Die StundeDem Kiebitz ist nichts zu teuer oder Karl Kraus denunziert schon wieder die Sozialdemokraten


An die
Staatsanwaltschaft beim Landesgericht für Strafsachen IWien.


Karl Kraus,
Schriftsteller in Wien III., Hintere Zollamtsstr. 3
durch:


1 fach


erstattet Strafanzeige gegen Karl Tschuppik zum vorüber
gehenden Aufenthalt in Wien, Hotel Bristol, Neues Haus I., Kärntnerring 1/7, wegen des Verdachtes des Verbrechens der falschen Zeu
genaussage nach § 199a St.G.


Am 9. Dezember 1925 erschien in
der „Stunde“, datiert vom 10. Dezember 1925, Seite 6, ohne meine
Einwilligung der Abdruck eines von mir im Jahre 1900 anWilhelm Liebknecht gerichteten Briefes. Ich habe durch meinen
Anwalt Dr. Oskar Samek beim Strafbezirksgericht I um Einleitung
von Vorerhebungen gegen den verantwortlichen Redakteur Dr. MarkSiegelberg und gegen weitere unbekannte Täter wegen
Uebertretung des § 45 Absatz 4 Urh.Ges. ersucht. Es wurden in
diesem Vorverfahren zur G.Z. U XII 71/26 siebzehn bei der „Stunde
beschäftigte Reakteure einvernommen, die sämtliche ausgesagt
haben, dass sie den Verfasser und Veröffentlicher des Artikels
mit dem an Wilhelm Liebknecht gerichteten Brief nicht kennen,
so dass es also ein Redaktionsgeheimnis der „Stunde“ vor den
Redakteuren der „Stunde“ gegeben haben müsste. Lediglich Herr
Karl Tschuppik, von dem als Chefredakteur vor allem
zu vermuten war, dass es vor ihm ein solches Redaktionsgeheim
nis nicht gegeben haben könnte, zumal nicht bei einem so auf
sehenerregenden Artikel, für dessen Urheberschaft er sich
wenigstens nachträglich interessiert haben dürfte, lediglich
Herr Tschuppik liess sich dazu herbei, als eine Art
Sachverständiger über den Stil seiner Redakteure, der Version
Ausdruck zu geben, dass Herr Ernst Ely der Verfasser dieses
Artikels sein könnte. Der Verdacht gegen Ely, der nun tatsäch
lich sowohl dem blumigen Stil nach, wie gemäss einer gewissen
Kenntnis der politischen Vorgänge jener Zeit in Betracht kommen
konnte, (für die kaum ein anderer Redakteur der „Stunde“ ausser
etwa Herr Tschuppik selbst tatsächlich in Betracht kommt,
weil die meisten damals im Jahre 1900 teils noch nicht geboren,
teils aus Ungarn noch nicht zugereist waren), dieser Verdacht
nun wurde hinreichend erhärtet durch die weitere Bekanntgabe einer
Zeugin, der Schriftstellerin Frau Gina Kaus, welcher Ely von
seinem Vorhaben, einen mich angeblich kompromittierenden Brief
an einen sozialistischen Führer zu veröffentlichen, Mitteilung
gemacht hat. Ich habe infolgedessen gegen Ely die Privatanklage wegen Verletzung des Urheberrechtes erhoben und bei der
am 25. März 1927 zur G.Z. U XII 1761/26 durchgeführten Haupt
verhandlung hat Ely trotz dieser Zeugenaussage und entgegen
den anderen Verdachtsgründen die Täterschaft geleugnet. Auf
den Vorhalt Aussage des Zeugen Tschuppik, dass der Artikel
dem Stil nach von ihm herrühren könnte, erwiderte der Be
schuldigte Ely, dass Tschuppik den Artikel nicht
genau gelesen haben und nur die Schlusspointe im Sinne gehabt
haben dürfte, er gebe zu, dass die Wendung die Merkmale seines
Stiles trage, diese Wendung komme aber bereits in einem früheren
Artikel von ihm vor. (Den er jedoch nicht beibrachte.) Offenbar
in dem Sinne, dass der Verfasser des Artikels sich diese wert
volle Pointe angeeignet habe. Diese Wendung lautet: „Allerdings
nur zu den einzigen Hof, den der Monarchismus dem neuen Oester
reich zurückgelassen hat; zu dem Stein-hof …“


Ueber den Antrag meines Vertreters
wurde Karl Tschuppik neuerdings einvernommen. Ursprüng
lich sollte diese Einvernahme in Berlin stattfinden, durch einen
Zufall wurde aber in Erfahrung gebracht, dass sich Tschuppik vorübergehend wieder in Wien aufhalte, und es wurde über
Antrag meines Vertreters die Einvernahme im Vorerhebungswege in
Wien durchgeführt. Für diese Einvernahme hat mein Vertreter die
wesentlichen Fragen, welche an den Zeugen zu richten waren for
muliert.


Diese Einvernahme ergab das überraschen
de Resultat, dass es auch vor dem Chefredakteur der „Stunde
ein Redaktionsgeheimnis gegeben haben müsste; denn Tschuppik erklärte, nicht angeben zu können, wer den Artikel verfasst
habe. Er erklärte jedoch weiters, er habe sich bei seiner An
vernahme am 13. Februar 1926 „dadurch verleiten lassen, zu
sagen, dass Ely der Verfasser des inkriminierten Artikels
sein könnte, weil das Wortspiel vom ‚Steinhof‘ und ‚Hof‘
auf Ely deutete, der solche Wortspiele öfter gebraucht.“ –
Es sei aber „sehr wohl möglich, dass dieses Wortspiel durch
einen Redaktionskollegen von Ely’s Artikeln entlehnt wurde.“


Dieses Vorbringen deckt sich in auffal
lender Weise vollständig mit der Verantwortung des Beschuldigten.
War es bei diesem schon auffallend, dass er d ieses as stilistische
Alibi parat hatte, so muss es umso absonderlicher erscheinen,
dass auch dem Zeugen, in einer Materie, die er nur ganz nebenbei
zu kennen behauptete, diese Nuance gegenwärtig war, besonders
bei dem Umstande, dass zumal da weder der Beschuldigte, noch der Zeuge
angeben konnte, in welchem früher erschienenen Artikel die
entlehnte Stelle zu finden sein sollte. Es besteht für mich kein
Zweifel, dass aus dieser Übereinstimmung einer Zeugenaussage
mit einer Beschuldigten-Verantwortung, besonders bei dem Umstande,
dass der Zeuge ein solches Stilkriterium keineswegs zur Stütze
seiner Angabe in Anspruch genommen hat, wie jetzt zur Entkräftung,
– dass also mehr als eine zufällige Uebereinstimmung vorlieg en t
dürfte, vielmehr ein Meinungsaustausch stattgefunden haben müsste muss .


Aber es ist nicht dieser Teil der Aus
sage allein, was diesen Verdacht rechtfertigt. Der Beschuldigte
Ely hatte den Versuch gemacht, sein Alibi auch in der Richtung
zu beweisen, dass er eine Mitarbeit in der sogenannten „Kampagne“
gegen mich in Abrede stellt, ja sich geradezu als denjenigen be
zeichnet, der sich gegen die Veröffentlichung von Briefen ausge
sprochen habe. Der Zeuge Tschuppik, der in der ersten Ein
vernahme auf Ely als den vermutlichen Täter hingewiesen hatte,
entwurzelte geradezu diese Behauptung seine Vermutung in der zweiten Einvernahme
durch die Aussage, Ely sei „in der Sache Kraus nicht
engagiert“ gewesen: „er habe eher gebremst“, gewisse
Veröffentlichungen habe er „sogar ausdrücklich missbilligt“.


Es ist auffallend, dass der Zeuge
Tschuppik, selbst wenn er sich für verpflichtet ge
halten hat, in der ersten Einvernahme als Stilsachverständi
ger Ely als Täter zu agnoszieren, nicht schon damals diese
Vermutung entkräftet hat durch die Versicherung: ein solcher
Verdacht wäre aber freilich aus dem Grunde hinfällig, weil Ely ja
in jener „Kampagne“ sogar „eher gebremst habe.“ Das Motiv
eines sachlichen Alibis für Ely, das mit dem Vorbringen
desselben durchaus konform ist, macht also offenbar den Ein
druck, nachträglich hinzu gekommen zu sein und zwar in Kennt
nis der Verantwortung des Beschuldigten Ely.


Jenseits dieser auffallenden Ueber
einstimmungen mit der Verteidigung, beziehungsweise der Wider
sprüche mit der ersten Zeugenaussage, scheint mir die zweite
aber auch an und für sich falsche Darstellungen durch Ver
schwiegen von Tatsachen zu enthalten, die dem Zeugen bewusst
sein mussten. Ist schon an und für sich das Vorbringen un
glaubhaft, dass ihm als Chefredakteur die Herkunft eines so
sensationellen und ausschliesslich zu Sensationszwecken (zur
Sprengung eines an dem gleichen Tage gehaltenen Vortrages vor
Arbeitern) veröffentlichten Artikels verborgen gewesen sei,
die man ihm geradezu kunstvoll hätte verheimlichen müssen, so
ist es umso unglaubhafter, dass er nicht wenigstens nachträg
lich, wie er ausdrücklich in Abrede stellt, mit anderen Re
daktionsmitgliedern über den inkriminierten Artikel gesprochen
hat. Dass der Zeuge an der Frage der Verfasserschaft interessiert
war, was doch wohl seine Stellung als Chefredakteur hinreichend
rechtfertigt, geht insbesondere auch aus dem Widerspruch in sei-
ner zweiten Aussage hervor, indem er zuerst dezidiert erklärte,
„er habe mit anderen Redaktionsmitgliedern nicht gesprochen“,
es sei ihm „auch kein Verfasser genannt“ worden, er habe „auch
nichts davon gehört, dass die Redakteure untereinander davon ge
sprochen hätten, wer der Verfasser wäre“, er könne „nicht angeben,
wer den Artikel verfasst habe“, um dann zum Schluss zu erklären, er
könne sich nicht mehr erinnern, „mit wem er über die Frage des
Verfassers des inkriminierten Artikels gesprochen habe, er glaube
aber bestimmt einmal mit jemandem darüber gesprochen zu haben,
glaube sich aber zu erinnern aber bestimmt sagen zu können , dass damals nicht davon gesprochen
wurde, dass Ely der Verfasser des Artikels sei.“


Daraus geht hervor, dass darüber ge
sprochen wurde, wer als Verfasser des Artikels in Betracht komme,
dass also der Zeuge doch nicht so ganz nebenbei von der Angele
genheit erfahren hat und dass offenbar noch Ely als Verfasser
in Betracht gezogen wurde, weil sich der Zeuge ja sonst erinnern
müsste, wer ausserdem in Betracht gezogen wurde und er dann bei
seiner ersten Einvernahme neben der Verdächtigung Ely’s noch
einen anderen Anhaltspunkt für die Täterschaft hätte haben geben müssen.
Somit hätte er zumindest diesen anderen Anhaltspunkt verschwiegen.


Ebenso unglaubwürdig ist des Weiteren
das Vorbringen, er könne sich nicht mehr erinnern, wer mit ihm
über den Zusammenhang des Karl Adler mit dem veröffentlichten
Brief gesprochen habe.


Alle diese Momente scheinen mir den
Verdacht zu rechtfertigen, dass hier offenbar eine falsche Zeugen
aussage vorliegt, sei es durch Behauptungen, sei es durch Ver
schweigungen. Bekräftigt wird dieser Verdacht noch durch den Um
stand, dass Tschuppik sich schon einmal einer falschen
Zeugenaussage verdächtig gemacht hat, derentwegen ein Verfahren
gegen ihn eingeleitet wurde.


Den Mut zu diesem Verhalten scheint
er mir aus dem Umstande zu schöpfen, dass er, wie mir bekanntge
geben wurde, im Begriffe ist, eine Weltreise anzutreten, weshalb
es auch angebracht wäre, die Einvernahme des Verdächtigen sofort
durchzuführen.


Zur Charakterisierung des Milieus, in
welchem dem diese Zeugenaussage sich abspielt, möchte ich noch darauf
hinweisen, dass die Abwälzung der Verantwortung durch die Ange
stellten der „Stunde“ eine bereits notorische Tatsache ist, dass
in jedem der zahlreichen Verfahren gegen Redakteure der „Stunde
kein einziger Täter eruiert werden konnte, weil auch in allen
Fällen, in denen nach dem Gesetze eine Zeugenpflicht bestand, keiner
der Redakteure von dem Vorfall Sachverhalt etwas gewusst haben will.


Ich bringe daher diesen Vorfall wegen
Verdachtes der falschen Zeugenaussage des Herrn Karl Tschuppik zur Anzeige und schliesse mich dem Verfahren als Privatbe
teiligter an.


Karl Kraus.


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