ZeitstrophenDie Fackel als fascistische Hetzschrift?Der SozialdemokratDie letzten Tage der MenschheitDie Unüberwindlichen. Nachkriegsdrama in vier AktenKarl Kraus – sechzig Jahre [Der Sozialdemokrat]


Sehr geehrter Herr Doktor.


Bei der heutigen Hauptverhandlung
wurden die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens neuerlich
konstatiert und alle Schriftsätze seitens des Vorsitzenden
zur Verlesung gebracht, da in der Besetzung des Senates eine
Aenderung eingetreten ist.


Im Sinne Ihrer gesch. Zuschrift vom27. v.M. habe ich mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass der
Sozialdemokrat“ und seine massgebenden Redakteure über
die Ansichten des Privatklägers betreffend die Haltung der
sozialdemokratischen Führer anlässlich der Wiener-Februar
Ereignisse genau informiert waren und dass sie trotzdem
in voller Kenntnis dieser Ansichten und der Kritik des Ver
haltens der Sozialdemokratie und ebenso in voller Kenntnis
des Inhaltes des Aufsatzes des PrivatklägersHüben undDrüben“ am 28.IV.1934 in der Zeitschrift „Sozialdemokrat
einen huldigenden Artikel publiziert haben, woraus hervorgeht,
dass der Autor des inkriminierten Artikels durch den im Juli
erschienenen Aufsatz des Privatklägers weder überrascht, noch
zur Verfassung und Publizierung des beleidigenden Artikels
provoziert werden konnte. Beweis: Zeugen Dr. Emil Franzel,
Heinrich Fischer und der im ‚Sozialdemokrat‘ erschienene Artikelvom 28.IV.1934.


Ich habe mich bemüht, dem Gerichte begreiflich
zu machen, dass die vom Gegner unter Beweis gestellten Tatsa
chen für den Prozess irrelevant sind und dass es einzig darauf
ankommt, den Beweis darüber durchzuführen, ob die gegen den
Privatkläger erhobenen Anschuldigungen begründet sind, was
dadurch geschehen könne, dass der in beglaubigter Uebersetzung
vorliegende Huldigungsartikel vom 28.IV.1934 zur Verlesung
gebracht und die Zeugen Heinrich Fischer und Dr. Franzel ein
vernommen werden.


Der Verteidiger stellte den Antrag, es möge
mit Rücksicht auf den Inhalt des von mir überreichten Schrift
satzes, in welchem die Anklage hinsichtlich einiger Stellen
zurückgenommen wurde, das Verfahren eingestellt und dem Privatkläger der Ersatz der Hälfte der bisherigen allgemeinen
Verteidigungskosten, sowie der gesamten auf die Anklagepunkte
bezughabenden Kosten, insoferne die Klage zurückgenommen wurde,
auferlegt werden. Insbesondere zur Durchführung des Wahrheits
beweises darüber, dass der Privatkläger wilde und läppische
Ausfälle unternommen habe, seien spezielle Kosten, vor allem
durch ein eingehendes Studium der JULI-FACKEL entstanden.
Zur Begründung dieses Antrages berief er sich auf ein Judikat
des Prozessgerichtes, welches vom Obergerichte bestätigt worden
ist.


Gegen diesen Antrag habe ich vorgebracht, dass
die ganze Anklage aufrechterhalten wird und nur die Inkriminie
rung jener Stelle widerrufen wurde, in welcher behauptet wird,
der Privatkläger habe wilde Ausfälle gegen den Marxismus und
die Sozialdemokratie unternommen. Von der Inkriminierung der
Stelle, durch die die Ausfälle als läppisch bezeichnet wurden,
sieht der Privatkläger nur deswegen ab, weil der über diese
Stelle vom Angeklagten angebotene Wahrheitsbeweis eine wesent
liche Verschleppung und Verteuerung des Verfahrens zur Folge
haben müsste, was der Privatkläger vermeiden wollte.
Uebrigens sind durch die Inkriminierung jener Stellen,
von deren Verfolgung abgesehen wird, keinerlei Kosten ent
standen, was schon darauf hervorgeht, dass die Frage, ob
eine Ehrenbeleidigung, begangen durch die Presse, vorliegt,
nach dem Inhalte des ganzen inkriminierten Artikels und nach
dem gesamten Zusammenhang und keinesfalls nach einzelnen
Punkten oder Absätzen dieses Artikels beurteilt werden muss.


Das Gericht hat sehr lange beraten und
schliesslich trotz meinen Hinweisen beschlossen, die von
der Verteidigung beantragten Beweise, nämlich Vorlage der
Fackelhefte Nr. 890 bis 905, 787 bis 794, 766 bis 770,
771 bis 776, 777 bis 780 und der Dramen „Die letzten Tageder Menschheit“, „Die Unüberwindlichen“, „Zeitstrophen
zuzulassen.


Ueber den Antrag hinsichtlich der Kosten
wird erst im Endurteile entschieden werden.


Die Entscheidung über die vom Privatkläger
gestellten Beweisanträge wird bis nach Durchführung der
heute zugelassenen Beweise zugelassen erfolgen .


Da der Angeklagte erklärte, zur Vorlage der
Uebersetzungen wenigstens eine halbjährige Frist zu benöti
gen, wurde ihm aufgetragen, diese Uebersetzungen längstens
innerhalb dieser Frist vorzulegen.


Die Verhandlung wurde auf unbestimmte Zeit vertagt.


Ich habe den Vorsitzenden nach Verkündi
gung dieses Beweisbeschlusses abermals darauf aufmerksam ge
macht, dass es ganz ausgeschlossen ist, dass sich das Gericht,
selbst wenn Uebersetzungen vorgelegt werden sollten, mit der
Lektüre dieser grossen Anzahl von Aufsätzen befasst, dass es
sich dem Angeklagten um nichts anderes, als um die Verschlep
pung des Verfahrens handelt und dass er gar nicht ernstlich
daran denkt, die Aufsätze übersetzen zu lassen, schliesslich,
dass es vollkommen überflüssig ist, Beweise zuzulassen, die
mit der Sache gar nichts zu tun haben. Darauf antwortete der
Richter, er habe die Beweise zulassen müssen, da er sich in
der Sache überhaupt nicht auskenne / er bezeichnete dies mit
einem tschechischen Volksausdruck, der sich in deutscher Über
setzung nicht leicht wiedergeben lässt und etwa den Sinn hat,
„mir ist davon ganz wirr im Kopf“. / und sich doch über die
Voraussetzungen für diesen Prozess ein Bild machen müsse.


Leider handelt es sich um eine prozess
leitende Verfügung, gegen die es kein Rechtsmittel gibt, sodass
ich gegen diese Verschleppung ganz machtlos bin und eigent
lich auch keine Möglichkeit habe, durchzusetzen, dass der dem
Gegner gestellten Frist Präclusivfolgen zuerkannt werden.


Ich bin überzeugt davon, dass Dr. Schwelb
auch nach einem halben Jahr die Uebersetzungen nicht vorlegen
wird, ohne dadurch die prozessuale Stellung seines Mandanten
zu gefährden. Der einzige Ausweg wäre der, wenn man sich mit
dem Gegner dahin einigen könnte, dass der Beweis, der durch
die Schriften des Herrn Kraus geführt werden soll, durch einen
Sachverständigen erbracht wird, welcher die Aufgabe hätte,
dem Gerichte in leicht verständlicher Form den Inhalt der als
Beweis beantragten Schriften darzustellen.


Aus diesem Berichte werden Sie, sehr geehrter
Herr Doktor, ersehen, dass alle Anstrengungen, den Prozess
auf die Erörterung der allein relevanten Umstände einzuschrän
ken, vergeblich sind. Die Richter lassen sich einfach nicht
davon abbringen, dass sie, um in diesem Prozesse richtig ur
teilen zu können, darüber orientiert sein müssen, was HerrKraus früher publiziert hat und ob dies tatsächlich im Wider
spruche mit dem Inhalte der letzten FACKEL ist. Dass dieser
Widerspruch vom ‚Sozialdemokrat‘ selbst als nicht bestehend be
zeichnet wurde und dass das Nichtvorhandensein dieses Wider
spruches durch die Einvernahme der Herren Heinrich Fischer
und Dr. Emil Franzel, sowie durch den im „Sozialdemokrat“erschienenen Artikel vom 28.IV.1934 bewiesen werden kann,
können sie absolut nicht begreifen.


Es tut mir ausserordentlich leid, dass ich
Herrn Kraus über den Verlauf dieser Verhandlung keinen er
freulicheren Bericht erstatten kann.


Indem ich Sie bitte, ihm meine besten Empfeh
lungen zu bestellen, zeichne ich mit den besten Grüssen an Sie,


Ihr ergebener: Dr. Turnovsky


P.S.


Ich habe mich wegen des Emigrantenartikels an Herrn Dr. OskarSimon in Karlsbad gewendet, habe jedoch auf meinen Brief über
haupt keine Antwort erhalten.


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