Neues Wiener TagblattNeues Wiener Tagblatt, 3.9.1928Skandalszenen bei einer Kraus-Vorlesung [13.9.1928]Neues Wiener Tagblatt, 13.9.1928Skandalszenen bei einer Kraus-Vorlesung [3.9.1928]


Geschäftszahl: 1 U 358/28
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Im Namen der Republik!


Das Strafbezirksgericht I in Wien als Pressegericht hat heute
in Gegenwart des Privatanklagevertreters: Dr. Oskar Samek
und des Verteidigers Dr. Josef Geiringer über die
Anklage verhandelt, die der Privatankläger Karl Kraus gegen
Oskar Hirth, 60 J., verh., verantwortlicher Redakteur
des „Neuen Wiener Tagblatt
wegen der Übertretung nach § 24 (2) 2 Pressgesetz erhoben hatte und
über den vom Ankläger gestellten Antrag auf Bestrafung des Besch. und
Verpflichtung zur Veröffentlichung der Berichtigung in der Zeitung
Neues Wiener Tagblatt“ zu Recht erkannt:


Oskar Hirth wird von der Anklage, er habe im September 1928 in Wien
als verantwortlicher Schriftleiter der Zeitung „Neues Wiener Tagblatt“vom 13.IX.1928 die vom Pr.Ankl. Karl Kraus verlangte Berichtigung von in der Nummer 245 der genannten Zeitung vom 3.IX.28 unter der
Überschrift „Skandalszenen bei einer Kraus-Vorlesung“ mitgeteilten
Tatsachen nicht in der im § 23 Pressgesetz vorgeschriebenen Weise ver
öffentlicht und habe hiedurch die Übertretung nach §§ 23 und 24 (2) 2Pressgesetz begangen, gemäss § 259/3 ST.P.O. freigesprochen.
Gemäss § 390 ST.P.O. hat der Pr.Ankl. die Kosten des Strafverfahrens
zu tragen.


Entscheidungsgründe:


Durch das Impressum, bezw. die vorgelegten Zeitungsnummern
ist erwiesen, dass der Besch. in der in Betracht kommenden Zeit der ver
antwortliche Schriftleiter der Zeitung „Neues Wiener Tagblatt“ war
und dass die vom Pr.Ankl. verlangte Berichtigung des in der Nummer vom3.IX.28 unter der Überschrift „Skandalszenen bei einer Kraus-Vorlesung
in der Nummer vom 13.IX.28 der genannten Zeitung veröffentlicht wurde.


Durch das vorgelegte Postrezipiss ist weiters festgestellt, dass
das Berichtigungsschreiben am 10.IX.1928 an den Besch. abgesendet wurde
und er dasselbe somit am 11. ds. erhalten hat. Die Berichtigung wurde
am 13.IX.28, somit rechtzeitig veröffentlicht.


Der Pr.Ankl. erblickt nun den Tatbestand der Übertretung nach
§ 24 Pressgestz. in folgendem Umstand:


In dem Berichtigungsschreiben heisst es „Sie veröffentlichen
(Skandalszenen bei einer Krausvorlesung) Aus Berlin 3.d. wird uns tele
grafiert …“; in der gebrachten Berichtigung heisst es nun „…
Sie veröffentlichen: aus Berlin 3.d. wird uns telegrafiert.“ Zwischen
den Worten „veröffentlichen“ und „aus Berlin …“ ist der Satz „Skandal
szenen bei einer Krausvorlesung“ ausgelassen, wor in der Pr.Ankläger
den inkriminierten Tatbestand erblickt. Demgegenüber sei darauf hinge
wiesen, dass der Titel der Berichtigung „Skandalszenen bei einer Kraus
vorlesung“ in der Berichtigung gebracht wurde und zwar wurde er genau
in denselben Lettern und an derselben Stelle nämlich am Kopfe, wie in
dem berichtigten Artikel gebracht; die Berichtigung beginnt wieder mit
demselben Titel. Die Zeitung hat also auch den Titel „Skandalszenen bei
einer Krausvorlesung“ gebracht, am entsprechenden Ort und in entspre
chender Weise; denn aus dieser Art und Weise, wie er gebracht
wurde, ergibt sich klar, dass der ursprüngliche Titel so gelautet hat,
und auch jetzt so lautet. Durch die Antithese wird nicht allein wider
legt, dass eine Vorlesung stattgefunden hat, sondern auch, dass sich
dabei Skandalszenen abgespielt haben sollen.


Das Gericht ist nach dem Vorhergesagten zu der Ansicht gekom
men, dass die Berichtigung dem Gesetze entsprechend veröffentlicht wur
de. Der Besch. Oskar Hirth wurde daher mangels strafbaren
Tatbestandes gemäss § 259/3 ST.P.O. freigesprochen.


Der Ausspruch über die Kosten ist in § 390 St.P.O. begründet.
Wien, am 21. September 1928.


Dr. Kramer
Kahlert


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