Die Unüberwindlichen. Nachkriegsdrama in vier Akten


Abschrift.


38.0.549/29
zu 30


Im Namen des Volkes!


Verkündet
am 13. Januar 1931
gez. Jüttner, Justizangestellter
als Urkundbeamter der
Geschäftsstelle.


In Sachen
des Verlages „Die Fackel“, alleiniger Inhaber: Schriftsteller
Karl Kraus in Wien III, Hintere Zollamtsstrasse 3,
Klägers,
Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Botho Laserstein in
Berlin NO. 18, Landsberger Allee 55,
gegen
Die Volksbühne“ e.V. vertreten durch ihren Vorstand, die
Herren Neft und Nestriepke, in Berlin C 25, Linienstrasse 227,
Beklagte,
Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Abelsdorff in BerlinW.8. Jägerstrasse 18,
wegen Aufführung eines Bühnenstückes und Vertragsstrafe hat
die 21. Zivilkammer des Landesgerichts I in Berlin auf die münd
liche Verhandlung vom 13.Januar 1931 unter Mitwirkung des
Landgerichtsdirektors Dr.Weigert, des Landgerichtsrates Dr.Günther und des Gerichtsassessors Dr. Wehner
für Recht erkannt:


I. Die Beklagte wird verurteilt,
a. an den Kläger 600 RM – sechshundert Reichsmark –
nebst 8% Zinsen seit dem 1. November 1929 zu zahlen,
b. das Drama des Klägers „Die Unüberwindlichen“ gemäss


den Bestimmungen des zwischen den Parteien geschlossenen Aufführungsvertrages zur Aufführung zu bringen.


II. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten des
Rechtsstreites zu tragen.


III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe
von 1800 RM vorläufig vollstreckbar.


Tatbestand.


Zwischen den Parteien ist im Jahre 1929 der nicht
datierte, in Urschrift Bl. 127–128 d.A. befindliche Vertrag abge
schlossen worden. Danach überträgt der Kläger der Beklagten die
Berechtigung, und übernimmt die Beklagte die Verpflichtung, das
Werk „Die Unüberwindlichen“ von Karl Kraus in der Volksbühne,
Theater am Bülowplatz, Berlin, zur Aufführung zu bringen. § III,
der überschrieben ist „Aufführungstermin“, bestimmt die Ver
pflichtung der Bühnenleitung, „das Werk bis spätestens am
1. Januar 1930 zur ersten Aufführung zu bringen“. Es folgt sodann
in Klammern der Satz „zunächst in Form einer Matinée“. Die Beklagte verpflichtet sich sodann in § IX, „Aenderungen nur mit
Zustimmung des Autors vorzunehmen.“ Für den Fall, dass einer
der beiden Vertragsteile eine Bestimmung des Vertrages gröblich
verletzt, hat nach § VIII der vertragsuntreue Teil dem anderen
eine Vertragsstrafe von 600 RM zu zahlen, ohne dass die Pflicht
zur Vertragserfüllung erlischt.


Die Beklagte hat das Stück am Sonntag, den 20. Oktober
1929 in Form einer Matinée zur Erstaufführung gebracht. Sie
kündigte eine weitere Aufführung für den Sonntag, uen 3. November
1929, nachmittags 3 Uhr, an, indem sie ausdrücklich auf den
„aussergewöhnlichen Erfolg der Matinée“ hinwies. In der letzten
Woche vor der zweiten Aufführung, wie der Kläger behauptet, am


Dienstag, dem 29. Oktober 1929, wie der Beklagte behauptet, am
Donnerstag, den 31. Oktober 1929, sagte die Beklagte die zweite
Vorstellung des Stückes ab und stellte den Kartenverkauf ein.


Mit der Klage verlangte der Kläger die Aufnahme des
Stückes in den Abendspielplan und die Zahlung der Vertragsstrafe.
Er ist der Ansicht, dass die Beklagte durch den Aufführungsvertrag die Verpflichtung übernommen habe, das Stück jedenfalls dann
in ihren Abendspielplan aufzunehmen, wenn die erste Aufführung
erfolgreich sein würde. Die erste Aufführung, die von etwa 2000
Zuschauern besucht worden sei, habe einen ganz aussergewöhnlich
starken Erfolg gehabt. Hierin seien sich auch die Kritiken fast
der gesamten Berliner Presse einig gewesen. Die Beklagte habe,
lediglich auf Grund der politischen Intervention der österreichi
schen Gesandtschaft, den Kartenverkauf für die zweite Vorstellung
vorzeitig eingestellt und diese abgesagt. Bis zum 29. Oktober 1929,
dem Tage der Einstellung des Kartenverkaufes, seien bereits über
200 Karten verkauft gewesen. Dies zeige, dass von einem wirt
schaftlichen Misserfolg nicht die Rede sein könne.


Der Kläger beansprucht die Zahlung der Vertragsstrafe
sowohl wegen der vertragswidrigen Absage der zweiten Vorstellung
als auch deswegen, weil die Beklagte entgegen den Vertragsbe
stimmungen ohne Zustimmung des Autors bei der ersten Aufführung
erhebliche Streichungen vorgenommen habe, die u.a. den nach dem
Text und nach den Proben stärksten vierten Akt bei der Matinée
zum schwächsten gemacht hätten.


Der Kläger hat beantragt:
1. Die Beklagte zu verurteilen, an ihn 600 RM nebst
8% Zinsen seit dem 1. November 1929 zu zahlen,
2. das Drama des KlägersDie Unüberwindlichen“ in


ihrem Abendspielplan aufzunehmen und zur Aufführung zu bringen.


Die Beklagte hat beantragt:
Die Klage abzuweisen.


Sie bestreitet, nach dem Vertrage zur Aufnahme des
Stückes in den Abendspielplan verpflichtet zu sein, da sie nach
§ III lediglich die Veranstaltung einer Matinée übernommen habe.
Dass dies der Wille der Parteien gewesen sei, gehe aus den Ver
tragsverhandlungen sowie daraus hervor, dass für die Besetzung
einiger Hauptrollen in der Matinée Schauspieler verwendet worden
seien, die damals auf keinen Fall für den Abendspielplan frei
gewesen seien. Ueberdies sei die Aufführung wirtschaftlich ein
vollständiger Misserfolg gewesen. Die Matinée habe Ausgaben in
Höhe von 4933,98 RM verursacht, so dass ein Verlust von 3883,08 RM
entstanden sei. Bis zum Donnerstag, dem 31. Oktober 1929, habe sie
für die zweite Vorstellung nur 251 Karten absetzen können. Wegen
der hieraus zu ersehenden geringen Beteiligung des Volksbühnen
publikums, nicht jedoch wegen einer von ihr bestrittenen Inter
vention der österreichischen Gesandtschaft habe sie daher die
zweite Aufführung abgesetzt.


Die Beklagte bestreitet, irgendwelche Aenderungen oder
Streichungen bei der Matinée vorgenommen zu haben, die nicht der
Verfasser ausdrücklich gebilligt habe. Wenn allerdings der Vor
hang infolge eines falschen Stichwortes der Souffleuse zu früh
gefallen sei, so sei dies ein entschuldbares Versehen, für das sie
nicht verantwortlich gemacht werden könne.


Gemäss den Beweisbeschlüssen vom 14. März und 15. Oktober
1930 sind folgende Zeugen vernommen worden: Heinrich Fischer,
Cäcilie Lvovsky, Karl Heinz Martin, Heinz Kenter und Peter Lorre.
Auf die Beweisprotokolle vom 30. April, 9. Juli und 26. November
1930 wird verwiesen.


Wegen der einzelnen Einzelheiten des Parteivorbringens
wird auf den Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schrift
sätze hiermit Bezug genommen.


Entscheidungsgründe.


Der Aufführungsvertrag enthält keine ausdrück
liche Regelung der zwischen den Parteien streitigen Frage, ob
die Beklagte verpflichtet sein sollte, von dem Stück „Die Unüberwindlichen“ mehrere Aufführungen zu veranstalten insbeson
dere das Stück in den Abendspielplan aufzunehmen. Immerhin geben
auch die Bestimmungen des Vertrages bedeutungsvolle Anhaltspunkte
für seine Auslegung in der Streitfrage.


Zunächst spricht § II („Aufführungspflicht“) ganz
allgemein die Pflicht der Beklagten aus, „das Werk ……
zur Aufführung zu bringen“. § III will nach seiner Ueberschrift
nur den „Aufführungstermin“ regeln. Es wird dort ein bestimmter
Endtermin festgelegt. In Klammern folgt dann der Zusatz „Zunächst
in Form einer Matinée“.


Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass eine Bühne,
die ein Stück ohne ausdrückliche Beschränkung auf eine einmalige
Aufführung erwirbt, die Verpflichtung hat, das Stück in angemes
sener Weise auszuwerten. Das bedeutet, dass im Falle eines Er
folges das Stück in einer angemessenen Zahl von Aufführungen zu
wiederholen ist. Dass im vorliegenden Falle etwas Abweichendes
zwischen den Parteien vereinbart worden sei, müsste daher die
Beklagte nachweisen.


Hierzu genügt keinesfalls der Hinweis auf den Satz
des Vertrages in § III „Zunächst in Form einer Matinée“. Gerade
das Wort „zunächst“ setzt begrifflich voraus, dass nicht an eine


einzige, sondern an mehrere Aufführungen gedacht ist. Der Kläger
weist völlig zutreffend darauf hin, dass anderenfalls nicht nur
die Bestimmung des § V, die eine monatliche Abrechnung vorsieht,
sondern auch die des § VI, der die Dauer des Vertrages bis zum
1. Januar 1931 erstreckt und der der Beklagten das alleinige Auf
führungsrecht für Berlin bis zu diesem Tage sichern sollte,
sinnlos wären, da die erste Vorstellung, die Matinée, ja
gemäss § III schon „bis spätestens zum 1. Januar 1930“ stattzu
finden habe.


Demgegenüber entbehrt der von der Beklagten angeführte,
vom Kläger bestrittene Umstand der Beweiskraft, dass in der
Matinée eine Reihe von Schauspielern mit Hauptrollen beschäftigt
worden seien, die damals für den Abendspielplan nicht frei gewesen
wären. Wie die Abendbesetzung später hätte durchgeführt werden
können, darauf hatte der Kläger keinen Einfluss. Aus einer wie
immer gearteten Rollenbesetzung der Matinée können daher keinerlei
Rückschlüsse auf den Vertragswillen der beiden Parteien gezogen
werden.


Es kann sich also nur noch darum handeln, ob die Beklagte den ihr obliegenden Gegenbeweis geführt hat, dass eine
Pflicht zur mehrmaligen Aufführung des Stückes bei den Vertrags
verhandlungen ausdrücklich oder stillschweigend ausge
schlossen worden ist.


Diesen Beweis hat die Beklagte nicht zu führen vermocht
Auch der Zeuge Martin hat bekundet, dass er grosse Lust gehabt
habe, das Stück im Abendspielplan zu spielen, dass er auch ge
sprächsweise geäussert habe, es käme ev. eine Aufnahme in den
Abendspielplan in Betracht. Wenn er weiter meint, er selbst habe
„eine bestimmte Zusage nicht gemacht“, so mag dies richtig sein,


ist aber deswegen ohne Bedeutung, weil jedenfalls die Zusage
einer mehrfachen Aufführung des Stückes, wie oben dargelegt, in
den Vertragsbestimmungen einen konkludenten Ausdruck gefunden
hat.


Die Zeugen Fischer und Frau Lvovsky haben ausgesagt,
dass der Zeuge Martin sogar mit aller Bestimmtheit seiner Absicht
Ausdruck gegeben habe, das Stück auch im Abendspielplan zu
spielen. Was der Zeuge Fischer schliesslich über den endgültigen
Vertragsschluss mit dem Direktor Neft bekundet, lässt zum min
desten erkennen, dass auch dieser das Stück im Falle des Er
folges weiter aufzuführen gedachte. Keiner der Zeugen hat somit
die Beschränkung der Verpflichtung der Beklagten auf eine ein
malige Aufführung oder dem Sinne nach bekunden können.


Die Beklagte hatte daher die Pflicht, das Stück in ange
messener Weise zu wiederholen, wenn die Matinée einen „Erfolg“ dar
stellte. Dem Kläger ist darin beizustimmen, dass hiermit nicht ge
meint sein kann, dass die Matinée schon alle Kosten der Inszenierung
zu decken habe, was erfahrungsgemäss niemals möglich sei, sondern
dass ein Erfolg dann anzunehmen sei, wenn das Publikum und die
Presse das Stück günstig aufnehmen, also zu erwarten sei, das
weitere Vorstellungen sich lohnen würden. Aus diesem Grunde kommt
es nicht darauf an, ob, wie die Beklagte darlegt, die erste Auf
führung Ausgaben in Höhe von etwa 5000 RM verursacht hat. Die von
dem Kläger überreichten Zeitungsausschnitte und seine Zusammen
stellung der Berliner Pressekritik in der Zeitschrift „Die Fackel“von Anfang Februar 1930 ergeben zur Gewissheit, dass die Matinée
einen ungewöhnlich starken Beifall gefunden hat. Die Beklagte
gibt dies zwar zu, meint aber, dass das Stück für das Volks
bühnenpublikum nicht von Interesse gewesen sei, und dass sich


dies aus dem schlechten Kartenverkauf für die zweite Vor
stellung ergeben habe. Dieser Beweisführung kann nicht zuge
stimmt werden. Einerseits ist es bekannt, dass Nachmittags
vorstellungen für gewöhnlich in ihrem Besuch hinter Abend
vorstellungen erheblich zurückzustehen pflegen, dass also
ein schwacher Besuch einer Nachmittagsvorstellung noch nichts
für etwaige Abendvorstellungen besagen will. Andererseits hat
die Beklagte vorzeitig den Kartenverkauf für die zweite Vor
stellung eingestellt. Hierbei kann es dahingestellt bleiben,
ob dies schon am 29. oder, wie die Beklagte behauptet, erst
am 31. Oktober 1929 geschehen ist. Naturgemäss ist der Vor
verkauf gerade an den Tagen unmittelbar vor der Vorstellung
am stärksten. Diese Tage hat aber die Beklagte nach ihrem
eigenen Vorbringen nicht abgewartet. Sind also tatsächlich,
wie die Beklagte darlegt, bis zum 31. Oktober 1929 nur 251
Karten verkauft worden, so berechtigte das noch keineswegs
die Beklagte zum sofortigen Abbruch des Kartenverkaufs und
zur Absetzung des Stückes. Bei diesem etwas voreiligen Handeln
kann jedenfalls von dem Nachweise eines wirtschaftlichen Miss
erfolges der zweiten Aufführung nicht die Rede sein. Ob, wie
der Kläger behauptet, der wahre Grund der Absetzung des
Stückes ein politischer gewesen ist, konnte daher unerörtert
bleiben.


Die Beklagte hat somit ihre Vertragspflicht zur an
gemessenen Auswertung des Bühnenstückes des Klägers nicht er
füllt. Sie war deshalb zur Aufführung des Stückes gemäss dem
Vertrage zu verurteilen. Hierbei hat das Gericht davon abge
sehen, ausdrücklich „die Aufnahme in den Abendspielplan“
anzuordnen. Denn nach dem Vertrage muss es der Beklagten
überlassen bleiben, ev. zunächst in Form einer weiteren


Matinée oder einer Nachmittagsvorstellung das Stück zur
Aufführung zu bringen und erst später eine angemessene Reihe
von Abendvorstellungen zu veranstalten.


Der weitere von dem Kläger erhobene Anspruch auf
Zahlung der Vertragsstrafe ist schon deswegen begründet, weil
in der Absetzung der zweiten Aufführung, wie dargelegt, eine
Vertragsverletzung zu erblicken ist. Darüber hinaus recht
fertigt sich der Anspruch auf die Vertragsstrafe aber auch
aus dem Grunde, weil die Beklagte nach § IX „Aenderungen nur
mit Zustimmung des Autors[“] vornehmen durfte, in der Matinée
vom 20. Oktober 1929 jedoch eine Reihe erheblicher Aenderungen
ohne diese Zustimmung vorgenommen hat. Dies geht zweifelsfrei
aus der Aussage des Zeugen Lorre hervor. Auch der Zeuge Martin
hat zugegeben, dass eine wesentliche Streichung, über die er
sich noch mit dem Autor habe verständigen wollen, vorgenommen
worden ist, ohne dass die Einwilligung des Autors eingeholt
worden ist. Auch hierin liegt eine schuldhafte Vertragsver
letzung, die den Anspruch auf Vertragsstrafe zur Entstehung
gebracht hat. Das Gericht konnte daher die weitere Frage
ungeprüft lassen, ob das Versehen der Souffleuse der Beklagten gleichfalls im Sinne des Vertrages als gröbliche
Vertragsverletzung zuzurechnen ist.


Nach alledem war, wie geschehen, zu erkennen.


Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Die
vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils folgt aus § 710 ZPO.
gez. Weigert Günther Wehner


Ausgefertigt:
Unterschrift unleserlich Justizangestellter
Urkundbeamter der Geschäftsstelle des Landgerichts I.