Rev. Reg. I A Nr. 37/1929.
Urteil.
In der Privatklagesache des
Schriftstellers Karl Kraus in
Wien gegen den Schriftleiter Oskar Franz Schardt in Nürnberg
wegen Beleidigung hat das
Oberste Landesgericht, I. Strafsenat,
in
der Sitzung vom 13.
März 1929, an der teilgenommen haben: als
Richter: der Rat Wunderer als Vorsitzender und die Räte Fiedler
und Weber, als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle: der Obersekretär
Huber, auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 20. Februar
1929 für Recht erkannt:
I. Die Revision des
Angeklagten Oskar
Franz Schardt gegen
das Urteil der 3. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg
vom 22. Dezember 1928 wird
verworfen.
II. Dem Beschwerdeführer werden die
Kosten des Rechtsmit
tels auferlegt; er hat die dem Privatkläger erwachsenen
notwendigen Auslagen zu
erstatten.
Gründe:
Die
verfahrensrechtlichen Rügen gehen fehl.
Die Ablehnung der Vernehmung
des Sachverständigen Dr. Steiger
enthält keine Gesetzesverletzung. Nach § 245 Abs. II
StPO. be
stimmt im Privatklageverfahren das erkennende Gericht nach frei
em Ermessen den Umfang der Beweisaufnahme, ohne durch Anträge
der Parteien gebunden zu
sein. Eine unzulässige Beschränkung der
Verteidigung liegt um so
weniger vor, weil auch abgesehen von
dieser Sondervorschrift eine
prozessrechtliche Verpflichtung
des Gerichtes, das Gutachten eines vorgeschlagenen Sachverstän
digen zu hören,
nicht besteht.
Herrn Karl Kraus
Ebenso grundlos ist die
weitere Prozessbeschwerde, wo
nach die Vorschrift des § 164 StGB. im
Zusammenhalt mit § 194StGB. verletzt sein
soll. Der vom Privatkläger gestellte Straf
antrag
wurde dadurch, dass sein Vertreter in der
Berufungsver
handlung die Verurteilung des Angeklagten nur wegen eines
Ver
gehens der
Beleidigung nach § 185 StGB. verlangte, in seiner
Rechtswirksamkeit nicht
berührt. Eine teilweise Zurücknahme des
für die Verfolgung
erforderlichen Antrags (§ 194 StGB.) kommt
nicht in Frage. Die
strafrechtliche Würdigung des der Privatkla
ge zu
grunde liegenden Sachverhalts oblag nicht dem Privatkläger, sondern dem Gerichte (§§ 383, 384, 203, 206, 207,
264 StPO.).
Als Revisionsgrund
ungeeignet ist ferner die Behauptung,
die Strafkammer habe einen vom Verteidiger
vorgelegten Zeitungs
ausschnitt nicht berücksichtigt. Es könnte sich hiebei nur um ei
ne Frage der
Beweiswürdigung handeln, die vom Revisionsgericht
nicht nachzuprüfen ist (§ 261 StPO.). Die Urteilsgründe sind
nicht unvollständig, wenn
sie darüber hinweggehen (§ 267 StPO.).
Auch die
sachlich-rechtlichen Rügen können keinen Erfolg
haben.
Das Berufungsgericht stellt fest, dass der Angeklagte die
für den Rechtsschutz des § 193 StGB. gezogenen Grenzen insoferne
überschritten habe, als er
sich neben und bei Gelegenheit sei
ner sachlichen
Besprechung des Werks des Privatklägers zu persön
lichen Angriffen gegen diesen hinreissen liess, indem er
1. ihn als Pseudowiener
bezeichnete,
2. von ihm als von einem
Literätchen sprach,
3. zum Ausdrucke brachte,
dass er einem teilweise syphilitisch
verseuchten Kreise angehöre,
in dem geschlechtliche Anstek-
kung von Frauenspersonen
„alle
Tage Übung“ sei.
Die beiden ersten Wendungen
hält die Strafkammer für persön
liche
Beschimpfungen (§ 185 StGB.); in dem Ausdrucke „Pseudo
wiener“ liege der Vorwurf, dass sich der Privatkläger „fälsch
lich“, also
täuschungshalber für einen Wiener ausgebe. Die Ver
kleinerung des
Wortes Literat komme die beabsichtigte Wirkung zu,
dass der Privatkläger der Lächerlichkeit preisgegeben werde. Im
Falle unter Ziffer 3 wird
der Tatbestand des § 186 StGB. für ge
geben erachtet,
weil dem Privatkläger ein als Tatsache
hingestell
tes
sittlich verwerfliches Verhalten nachgesagt wurde, wofür der
Wahrheitsbeweis fehlt. Die
Überzeugung von der Absicht der Be
leidigung gewinnt
das Gericht aus der Häufung
verumglimpfender
Bemerkungen.
Die Auslegung einer
Kundgebung und die Lösung der Frage,
was der Täter mit seinen Worten
sagen wollte und welche Absicht
er verfolgte, obliegt dem
Tatrichter. Das Ergebnis seiner Würdi
gung ist für das
Revisionsgericht bindend, es sei denn,
dass hie
bei
Rechtsirrtum von Einfluss war. Eine Gesetzesverletzung lässt
jedoch die Auffassung der
Strafkammer nicht erkennen. Deshalb
muss von der in der
Vorinstanz erfolgten tatsächlichen Beurtei
lung jener
Äusserungen ausgegangen werden. Darnach aber ist deren
ehrenkränkender Sinn
offenkundig. Aus Rechtsgründen lässt sich
die Annahme des Landgerichts, dass in Verbindung mit der
erlaubten
tadelnden
Kritik der Leistung persönliche Ehrenangriffe unternom
men wurden, nicht
beanstanden. Nimmt man die unanfechtbare Fest
stellung über die
auf Beleidigung abzielende Willensrichtung
des Angeklagten hinzu, so sind
hinsichtlich der äusseren und in-
neren Tatseite die für die
Verurteilung nach §§ 185, 186
StGB. er
forderlichen Merkmale gegeben.
Die Revision behauptet, die
Veröffentlichung stehe, auch wenn an sich
der Tatbestand eines
Vergehens der Beleidigung gegeben wäre, ihrem
ganzen Inhalte nach unter
dem Rechtsschutze des § 193 StGB. Diese Ver
teidigung findet
jedoch im Gesetze keine Stütze. Das Berufungsgericht
hat den
Schuldausschliessungsgrund nur insoweit zugebilligt, als sich
der Angeklagte mit der sachlichen Besprechung des Werkes befaßt hat.
Diese Einschränkung war
gerechtfertigt, sie ergibt sich aus den allge
mein anerkannten
Grundsätzen über die Tragweite der genannten Vor
schrift. Zwischen
der sachlichen und der persönlichen Herabwürdigung
konnte hier, wie es im Urteil geschieht, sehr wohl unterschieden
wer
den. Mag
der Angeklagte
auch allen Grund gehabt haben, die Arbeit
des Privatklägers aufs schärfste zu kritisieren, in das Gebiet
der
persönlichen Ehre des Urhebers durfte
er nicht übergreifen. Ein Vor
recht der Presse besteht in dieser Hinsicht nicht.
Die Revision vermisst die
Feststellung, dass sich der Angeklagte
einer Überschreitung der Grenzen des § 193 StGB. be
wusst war. Soweit
dieser Einwand damit begründet wird, dass der
Angeklagte an anderen
Stellen Milderungen des Ausdrucks des ihm
zugegangenen Zeitungsartikels vorgenommen habe, betrifft die
Rü
ge die
Beweiswürdigung und wird durch die tatsächliche Annah
me des Berufungsgerichts, dass der Angeklagte
beleidigen wollte,
widerlegt. Wäre der Zweck
dieses Revisionsvorbringens, damit ei
nen
entschuldbarem Irrtum des Angeklagten geltend zu
machen, so
könnte darauf um
deswillen keine Rücksicht genommen werden, weil
die Rechtswidrigkeit der
Handlung nicht beseitigt würde, auch wenn
der Angeklagte geirrt hätte. Es
könnte nur ein unbeachtlicher
Strafrechtsirrtum über den Begriff der „berechtigten Interessen“
in Betracht kommen (vgl. Frank
StGB., 17.Aufl., Anm. III 1 b und c
zu §
193).
Weil sohin gegen die
Schuldentscheidung der Strafkammer
rechtliche Bedenken nicht
bestehen, auch die Anwendung des § 200StGB. und das
Strafmass gesetzlich zulässig sind, war die Revi
sion zu
verwerfen.
Der Ausspruch im
Kostenpunkte stützt sich auf §§ 473 Abs. ISatz 1, 471, Abs. I StPO.
gez. Wunderer. Fiedler. Weber.
Für den Gleichlaut mit der
Urschrift.
München, den 28. März 1929.
Die Geschäftsstelle
des Obersten Landesgerichts.
[Unterschrift]