Die Stunde, 30.10.1925Die StundePester LloydDie Stunde, 31.10.1925Karl Kraus, der Kämpfer [31.10.1925]Karl Kraus, der Kämpfer [30.10.1925]


U I 224/36
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Im Namen der Republik!


Das Strafbezirksgericht I in Wien als Pressegericht hat heute in Gegenwart
des Privatanklagevertreters Dr. Oskar Samek
des Angeklagten Dr. Fritz Kaufmann
über die Anklage verhandelt, die der Privat
ankläger Karl Kraus gegen
Dr. Fritz Kaufmann
30 Jahre, verh., verantw. Schriftleiter
der Zeitung „Die Stunde
wegen der Übertretung nach § 30 Pressgesetz erhoben hatte,
und über den vom Anklagevertreter gestellten Antrag auf Bestrafung des Beschuldigten
und Verpflichtung desselben zur Veröffentlichung des Urteiles in den Zei
tungen „Die Stunde“ und „Pester Lloyd“ und Erkenntnis auf Verfall der
Nummer 794 und 795 der „Stunde“ vom 30. und 31. Oktober 1925
zu Recht erkannt: Dr. Fritz Kaufmann ist schuldig, er habe als
verantwortlicher Schriftleiter der in Wien erscheinenden Zeitung „DieStunde“ bei der Aufnahme der Aufsätze mit der Ueberschrift „KarlKraus, der Kämpfer“ in den Nummern 794 und 795 der genannten Zeitung
vom 30. und 31. Oktober 1925, deren Inhalt das Vergehen gegen die Sicher
heit der Ehre nach § 488 STG. begründen, jene Aufmerksamkeit vernach
lässigt, bei deren pflichtgemässer Anwendung die Aufnahme des strafbaren
Inhaltes unterblieben wäre.


Er hat hiedurch die Uebertretung nach § 30 Pressgesetz begangen.
Mit Rücksicht auf die hg. Urteile U I 286/25 vom 27. April 1926 und U I 244/26
vom 28. Oktober 1926 wird unter Bedachtnahme auf § 265 STPO. von der Ver-
hängung einer Strafe Umgang genommen.


Dr. Fritz Kaufmann wird ferner gemäss § 43 Abs. 1 Pressgesetz
verpflichtet, dieses Urteil in der ersten oder zweitnächsten nach
Rechtskraft des Urteiles erscheinenden Nummer der Zeitung „DieStundee“ in der im § 23 Pressgesetz vorgeschriebenen Weise zu
veröffentlichen, widrigenfalls diese Zeitung nicht mehr erscheinen
dürfte.


Weiters wird der Beschuldigte gemäss § 43 Pressgesetz 2 Absatz
verpflichtet, dieses Urteil binnen 14 Tagen nach Rechtskraft in der
Zeitung „Pester-Lloyd“ zu veröffentlichen.


Gemäss § 41 Pressgesetz wird der Verfall der Nummern 794 und 795der „Stunde“ vom 30. und 31. Oktober 1925 ausgesprochen.


Gemäss § 389 STPO. hat der Beschuldigte die Kosten des Straf
verfahrens zu tragen.


Entscheidungsgründe:


Erwiesen ist durch die Angaben des Beschuldigten und das Impressum,
dass Dr. Fritz Kaufmann der verantwortliche Schriftleiter der
Nummern 794 und 795 der in Wien erscheinenden Zeitung „DieStunde“ vom 30. und 31. Oktober 1925 war, in denen unter
der Ueberschrift „Karl Kraus, der Kämpfer“ Aufsätze erschienen
sind, in denen gegen die Person des Privatanklägers Karl Kraus
ehrenrührige Vorwürfe erhoben werden.


So wird in dem Artikel in der Nummer 794 der „Stunde“ zu
nächst die Behauptung aufgestellt, der Budapester Rechtsanwalt
Dr. Miksa Rosenberg habe unter Hinweis auf eine Voll
macht des Wiener Schriftstellers Karl Kraus im Evidenzbüro des
Budapester Strafgerichtes die Ausfolgung von Akten begehrt und hiebei
geäussert, er müsse die Akten haben „kost’s was kost’s“ –.


Aus dem folgenden Inhalt des inkriminierten Artikels, insbesonders
der Stelle „Diese Meldung … beweist nicht nur, welchen Grad
von Zuverlässigkeit Herr Kraus den von ihm selbst so sieges
sicher reproduzierten Aktenziffern beimißt, sondern auch, wie die
Kampfmethoden dieses Ethikers überhaupt beschaffen sind“ geht
hervor, dass die Person des Privatanklägers Karl Kraus mit
dem früher geschilderten Vorgehen des Rechtsanwaltes Dr. Rosenberg in eine derart innige Beziehung gebracht wird, die, wenn
nicht auf eine Anregung, zumindest auf die Billigung des Vorgehens
des Dr. Rosenberg durch den Privatankläger hinweist.


Der Artikel in Nummer 795 wiederholt im Wesentlichen die gleichen
Beschuldigungen gegen den Privatankläger.


Der Inhalt der erwähnten Artikel begründet daher objektiv das Ver
gehen der Ehrenbeleidigung nach § 488 STG., da dem Privatankläger
zumindest der Vorwurf einer unehrenhaften, unkorrekten Handlungs
weise gemacht wird, begangen durch die Behauptung, Karl Kraus
habe auf unrechtsmässige Weise versucht, sich in den Besitz von Akten
betreffend Emmerich Bekessy zu setzen.


Mit Rücksicht auf die Verantwortung des Beschuldigten, dass er
die beiden inkriminierten Artikel nicht verfasst und vor der Druck
legung nicht gelesen habe, konnte der Beschuldigte lediglich
wegen Uebertretung der Vernachlässigung der pflichtgemässen
Obsorge nach § 30 Pressgesetz belangt werden. Der Beschuldigte
hat hinsichtlich der erwähnten Beschuldigungen den Wahrheitsbeweis
angetreten.


Der Wahrheitsbeweis ist nicht erbracht worden; er ist vielmehr vollkommen
misslungen; denn es ist dem Beschuldigten nicht gelungen dem
Gerichte den Nachweis zu erbringen, dass auf Veranlassung des KarlKraus, der Versuch unternommen wurde, Akten betreffend die
Person des damaligen Herausgebers der „Stunde“, EmmerichBekessy, zu erhalten. Der Beschuldigte hat sich zum Be
weise der Richtigkeit seiner Behauptung auf den Budapester Rechts
anwalt Dr. Miksa Rosenberg, dessen Substituten Dr. EmmerichFalus und dem Budapester Berichterstatter der „Stunde“,
Geza Békeffy berufen, welche sämtlich über die vom Beschuldigten behaupteten Umstände einvernommen wurden. Was zunächst
den Zeugen Dr. Rosenberg anbelangt, bezüglich dessen
in dem inkriminierten Artikel vom 30. Oktober 1925 behauptet
wurde, dass er es gewesen sei, der im Evidenzbüro des Budapester Strafgerichtes die Ausfolgung der Akten gegen EmmerichBekessy unter Hinweis auf eine Vollmacht des Privatanklägers verlangt habe, so hat dieser Zeuge unter Eid angegeben,
dass er zu der in Betracht kommenden Zeit überhaupt nicht in
Budapest, sondern in Wien war, dass er in der betreffenden Ange
legenheit nicht intervenierte, von niemanden hiezu eine Vollmacht be
sass und mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun hatte.
Sein Substitut, Dr. Emmerich Falus habe, wie der Zeuge über
telephonischen Aufruf seiner Kanzlei erfuhr, über Ersuchen
eines Freundes unter Entsprechung der Anwaltsvorschriften vollkommen
selbstständig ohne seine (des Zeugen) Kenntnis interveniert. –
Der hierauf gleichfalls unter Eid vernommene Zeuge
Falus hat zugegeben, bezüglich der gegen Emmerich Bekessy
anhängigen Strafsachen interveniert zu haben, doch sei dies geschehen
über Ersuchen des Geza Békeffy, des Budapester Berichter
statters der „Stunde“, also jenes Blattes, dessen verant
wortlicher Schriftleiter der Beschuldigte ist.


Der Zeuge Falus hat weiters angegeben, Békeffy habe
ihn ersucht, Art und Stadium der gegen Bekessy anhängigen
Strafsachen festzustellen. Davon, dass er von Karl Kraus
irgendwie beauftragt war, derartige Erhebungen anzustellen, hat der
Zeuge kein Wort gesagt. Die Angaben dieses Zeugen werden auch
durch den Brief, den Dr. Rosenberg an den Privatanklagevertreter sandte und dessen Abschrift (unter O.Z. 12) dem Akte
beiliegt, bekräftigt, in dem Dr. Rosenberg diesem mit
teilt, dass seitens seiner Partei, das ist des Privatanklägers
Karl Kraus, keinerlei Interventionen stattfand, wohl aber
im Interesse der Gegenpartei. Keiner der genannten Zeugen hat
angegeben, dass Karl Kraus versucht hat, sich auf irgendeine
Weise in den Besitz von Akten betreffend Emmerich Bekessy
zu setzen.


Zeuge Geza Békeffy hat bei der heutigen Vehandlung
angegeben, einer seiner Kollegen, den er bereits seit Jahren kenne,
habe ihm seinerzeit telephonisch mitgeteilt, dass er zugegen war,
wie Dr. Emmerich Falus im Evidenzbüro des Budapester Strafgerichtes eine Liste mit Aktenzahlen vorwies und sagte, er brauche
diese Akten für Karl Kraus „koste es was es wolle“.


Ganz abgesehen von den Widersprüchen zwischen dieser heutigen
Aussage und der, die der Zeuge Békeffy vor dem königlichen
Strafgericht in Budapest ablegte sowie dem Widerspruch zu der
Aussage des Zeugen Falus, sind die beiden Aussagen des
Békeffy dem Gerichte nicht von Bedeutung. Der Zeuge
weigert sich den Namen seines Gewährmannes, der bei dem Vorfall
im Evidenzbüro des königlichen Strafgerichtes zugegen gewesen
sein will, dem Gerichte bekanntzugeben. Ohne diese Bekanntgabe
erscheint aber die Richtigkeit der Angaben des Zeugen nicht über
prüfbar, welche Ueberprüfung mit Rücksicht auf die zahlreichen
bei der heutigen Verhandlung dem Zeugen vorgehaltenen und von
ihm keineswegs glaubhaft aufgeklärten Widersprüchen unbedingt
notwendig wäre. Durch die heutige Aussage Békeffy’s
wäre daher nicht einmal ein Wahrscheinlichkeitsbeweis als er
bracht anzusehen. Im vorliegenden Falle hätte aber der volle
Wahrheitsbeweis erbracht werden [müssen], um den Beschuldigten frei
zusprechen. Es war somit wegen nicht erbrachten Wahrheitsbeweises
mit einem Schuldspruche vorzugehen. Mit Rücksicht auf die Bestimmung
des § 265 STPO., die durch § 5 Pressgesetz nicht aufgehoben wurde
(:Entscheidung des Obersten Gerichtshofes Os IV 114/23 vom 16.
April 1923:) konnte über den Beschuldigten, da derselbe mit hg.
Urteilen U I 286/25 vom 27. April 1926 und U I 244/26 vom 28.
Oktober 1926 wegen § 30 Pressgesetz zu 80.– S und zu 30.– S ver
urteilt wurde, mithin die nach § 30 Pressgesetz zur Zeit der Ver-
übung dieses Deliktes zulässige Höchststrafe von 90.– S schon überschritt
ten ist, keine weitere Strafe verhängt werden.


Gemäss § 43 Abs. 1 Pressgesetz war über Antrag des Privatanklägers
der Beschuldigte zur Veröffentlichung des Urteiles in der Zeitung
Die Stunde“ zu verpflichten. Da der Privatanklagevertreter glaubhaft gemacht hat, dass der Privatankläger mit Rücksicht
darauf, dass er in Budapest als Schriftsteller sehr bekannt ist
und in dieser Stadt ebenfalls viel über die gegenständliche Affaire
gesprochen wurde, berechtigten Grund hat, dass das Urteil auch in
der in Budapest erscheinenden Zeitung „Pester Lloyd
veröffentlicht werde, wurde gemäss § 43 Abs. 2 Pressgesetz die
Veröffentlichung des Urteiles auch in dieser Zeitung verfügt.
Gemäss § 41 Pressgesetz war über Antrag des Privatanklagevertreters
der Verfall der Nummern 794 und 795 der „Stunde“ vom
30. und 31. Oktober 1925 auszusprechen.


Der Ausspruch über die Kosten ist im § 389 STPO. begründet.


Wien, am 2. Dezember 1926
Dr. Christoph Höflmayr
Kahlert


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