen,
die in die Form einer bloßen Vermutung gekleidet werden, eine be
rücksichtigungsfähige Tatsachen, zumal sonst jede Berichtigung
dadurch frustriert werden könnte, daß der Verfasser der Tatsachenmit
teilung beisätze wie: „vielleicht, angeblich, vermutlich, wie wir
hören, wie man erzählt“ etz. hinzufügt. Daß aber ein Handeln aus ei
gener Initiative einen Gegensatz bildet zur Mobilisierung durch
jemand anderen ist klar, da die Mobilisierung eines anderen in
Beweglichmachen desselben, eine Veranlassung desselben, zum Handeln
bedeutet, während das Handeln aus eigener Initiative das selbsttätige
Handeln zum Ausdruck bringt und sind übrigens, wie der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung vom 29.5.1925 Os 299/25 zum Ausdruck
gebracht hat, nicht nur äußere Tatsachen, sondern auch Ansichten,
Absichten, Entschlüsse, Beweggründe und Gesinnungen als innere Tat
sachen der Berichtigung fähig. Die Berufung erscheint daher begrün
det, und war der Angeklagte nach § 24 Z. 2 Pkt. 3 Pressges. schul
dig zu erkennen, da er die Berichtigung grundlos verweigert hat.
Die Strafe war nach dieser Gesetzestelle zu bemessen und lag als
erschwerend kein Umstand, als mildernd das Geständnis des Tatsäch
lichen und die Unebscholtenheit vor. Die oben verhängte Strafe
war dem Verschulden des Angeklagten angemessen.


Der Ausspruch über die Kosten, die Mithaftung vom Eigentümer und Herausgeber und die Verpflichtung zur Veröffentlichung
stützt sich auf die bezogene Gesetzesstelle.


Wien, am 6. Dezember 1927.
Der Vorsitzende: Der Schriftführer:
Pollak


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