Geschäftszahl 1 U 139/29/3
Im Namen
der Republik!
Das Strafbezirksgericht I in Wien als Pressegericht hat
heute in Gegenwart des
Privatanklagevertreters Dr. Oskar Samek
und des Verteidigers Dr. Oswald Richter
über die Anklage ver
handelt, die der
Privatankläger Karl
Kraus gegen Dr. Otto Leichter, 31 Jahre alt, verh., verantwortlicher Schriftleiter der
„Arbeiterzeitung“ wegen der Übertretung nach §§ 23, 24 (2) 3Pressegesetz erhoben hatte und über den vom Ankläger gestellten
Antrag auf Bestrafung des
Beschuldigten und Veröffentlichung
der Berichtigung zu Recht erkannt:
Dr. Otto Leichter wird von der Anklage, er habe
sich im März 1929 in Wien als verantwortlicher Schriftleiter
der „Arbeiterzeitung“ grundlos geweigert, die von Karl Kraus
verlangte Berichtigung von in der Nummer 70
der genannten Zeitung
vom 11. März 1929 in dem Aufsatz
mit der Überschrift: „Literatur vor
dem Handelsgericht“ mitgeteilten Tatsachen zu veröf
fentlichen und
hiedurch die Übertretung nach §§ 23, 24 (2) 3Pressgesetz
begangen, gemäss § 259/3 St.P.O. freigesprochen.
Gemäss § 390 St.P.O. hat der Privatankläger die Kosten
des Strafverfahrens zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Aus dem Impressum bzw. den
Angaben des Verteidigers
ist erwiesen, dass der Besch. während der
in Betracht kommenden
Zeit
verantwortlicher Schriftleiter der „Arbeiterzeitung“
war,
das Berichtigungsschreiben erhalten hat, dass seither
mehr als 2 Nummern der „Arbeiterzeitung“ erschienen sind
und die verlangte Berichtigung nicht veröffentlicht wurde.
Das Gericht hatte zu prüfen, ob die Weigerung des Besch.
die verlangte Berichtigung zu veröffentlichen grundlos war (§24 (2) 3 Pr.G.).
Das Gericht ist der Ansicht, dass die verlangte Berichtigung
in
keinem Teile den gesetzlichen Bestimmungen über das Berich
tigungsrecht
entspricht.
Der erste Absatz des Berichtigungsschreibens ist nach Form
und Inhalt keine Berichtigung
sondern eine Polemik; es ist
nicht deutlich ersichtlich gemacht, welche Stellen berichtigt
werden und Thesen und Antithesen
sind nicht im richtigen Ver
hältnis einander gegenüber gestellt. Die Stelle: „Es ist
unwahr,
dass Karl Kraus zum
Ausdruck gebracht hat …“ entspricht
auch deshalb nicht dem
Pressgesetz, weil in dem berichtigten
Aufsatz gar nicht behauptet wurde, dass Karl Kraus zum Aus
druck brachte, dass es
nicht darum gehe …“.
Das Gericht ist der Ansicht, dass der verantwortlicheSchriftleiter die
Veröffentlichung der Berichtigung nicht aus
dem Grunde des § 23 (2) 4 Pr.G. verweigern konnte, weil aus dem
Berichtigungsschreiben nicht ersichtlich ist, auf welche Per
son sich die Worte
„Lumperei“ und „hinterrücks erfolgte
Streichung“ bezieht.
§ 23 (2) 4 Pressges.
berechtigt nur dann zur Wei
gerung, wenn der Wortlaut der Berichtigung eine Klagemöglichkeit
gibt. Dies ist vorliegend nicht
der Fall.
Der zweite Absatz der Berichtigung entspricht deshalb
nicht dem Pressgesetz, weil
es keine berichtigungsfähige Tat
sache
ist, wie oder was jemand denkt.
Der dritte Absatz des Berichtigungsschreibens beginnend mit
den Worten: „Sie
schreiben: ‚Wir können das Datum nicht zi
tieren …‘“
bis „… zu retten gewesen“, ist keine Berich
tigung von Tatsachen,
sondern eine Polemik; überdies entspricht
die Antithese: „Wahr
ist, dass die in den anderen zitierten
Sätzen … Änderung … niemals
hinterrücks … erfolgt ist …“
durchaus nicht den Thesen:
„Es ist unwahr, dass Karl Kraus
sich
gar nicht selten gerühmt hat …“ und „es ist unwahr, dass
er diese Worte gebraucht
hat.“
Der letzte Absatz des Berichtigungsschreibens entspricht
deshalb nicht dem
Pressgesetz, weil „sich als Verdienst anrech
nen“
keine berichtigungsfähige Tatsache ist und weil zwischen
„Es
ist unwahr, dass Karl Kraus es sich als Verdienst anrechnet …“
und „Wahr ist, dass eine Veränderung und Korrektur nur dann
erfolgt ist,
wenn …“ der zwischen These und
Antithese erforder
liche Gegensatz fehlt.
Da somit die Berichtigung ihrem ganzen Inhalte nach den
pressgesetzlichen
Bestimmungen nicht entspricht, bestand keine
Möglichkeit gem. § 24 (3) Pr.G. mit einer Feststellung vorzugehen.
Der Beschuldigte war gem. § 259/3 St.P.O. freizusprechen, da
seine Weigerung, die
verlangte Berichtigung zu veröffentlichen
nicht grundlos war (§ 24 (2) 4 Pr.G.).
Gem. § 390 St.P.O. war dem Privatankläger der
Kostenersatz
aufzuerlegen.
30. April 1929.
Kahlert