Der Aufruf, 1.9.1934Zu diesem Karl KrausKarl Kraus’ Abschied? [1.11.1933]Die Fackel schweltDie FackelDer Aufruf


Uebersetzung


Anklageschrift.


Der Privatankläger Karl Kraus, Eigentümer
und Herausgeber der Zeitschrift „Die Fackel“ in Wien klagt:
1./ Ing. Egon Butschowitz, wohnhaft in Prag-Pankrac
/ Generalien siehe Konstitut des Angeklagten /
2./JUDr. Friedrich Bill, Advokat in Prag–II, Krakovská ul.
/ Generalien siehe Konstitut des Angeklagten /
dass diese und zwar der Angeklagte ad 1./ als Autor, der
Angeklagte ad 2./ als verantwortlicher Redakteur der in Prag
erscheinenden Zeitschrift „AUFRUF“ in der am 1. September1934 erschienenen Nummer 22 bis 23 dieser Zeitschrift einen
Die Fackel schwelt“ betitelten mit dem Pseudonym LucienVerneau gezeichneten Artikel veröffentlicht haben, in welchem
über den Privatankläger Tatsachen behauptet werden, welche
geeignet sind, ihn in der allgemeinen Meinung verächtlich
und lächerlich zu machen oder herabzusetzen, wobei klar ist,
dass die über den Privatankläger mitgeteilten Tatsachen un
wahr sind, was beiden Angeklagten bei der Verfassung, resp.
Veröffentlichung bekannt war und bekannt sein musste.


Es wird daher gegen den Beklagten ad 1./ die Anklage gemäss
§ 1 bis 3 des Gesetzes Nr. 108 ai 1933 und gegen den Beklagten ad 2./ die Anklage wegen der gleichen Delikte, sowie wegen
Uebertretung gemäss § 4 des Gesetzes vom 30.V.1924 Nr. 124der Gesetzesammlung im Wortlaute der Kundmachung des Justizministeriums vom 7.7.1933 Nr. 145 der Gesetzesammlun g erhoben
und die Bestrafung beider Angeklagten gemäss den eben zi
tierten gesetzlichen Bestimmungen beantragt.


Im Sinne des § 12 des Gesetzes Nr. 108 aus demJahre 1933 möge dem Privatankläger das Recht zuerkannt werden,
die verurteilende Erkenntnis mit den Urteilsgründen auf Kosten
der Verurteilten veröffentlichen zu lassen und diese sollen
im Sinne des § 34 des Gesetzes Nr. 108 aus dem 1933 zum Ersatze
der Kosten des Strafverfahrens, sowie der Rechtsvertretung
des Privatanklägers schuldig erkannt werden.


Die Hauptverhandlung soll vor dem Pressesenatdes Kreis-Strafgerichtes in Prag stattfinden / Zuständigkeit
nach dem Gesetze vom 28.VI.1933 Nr. 108 der Gesetzesammlung /.


Es wird der Antrag auf Verlesung der Strafanzeige vom 22.9.1934, des inkriminierten Artikels, sowie
der Konstitute der Angeklagten G.Z. Tk XIX 9179/34 gestellt.


Begründung:


In Nummer 22 bis 23 der in Prag erscheinenden Zeitschrift „AUFRUF“, deren Herausgeber und verantwortlicher Re
dakteur der zweitbeklagte JUDr. Friedrich Bill ist, wurde ein
vom erstbeklagten Ing. Egon Butschowitz verfasster, mit dem
Pseudonym Lucien Verneau gezeichneter, „Die Fackel schwelt
betitelter Artikel veröffentlicht, in welchem eine ganze Reihe
von schweren Beleidigungen gegen den Privatankläger enthalten ist.
Wiewohl der Artikel seinem ganzen Inhalte nach als beleidigend
angesehen werden muss, beschränkt sich die Anklage auf die
Verfolgung der in dieser Anklageschrift angeführten Stellen
und zwar:


1./ Die Verunglimpfung wäre noch schwerer, wenn man
ihr nicht mildernd anrechnen könnte, sie zeige deutlich para
noische Züge. Der Autor des inkriminierten Artikels führt
an, dass der gegen eine Reihe von Schriftstellern in der
Zeitschrift des Privatanklägers erhobene Vorwurf der Sensa
tionserwartung eine Verunglimpfung darstelle, die noch schwe
rer wäre, wenn
die Ausführungen des Privatanklägers , in denen
dieser Vorwurf erhoben wurde, nicht
deutlich paranoische
Züge aufwiesen und deshalb einer mildernden Beurteilung be
dürften.


Durch diese Behauptung soll der Privatankläger in den
Augen des Lesers herabgesetzt und lächerlich gemacht werden
und es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Behauptung,
die Publikationen des Privatanklägers zeigten deutliche
Züge von Paranoia, das ist Verblödung, den Privatankläger in den Augen der Leser lächerlich machen kann und
herabsetzen muss.


2./ Man Gewiss, man „kann aber auch ein Lump sein“, wenn man jeman
den in Gefahr bringt, man kann sogar ein Lump sein, wenn
man jemanden in eine Gefahr bringt und gleichzeitig aus
einer anderen herauszieht, man kann aber auch ein Lump
sein, wenn man jemanden vor einer kleineren Gefahr be
wahrt und in einer grösseren drinlässt, bloss deshalb,
weil man an der kleineren mitbeteiligt wäre, und gleich
zeitig behauptet, man täte es nur seinetwillen. Er hat
zwar noch niemals gelogen und es damit bewiesen, dass er
den befürchteten Vorwurf auf andere abgewälzt hat; des
wegen ist er aber noch immer nicht der einzige Mensch
auf der Welt, der sich vom „Verlag der Fackel“ nicht
blöd machen lässt.


Diese Stelle des inkriminierten Artikels soll eine
Erwiderung auf einen Passus, der in der Zeitschrift desPrivatanklägers und von diesem verfassten Publikation
sein, in welcher der Privatankläger auf den gegen ihn
in der „antifaszistischen“ Presse erhobenen Vorwurf,
er habe die Polemik gegen das Hitlerregime unterlassen,
ausführt, dass er es für strafwürdig halte, im gegen
wärtigen Zeitpunkte Publikationen herauszugeben, die
über die deutsche Grenze geschmuggelt, Proletarierleben
in Gefahr bringen können.


Der inkriminierte Artikel will nun durch den oben
angeführten Satz beim Leser den Eindruck erwecken, der
Privatankläger unterlasse die Polemik gegen das Hitler
regime nur deshalb, weil er an der Gefahr, die diese
Polemik für die in Deutschland Lebenden mit sich bringt,
beteiligt, durch sie also mitgefährdet wäre, sei also er behaupte
jedoch, die Polemik nur deshalb unterlassen zu haben und
zu unterlassen, um die Gefährdung der anderen zu vermeiden . , sei
also ein Lump. Denn seine Diese Behauptung sei nur eine Vorwand Ausrede . Er begegne dem
Vorwurf der Lüge, indem er ihn auf andere abwälze und
versuche in seinen Schriften alle anderen Menschen blöd
zu machen, was ihm allerdings beim Autor des inkriminierten Artikels nicht gelungen sei.


Diese inkriminierte Stelle enthält demnach den
Vorwurf der heuchlerischen und feigen Gesinnung, der Lumperei, und die
Behauptung, der Privatankläger trachte, wenn auch mit
negativem Erfolge, der Welt etwas vorzutäuschen, sie blöd
zu machen. Wiederum eine Behauptung, die die Absicht ver
folgt, und geeignet ist, den Privatankläger lächerlich zu
machen, in der allgemeinen Meinung herabzusetzen.


3./ Wie könnte sich das Phänomen, das nach 1000
Jahren der einzig überlebende Eckstein der Literaturge
schichte sein wird, das auf 300 Seiten in knappster Form
auszudrücken versteht, was das Geschmeiss der Literaten
in ein paar Zeilen weitschweifig behandelt, / ein Pfauenrad,
das nur das erstemal schön war, herablassen zu tun was
andere tun, Schulter an Schulter mit überhaupt jemandem
zu stehen, wie könnte der unvergleichliche Sprachbildner
/ der er ja nun wirklich ist / es mit seiner Würde vereinbaren
etwas anderes zu tun, als seine Anhänger zu verblüffen, als
einen erstmaligen unerwarteten Standpunkt zu beziehen, selbst
dann, wenn es kein anderer sein kann als ein falscher?
Aber das mag er halten wie er will. Vom Begräbnis unserer
Hoffnungen zurückgekehrt, geht uns das wirklich einen Dreck an.


Hier wird auf die Tatsache hingewiesen, dass sich
der Privatankläger mit der „antifaszistischen“ Journalistik
nicht zum Kampfe gegen Hitler und Starhemberg zusammengeschlos
sen habe, wodurch der Autor des inkriminierten Artikels und
seine Gesinnungsgenossen enttäuscht worden seien. Dabei wird
jedoch behauptet, der Privatkläger lehne es nur deswegen ab,
den von ihm selbst als gerecht und notwendig erkannten Kampf
gegen Hitler und Starhemberg zu führen, weil er in massloser
Selbstüberschätzung zu eitel sei, um das zu tun, was andere
tun, weil er seine Anhänger durch seinen originellen Stand
punkt verblüffen wolle selbst dann, wenn er selbst wohl wisse,
dass sein Standpunkt falsch sei. Es wird ihm also lächerliche
Selbstüberschätzung und Eitelkeit, sowie Verrat an der eigenen
Gesinnung aus Originalitätsucht zum Vorwurfe gemacht, Eigen
schaften, die in der allgemeinen Meinung verächtlich erscheinen
müssen. Der Autor des inkriminierten Artikels musste wissen
und hat auch gewusst, dass die von ihm in diesem Zusammenhänge
aufgestellten Behauptungen unrichtig sind, umsomehr als im
Hefte Nr. 890 bis 905 der Zeitschrift „Die Fackel“ die Gründe,
aus welchen die Unterlassung d er ie Polemik gegen Hitler erfolgen eine Zeit lang
musste unterlassen wurde , eingehend dargestellt sind. Schon im Heft 889 Oktober 1933 hat sich der PA ausdrücklich zu dieser Unterlassung bekannt.


4./ Der Aufruf , der nur „um den Graben geht“, hat
durch „lukrative“ Umschlagtitel immer noch nicht genug verdient,
um grosse Sprünge machen zu können, zum Beispiel um durch lan
ges Nichterscheinen und Akkumulierung der Spannung Aufmerksam
keit zu multiplizieren.


In dieser Stelle soll zum Ausdrucke gebracht
werden, dass der Eigentümer und Herausgeber der Zeitschrift
AUFRUF“, das ist der Beklagte, Dr. Friedrich Bill, es sich
nicht leisten könne, gleich dem Privatankläger durch langes
Nichterscheinen und Akkumulierung der Spannung Aufmerksamkeit
zu multiplizieren und den einen materiellen Erfolg zu erzielen,
weil er trotz seinen – wie er zugibt – lukrativen Umschlag
titeln, die ihm in der FACKEL zum Vorwurfe gemacht werden,
immer noch nicht genug verdient hat, um grosse Sprünge machen
zu können. In diesem Passus wird vom Privatankläger behauptet,
dass ihm daran gelegen sei, durch längeres Nichterscheinen
seiner Zeitschrift „Die Fackel“ bei seinen Lesern eine
erhöhte Spannung und Neugierde hervorzurufen, wodurch dann
der Absatz der Zeitschrift erhöht wird. Da der Autor in
dem inkriminierten Artikel wiederholt und mit Nachdruck die
Notwendigkeit des Kampfes gegen das in Deutschland und Oester
reich herrschende Regime betont und darauf hinweist, dass
die Zeitschrift des Zweitbeklagten nicht in der Lage ist,
ebenso, wie es der Privatankläger tut, durch längeres Nicht
erscheinen und die dadurch bei den Lesern hervorgerufene
Spannung einen erhöhten Absatz zu erzielen, muss durch diese
inkriminierte Stelle der Eindruck hervorgerufen werden, der
Privatankläger unterlasse die Polemik aus niedrigen, das ist
gewinnsüchtigen Motiven und verrate um des Gewinnes wegen
die eigene Gesinnung und die Sache der Menschlichkeit.
Dies sind Behauptungen, deren Unwahrheit beide Angeklagten
kannten und kennen mussten und die geeignet sind, das Ansehen
des Privatanklägers herabzusetzen, diesen verächtlich zu
machen.


5./ … hätte er die Verbesserung der Fehler mit
wenig Aufwand erreichen können. Statt dessen hat er – nach
Bankierart – hinter sich einen Gerichtsvollzieher und einen
Advokaten, vor sich ein auf formaljuristische Wehrfähigkeit
und Bankkonto abgeschätztes Angriffsobjekt, mutwillig mit
der tschechoslovakischen Exekutivgewalt gedroht …
Ausserdem geniesst er den unfairen Vorteil, dass die Rezipro
zität der Rechtsbeziehungen zwischen Tschechoslovakei und
Oesterreich für uns nicht besteht, da wir es noch immer nicht
vermögen, dem Amtskollegen des Standrichters, der dem verwun
deten Münichreiter an den Galgen lieferte, unsere Sachen zur
Entscheidung vorzulegen, und vermöchten wirs, den Prozess wahr
scheinlich verlören, weil der Herausgeber der FACKEL ja mitt
lerweile für einen glühenden Feyanhänger gehalten wird und
damit an jener, immerhin ins Bräunliche hinüberspielenden,
schwarzgelben Sicherheit partizipiert, die er, als er noch
Beschützer der Bedrängten war, ausser Acht gelassen hat.


Diese Stelle hat folgenden Sinn: Im November
1933 war in der Zeitschrift „AUFRUF“ ein Artikel veröf
fentlicht, dem ohne Einwilligung des Privatanklägers ein
in der Zeitschrift „Die Fackel“ erschienenes Gedicht voran
gesetzt war. Wegen dieses Eingriffes in die Autorrechte des
Privatanklägers und wegen der fehlerhaften Zitierung des
Gedichtes hat dieser in berechtigter Wahrung seiner Interes
sen durch Vermittlung seines Anwaltes eine im „AUFRUF
zu veröffentlichende und später auch – allerdings nicht in der vereinbar ungs
widrig
ten Weise – veröffentlichte Erklärung verlangt. Auf die dringende
Bitte des Angeklagten, Dr. Bill hat der Privatankläger dann
von einer gerichtlichen Verfolgung und von der Bezahlung
eines Sühnebetrages zu Gunsten der von F.X. Šalda organisierten
Emigrantenhilfe abgesehen. In diesem Zusammenhange wird dem
Privatkläger zum Vorwurfe gemacht, er habe nach Bankierart,
also offenbar mit den rücksichtslosen Methoden des Kapitalisten,
mutwillig mit der tschechoslovakischen Exekutivgewalt gedroht,
um eine Leistung zu erzielen, die sonst nicht erfolgt wäre um sein Recht durchzusetzen .
Er habe dies getan in dem Bewusstein, dass sein Angriffsobjekt,
das ist der AUFRUF ihn in Oesterreich nicht belangen könne,
da er mittlerweile für einen glühenden Feyanhänger gehalten
werde, wodurch er der Protektion der österreichischen Behör
den teilhaftig geworden sei und weshalb gegen ihn in Oester
reich nicht eingeschritten werden könne. In diesem Bewusstsein
habe er, hinter sich einen Gerichtsvollzieher und einen
Advokaten, mutwillig, das heisst grundlos, drohen können,
weil er sich unter dem Schutze der österreichischen Behör
den sicher fühle, den er, solange er noch Beschützer der
Bedrängten war /heute sei er es nicht mehr/, nicht in An
spruch genommen hätte. Dies ist ein Vorwurf niedriger
Gesinnung, der geeignet ist, den Privatankläger nicht
nur lächerlich zu machen, sondern in der allgemeinen Mei
nung herabzusetzen, wobei der dieser inkriminierten Stelle
vom Autor zugrundegelegte Tatbestand wissentlich falsch
angeführt ist. Es ist absurd Der PA weiß ganz gut, daß von einer „gl Taya“ nicht die Rede sein kann und daß selbst eine solche ihm vor einem österr. Gang keinen Schutz gegen eine Berichtigung Gewähr bin. NBNB von uns darauf hingewiesen wurde, dass


6./ … aber für die endgültige Beibe
haltung eines Zustandes zu sein, der immer wieder nur
Qualen, Wildheit, Unterdrückung produzieren kann, ist kei
nem Ehrbaren gestattet.


In diesem Zusammenhange wird vom Privatkläger ausgesagt, er tue das, was kein Ehrbarer tun dürfe,
wodurch der Vorwurf ehrloser Gesinnung gegen den Privatkläger erhoben wird.


7./ Für einen, der einen gesicherten Fenster
platz im Café Imperial zu verlieren hat, ist der Unter
schied zwischen Hitler und Starhemberg enorm. Für 30 Milli
onen Proleten in Deutschland und Oesterreich aber ist der
Unterschied zwischen Konzentrationslager und ihrem Lungerer
dasein, ihrem feuchten Schlafplatz, ihrer Freiheit des
Verhungerndürfens weit unbeträchtlicher. [¿¿¿¿¿] … Das
Hüben und Drüben ist im Jahre der Schmach 1934 unerbitt
licher als je, auch wenn er es nicht wahr haben will und
wenn er, vom Glanz der siegreichen Christenkanonen mürbe
gemacht, glaubt, uns links liegen lassen zu können, um
sich rechts in die Büsche zu schlagen, so ist dies ein
doppelter Irrtum.


Diese Sätze enthalten folgende Behauptung:
Der Privatankläger hat nichts zu verlieren, als fürchtet einen gesicherten Fenster-
platz im Café Imperial zu verlieren und daraus erkläre sich seine geistige Haltung. / Das Café IMPERIAL ist eines der
elegantesten luxuriösen Wiener-Ringstraßen Kaffeehäuser und es soll gesagt sein,
dass sich der Privatankläger in besonders günstigen Ver
hältnissen befindet, die es ihm ermöglichen, einen Fen
sterplatz im Café Imperial einzunehmen, aus welchem er
den gesicherten Platz, den er dort selbst einnehme – natürlich nur ein Symbol für sein Wohlleben – zu verlieren fürchte, nämlich von vort vertrieben werden könnte
[¿¿¿¿¿]
– und dies ist das einzige Risiko, da er zu befürchten hätte ,
vertrieben werden könnte. Deswegen.
Dies die Anschauung eines Literaten, der noch heute zum Schluss des von Beleidigungen strotzenden Artikels seinen Respekt vor einer 35jährigen geistigen Tätigkeit zu bekunden sucht, womit er sich allerdings sichtlich nur einen sentimentalen Abgang verschaffen will. Aus dem imputierten erbärmlichen Beweggrund materiellster Art schein t e ihm dem P.A. der Unter
schied zwischen Hitler, unter dessen Herrschaft er für
diesen Fensterplatz Befürchtungen hegen müsste, und Starhemberg, durch den der gesicherte Fensterplatz nicht ge
fährdet ist sei , enorm. Der Privatkläger erkenn t e nicht, dass
für 30 Millionen Proletarier, die im grössten Elend leben,
der Unterschied zwischen dem Leben in Konzentrationslagern,
das ihnen durch Hitler droht, und ihrem Elendsdasein,
welches sie auch unter dem gegenwärtigen österreichischen
Regime zu führen verurteilt seien, weit geringer sei.
Der Privatkläger beg i e b t e sich, vom Glanze der siegreichen
Christenkanonen „mürbe gemacht“, in Sicherheit und unter
den Schutz des österreichischen Regimes ohne Rücksicht
darauf, was mit den anderen geschieht, für die er, nur um
seiner Sicherheit nicht verlustig zu werden, sein Wort
nicht zu erheben vermag. wage.


Dies ist wohl die schwerste Beleidigung, die
in dem inkriminierten Artikel erhoben wurde und durch die
der Privatankläger bezichtigt wird, aus egoistischen Motiven,
aus Opportunismus und Feigheit gegen das österreichische
Regime nicht zu schreiben und dadurch die Sache der Be
drückten zu verraten und zu gefährden. Zu dieser niedrigen Auffassung passt auch die höhnische Frage, ob denn der P.A. Besser wieviel Geld die Helleropfer „von ihm bisher bekommen haben“. In Wahrheit mehr, als die Redaktion des Aufruf sich geweigert hat, als Sühne für eben diesen Zweck zu bezahlen.


Der Angeklagte, Ing. Egon Butschowitz, welcher
zugesteht, den Artikel geschrieben und der Redaktion zur
Veröffentlichung übergeben zu haben, verteidigt sich damit,
dass der grösste Teil der vom Privatkläger als beleidigend
empfundenen Ausdrucke „ein blosses Zitat“ der von diesem
in seinen Artikeln verwendeten Ausdrücke darstellt. Er
habe die Ehre des Privatanklägers und seiner Person nicht
angreifen wollen und der inkriminierte Artikel sei nur
eine „Antwort auf gewisse Sätze aus der FACKEL“, die er
näher bezeichnen werde. Der zweite Angeklagte, Dr. FriedrichBill, gibt zu seiner Verteidigung an, er habe den inkriminierten Artikel weder gelesen, noch geschrieben, noch in
Druck gegeben, werde aber den Wahrheitsbeweis durchführen.


Die Rechtfertigung der beiden Angeklagten
kann natürlich selbstverständlich nicht standhalten. Insofern in dem inkriminierten Artikel Ausdrücke des Privatanklägers aus dessen Zeitschrift
DIE FACKEL „zitiert“ werden, sind diese natürlich nicht unter Anklage
gestellt. Unter Anklage stehen die Beleidigungen, welche
vom Autor des inkriminierten Artikels gegen den Privatankläger erhoben wurden und zwar in dem Bewusstsein, dass
die vom Privatankläger behaupteten Tatsachen unwahr sind.
Diese Behauptungen begründen den strafbaren Tatbestand der
§§ 1 bis 3 des Gesetzes über den Schutz der Ehre.


Die Verteidigung des Angeklagten, Dr. Bill,
kann diesen gleichfalls nicht exkulpieren, da es einfach unwahr ist, dass
er den Artikel vor der Veröffentlichung nicht gelesen hat,
zumal er nicht nur der verantwortliche Redakteur, sondern
auch der Chefredakteur und Herausgeber der Zeitschrift
AUFRUF ist, wo in der gleichen Nummer auf S 583 eine, wenngleich anonyme, beleidigende Notiz unter dem Titel „Zu diesem Karl Kraus“ veröffentlicht ist, worin ihm gleichfalls die ihm eigentümliche „Oppositionssucht“ u. zwar für einen von dem berühmten Führer der Sozialdemokratie Wilhelm Liebknecht 1899 veröffentlichten Artikel zum Vorwurf gemacht wird und gleichfalls behauptet wird, daß er heute auf Seite des Fey stehe. Er ist daher nicht nur gemäss §§ 1 bis 3 des
Gesetzes über den Schutz der Ehre, sondern auch gemäss § 4des Gesetzes vom 30.5.1924 Nr. 1924 der Gesetzesammlung
im Wortlaute der Kundmachung des Justizministeriums vom7.VII.1933 Nr. 145 der Gesetzesammlung für den inkriminierten Artikel voll verantwortlich, sodass die Anklage gegen
beide Angeklagten mit vollem Recht erhoben wurde.


Prag, am 29.XI.1934. Karl Kraus.


Karl Kraus ca: Ing. Egon Butschowitz Dr. Bill / AUFRUF /


Uebersetzung


der Begleiteingabe zur Anklageschrift.


In der Strafsache des Privatklägers KarlKraus, Eigentümers und Herausgebers der Zeitschrift
Die Fackel“ in Wien, gegen Ing. Egon Butschowitz und Dr.
Friedrich Bill wegen des Vergehens gemäss § 1 bis 3 des Ge
setzes vom 26.6.1933 Nr. 108 der Gesetzesammlung, resp. § 4der Pressgesetznovelle in der Fassung der Kundmachung desJustizministeriums vom 7.7.1933 Nr. 145 der Gesetzesammlung
überreicht der Privatkläger in der ihm mit Beschluss dieses
Gerichtes vom 21.XI.1934 G.Z. Tk XIX 9179/34-10 auferlegten
Frist die Anklageschrift.


Bei dieser Gelegenheit gestattet sich der
Privatkläger einen Irrtum zu berichtigen, der seinem Anwalte
bei der Verfassung der Strafanzeige unterlaufen ist und
durch die wirre Stilisierung des inkriminierten Artikels hervor
gerufen
verschuldet wurde. Dieser Irrtum betrifft die ad 1 und 4 der
Strafanzeige angeführten inkriminierten Stellen. Es wird
hiermit ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Wort „Verunglimpfung“
weder als Beleidigung empfunden, noch unter Anklage gestellt
wird, sondern dass lediglich jener Passus der ersten inkrimi
nierten Stelle unter den Tatbestand des Vergehens gegen die
Ehre fällt, in welcher ausgesagt wird, die Verunglimpfung,
die in dem Vorwurfe der Sensationserwartung erblickt wird,
zeige deutlich paranoische Züge. Die ad 4 angeführte in
kriminierte Stelle wurde in der Strafanzeige vom Anwaltedes Privatklägers offenbar missverständlich interpretiert
und soll jedenfalls folgenden Sinn haben: In dieser Stelle
soll ausgesagt werden, dass die Zeitschrift „AUFRUF“ es sich
nicht leisten könne gleich dem Privatankläger durch langes
Nichterscheinen und Akkumulierung der Spannung Aufmerksam
keit zu multiplizieren und den materiellen Erfolg zu er
zielen, weil der „AUFRUF“ trotz seinen lukrativen Um
schlagtiteln, die vom Autor des inkriminierten Artikels
zugegeben werden und derentwegen ihm in der Zeitschriftdes Privatanklägers ein Vorwurf gemacht wird, immer noch
nicht genug verdient hat, um grosse Sprünge zu machen.
Trotzdem bleibt diese Stelle des inkriminierten Artikels,
ebenso wie die ad 1 angeführte, inkriminierbar, doch war
es notwendig zwecks Klarstellung des Sachverhaltes und
des strafbaren Tatbestandes auf diese dem Anwalte desPrivatklägers bei der Verfassung der Strafanzeige unter
laufenen Irrt u ü mer ausdrücklich hinzuweisen.


Prag, am 29.XI.1934.
Karl Kraus.