Die Legende vom weltverkommenen SonkaDie Fackel


Abschrift.


KRAUS ODER DIE KUNST DER GESINNUNG


Nur mit äußerstem Widerwillen, aus Notwehr, befasse
ich mich mit einer Angelegenheit, die ich am liebsten den In
teneressierten oder hiezu Berufenen überlassen hätte; nichts ist
mir gleichgültiger als die Materie, die zu behandeln mir aufge
zwungen wurde. Deshalb bin ich den Freunden und Feinden,
den Kennern und Bekennern um Karl Kraus, Wien, dankbar,
die mir die Arbeit insofern erleichtert haben, als sie mir,
dem Unwissenden, direkt oder indirekt Material aus einer mir
fremden Sphäre zusammengetragen haben. Nach dieser Ein
leitung erkläre ich:


Kraus, der im Sommer 1919 in einem verleumderischen
Flugblatt meinen Namen fälschte, hat mich seither wiederholt
in der „Fackel“ in seine Revolverwelt von Verdrehungen,
Gerüchten und Anspielungen einbezogen. So mag Kraus,
dessen Witze seit mehr als 20 Jahren Krämerseelen kitzeln
und ergötzen, sich nicht wundern, wenn ich ihn einen feigen
Lügner nenne.


Kraus weiß, daß ich weißgardistische Gerechtigkeit, so
wohl seine als auch jede andere, verabscheue; Kraus weiß,
daß ich weder einen Anonymus erfand, noch einem mutigen
Anonymus meinen Dank für seine papierene Tat aussprach;
Kraus weiß, daß ich, vor dem Krieg als Anarchist, nach dem
Krieg als Kommunist, und erst recht im Krieg als politisch
verdächtiger Infanterist verfolgt, unter Lebensgefahr den
Kampf gegen den Mordstaat und seine blutigen Helfer in der
Kaserne, auf der Straße und im Gefängnis führte.


Ich gab Kraus Gelegenheit, sich zu dem Unrecht seiner
Fälschungen zu bekennen. Er zog es vor, weiterzulügen.


Dieser Ichweißetwas ist sich seiner Mitschuld am Krieg
in dem ihm entsprechenden Wirkungskreis bewußt. Doch er
schweigt darüber, daß er in der Zeit vor Kriegsausbruch tätig
war als ein Lobpreiser und ostentativer Verherrlicher des
Militarismus, des Adels, der Autokratie.


Im Krieg hat Kraus durch mancherlei rückendeckende Be
ziehungen zu prononzierten Vertretern der Macht wie auch
durch die Kunst seiner geschickt lavierenden Gesin
nung die Gefahr von seiner Person abzuleiten gewußt, irgend
wie für seinen Hintertürl-Pazifismus einstehen zu müssen.
Ich stand, mit Arbeitern und Soldaten, von Bajonetten um
geben, er saß, seinen Lobkowitzen ergeben, unter Aristokra
ten, Lakaien und Machthabern.


Das gespielte Pathos seiner Kriegsgegnerschaft hat an
den Geschehnissen ebensowenig geändert wie sein anderes
buntes Taschenspiel, das er bei seinem Nächsten verurteilt. Daß
diesem Künstler während des Krieges der Paß nach Italien
und in die Schweiz ohne Kontumaz wie einem Vertrauten der
Regierung gewährt wurde – an dieser k.k. Tatsache kann
selbst seine Lyrik, die er der Wohltätigkeit widmet, nichts
ändern.


Kraus, der meine Dichtung: „Die Legende vom weltverkommenenen Sonka“ – mit Verleumdungen umspinnt, kann mir
nicht verzeihen, daß ein Kritiker, der sich mir später als
Freund vorstellte, und dem ich Vertrauen schenkte, einen be
geisterten Aufsatz über mich schrieb. Leider verriet mich
der Mensch an den Kritiker, der als Sekretär des Kraus und
als bezahlter Lektor des „Verlages der Schriften von KarlKraus“ einen ganzen Waschzettelroman über einen seiner
Brotgeber geschrieben. Die ironische Gegenüberstellung der
Äußerungen dieses Satirikers und jenes Kritikers über mich
auf der Umschlagseite zweier Hefte der Zeitschrift des GenossenschaftsverlagsDer neue Daimon“ riefen bei dem
Helden dieses Kritikerromans, Kraus, groteske Ausfälle
hervor.


Damit nun Kraus nicht auch weiterhin für tausend Ver
dächtigungen unbelohnt bleibe, bin ich gezwungen, diesen ge
werbsmäßigen Wortegaukler, den sophistischen Verführer
einer ungewarnten Jugend durch einfache Konstatierungen
zu demaskieren.


Mag Kraus weiterhin die „Neue Freie Presse“ unter den
geistreichen Pseudonymen „Crepe de Chine“ oder „Ingenieur
Berdach“ mit seiner Mitarbeit beehren, mag Kraus, der sich
als Aftermieter Maximilian Hardens und Moriz Benedikts ein
führte, seine „Sehnsucht nach aristokratischem Umgang“ bei
Austerlitz oder wo immer befriedigen, mag mich seine Gefolg
schaft verhöhnen, wenn ich bekenne, daß der Stimmen
imitator Kraus als schwarzgelbrote Nummer des allzu ge
duldigen Varietés Wien Anerkennung verdient.


Ein Denkzettel aber gebührt dem Kriegsgegner KarlKraus, dem im November 1913 gelegentlich einer im k.u.k.
Kriegshafen Pola abgehaltenen Vorlesung „der Militär
haß der Demokratie die Überlegenheit des
Mißwachses über die Männlichkeit bedeutet“,
nur weil ihm, dem Unbestechlichen, ein von Marineoffizieren
gefüllter Saal, „eine Hoffnung auf Staat und
Menschheit“, wie jeder Soubrette zujubelt.


Ein Denkzettel gebührt einem „Schauspieler der Ethik“,
der in der letzten vor dem Krieg erschienenen „Fackel“ vom
10. Juli 1914 „ politisch nicht einmal bei der
französischen Revolution angelangt“,
„einen Konservatismus von einer Blut
bereitschaft propagiert, gegen den
tausend Jahrgänge von tausend klerika
len Zeitungen die Sprache einer
Protestversammlung des Monistenbundes
zum Schutze reisender Kaufleute führen“.
In seiner Aversion gegen „eine freie Erde, die zum Himmel stinkt“,
„nur zufrieden in der Gewißheit, daß dem
auf den Glanz hergerichteten Menschheitspofel, der
allerorten zu sehen ist, der große
Ausverkauf bevorsteht“, sucht er „einen
König, der eine Bombe hätte für diesen
allzuklugen Untertan“.


Was aber gebührt einem Gesinnungskünstler, der am
5. Dezember 1914 das Kriegsmanifest Franz Josephs folgendermaßen
begrüßt: „… über jenem erhabenen Mani
fest, das die tatenvolle Zeit einge
leitet, dem einzigen Gedicht, das sie
bis nun hervorgebracht hat, über dem
menschlichsten Anschlag, den die
Straße unserem Auge widerfahren
lassen konnte …“


Ihm gebührt, „daß die Republik, die Bluts
verwandtschaft erkennend, mit den
hinterbliebenen Parasiten der Kaiser
zeit, wie mit den Mitessern der
Revolution ein Ende mache“.


Ihm gebührt ein Dankbrief des demokratischen Präsiden
ten Seitz und ein „Nachruf“ durch die Wiener „Arbeiter-Zeitung“.


Ich aber habe für weitere Auseinandersetzungen mit dem
Gespenst Kraus erst dann Zeit, bis es den Mut und die Fähig
keit aufbringt, einen unverdrehten deutschen Satz vor Zeugen
zu sprechen oder öffentlich drucken zu lassen.


Jetzt kann er mich zitieren.


Wien , im März 1920.


Hugo Sonnenschein