als Anwalt des
Privatanklägers Karl Kraus,
Schriftsteller in
Wien III., Hintere Zollamtsstrasse 3.
1 fach
Bittet
um Einleitung einer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung
des Gesetzes.
Ich habe den Schriftsteller
Karl Kraus
in folgenden Angelegenheiten
vertreten:
In der Nr. 827 des 3. Jahrganges der „Stunde“ vom
10.
September 1925, Seite
5 und 6 erschien ein Artikel unter
dem Titel „Dem Kiebitz ist nichts zu teuer oderKarl Kraus denunziert
schon wieder die Sozialdemokraten“.
In diesem Artikel war ein Brief des Karl Kraus vom
10. Juni 1900 an Herrn Wilhelm Liebknecht vollinhaltlich
abgedruckt. Hiedurch war die
Uebertretung des § 45 Abs. 4des
Urh.Ges. begangen worden. Ich habe deshalb in rechts
freundlicher
Vertretung des Herrn Karl Kraus am 19.
Jänner 1926 um Einleitung
von Vorerhebungen gegen Dr.
Max Siegelberg, dem verantwortlichen
Redakteur der
„Stunde“ und weitere unbekannte Täter
gebeten. Dr. MaxSiegelberg wurde
wegen dieser Uebertretung verurteilt.
Später kam meinem Klienten zur
Kenntnis, dass der Artikel
mit dem veröffentlichten Briefe von Herrn Ernst Ely,
Redakteur der „Stunde“ herrühre. Ich habe deshalb im
Auftrage des Herrn Karl Kraus am
16. November 1926 die
Privatanklage
innerhalb der subjektiven Verjährungs
frist angebracht.
Die Vorerhebungen und das Verfahren
gegen Dr. Max Siegelberg wurde zur G.Z. U XII 71/26,
dass Verfahren gegen Ernst Ely zur
G.Z. U XII 1761/26
beim Strafbezirksgerichte I durchgeführt. In dem
letze
ren
Verfahren fand eine Hauptverhandlung statt, die
zur Durchführung von
Zeugenbeweisen vertagt werden musste.
Vor Anberaumung der nächsten
Hauptverhandlung fasste
das
Strafbezirksgericht I in Wien am 4.
Juli 1927 den Beschluss, dass das Verfahren gegen Ernst Ely gemäss §46 St.P.O.
(§ 531 St.G.) eingestellt werde, mit der
Begründung, dass der Strafantrag am 16. November 1926
gestellt wurde und die erste
Verfolgungshandlung gegen
den Beschuldigten am 4. Dezember
1926 geschah. Durch
die Strafgesetznovelle 1926 B.G.Bl. 192 betrage seit
Inkrafttreten der Novelle
die Verjährungsfrist nicht
mehr, wie zur Zeit der Tat, ein Jahr, sondern nur mehr
sechs Monate, es sei daher
Verjährung der bezüglichen
Straftat eingetreten.
Die entscheidende
Rechtsfrage ist, ob die
Bestimmungen der oben erwähnten Strafgesetznovelle ausdem Jahre 1926 auch hinsichtlich der Verjährungsfrist
auf vor dem 1./9.1926, dem
Tage an dem die Strafgesetz
novelle 1926 in Kraft trat, begangenen Handlungen zurück
wirkt. Das Gericht erster Instanz bejahte dies aus
fol
genden
Erwägungen:
„Wenngleich im Art. IX der zitierten Strafgesetznovelle nur den im Art. I enthaltenen Bestimmungen
ausdrücklich
rückwirkende Kraft zugesprochen wird, so
kann doch nicht etwa
arg. a contr. die rückwirkende
Bestimmung der Novelle
dann verneint werden, wenn diese
Rückwirkung sich aus anderen Gesetzesbestimmungen ergibt.
Dies trifft aber hier
zu. Gemäss Art. IX Kundmachungspatentzum St.G. ist
eine allgemeine Rückwirkung strafgesetz
licher
Bestimmungen auf vorher begangene Handlungen
dann ausser Frage, wenn
die neuen Bestimmungen den Täter
günstiger
stellen.“
Der gegen diesen Beschluss eingebrachten Beschwerde
wurde vom Straflandesgerichte I mit Beschluss vom 31./8.1927 G.Z. Bl XV 495/27 keine Folge gegeben und zwar im
Wesentlichen aus folgenden
Gründen:
„Strafgesetze wirken grundsätzlich zurück.
Nur, wenn das neue
Strafgesetz strenger wäre als dasjeni
ge, welches
zur Zeit der Tat in Geltung stand, oder,
wenn der Gesetzgeber
ausdrücklich eine Ausnahme fest-
stellt, findet eine Rückwirkung nicht statt. Die Regel,
dass das nicht strengere
neue Strafgesetz zurück wirkt,
gilt auch für den
Bereich der Strafgesetznovelle vomJahre 1926,
soweit sie nicht in Art. IX eine Ausnahme
festsetzt. Diese
Ausnahme bezieht sich aber nur auf
die Wertgrenzen bei
solchen strafbaren Handlungen, die
nicht eine Summe Geldes
ö.W. zum Gegenstande hatten.
Es ist also nicht
richtig, dass Art. IX St.G.N. 1926
die Rückwirkung nur auf
Art. I der Strafgesetznovelle
anordnet, im Gegenteile,
Art. IX behandle jene Fälle,
in denen die Rückwirkung
des Art. I
nicht Platz greift,
auch wenn das neue
Gesetz milder wäre. Daraus kann aber
nicht der Schluss
abgeleitet werden, dass im übrigen
die Regel des Art. IX des KMP. zum StG. nicht Platz zu
greifen hätte. Wenn
daher die Strafgesetznovelle tat
sächlich eine
mildere Behandlung des Angeklagten, als
der frühere
Rechtszustand zur Folge hat, dann ist die
mildere
Strafgesetznovelle anzuwenden. Es ist richtig,
dass die auf die
Uebertretung des § 45 Z. 4 des Urh.Ges.
angedrohte Strafe nach
neuem Rechte höher ist, als die
nach früherem Rechte
bestimmte Strafe. Allein Art. IXKMP. zum
Str.G. spricht nicht von der strengeren Bestrafung,
sondern von der
strengeren Behandlung. Es muss also als
das mildere Gesetz
dasjenige angesehen werden, nach wel
chem der
Täter im Einzelfalle eine günstigere Behandlung
erfährt, die Auswirkung
auf den konkreten Fall ist zu
prüfen. Wenn jemand nach
dem älteren Gesetze auch nur
zu höchstens 300 S
verurteilt werden kann, nach neuem
Gesetz aber, mag dieses
auch eine Höchststrafe von
2.500 S aussprechen, freigesprochen werden muss, so ist
zweifellos die
Behandlung nach neuem Gesetze milder
und es muss daher dieses
angewendet werden.“ Ferner:
„Im
Strafrechte ist das neue Gesetz der Ausfluss einer
geläuterten
Rechtsanschauung und es wäre eine ungerecht
fertigte
Härte, den Beschuldigten zu bestrafen, obwohl
es dem im neuen Gesetze
zu Tage tretenden Rechtsempfin
den nicht
mehr entspricht.“
Die Entscheidung erster Instanz sagt
also,
dass Art. IX KMP. zum Strafgesetze eine allgemeine Rück
wirkung
strafgesetzlicher Bestimmungen auf vorher be
gangene
Handlungen ausser Frage ist, wenn die neuen
Bestimmungen den Täter
günstiger stellen. Die Entscheidung zweiter Instanz geht sogar
so weit, zu behaupten,
dass
Strafgesetze grundsätzlich zurückwirken. Wenn dies
der Fall wäre, dann wären
Uebergangs- und Rückwirkungs
bestimmungen überhaupt überflüssig, es sei denn, dass
eine Ausnahme von der Regel
festgestellt wird. Das
dem
aber nicht so ist, geht aus folgenden Gesetzesstellen
hervor:
Art. II des Gesetzes vom 9. April 1910 Nr. 73 R.G.Bl.
nimmt die
Rückwirkungsbestimmungen auf und zwar in
der Form, dass das Gesetz
auf strafbare Handlungen, die
vor dem Beginn seiner Wirksamkeit begangen wurden, inso
weit Anwendung
findet, als der Schuldige nach den früher
bestandenen
Gesetzesbestimmungen einer strengeren Be
handlung
unterliegen würde. Ebenso Art. III des Gesetzesvom 5. Dezember 1918 St.G.Bl. Nr. 92 (St.G.N. vom Jahre 1918) ;
ebenso Art. V des B.G. vom 15. Dezember 1920 B.G.Bl. 5 vomJahre 1921 (III. St.G.N.
vom Jahre 1920) ; ebenso Art. Vdes B.G. vom 20.
Dezember 1921 B.G.Bl. 745 (St.G.N. vomJahre 1921).
Besonders interessant und für die Beurtei
lung der
Rechtsfrage wichtig sind:
Das B.G. vom 6. Dezember 1922 B.G.Bl. 881
(II. St.G.N. vom Jahre 1922)
und das B.G. vom 17. Juli 1923B.G.Bl. 418, womit die II. St.G.N. vom Jahre 1922 ergänzt
wird. Die II. St.G.N. hatte keine Uebergangsbestimmung
und sah die Rückwirkung der
Novelle auf frühere straf
bare Handlungen nicht ausdrücklich vor. Dagegen im Wider
spruch damit eine
Bestimmung, dass, wenn der Verurteilte
im wieder aufgenommenen
Verfahren bloss deshalb zu
einer geringeren Strafe verurteilt werde, weil an Stelle
des im ersten Urteile
angewendeten Strafgesetzes eine
mildere Bestimmung dieses
Gesetzes getreten ist, der
Verurteilte auf Entschädigung keinen Anspruch habe,
weil die
Rückwirkungsbestimmung fehlte, sah sich die
Gesetzgebung veranlasst, als
zweiten Absatz desArtikels VI der II. St.G.N. vom Jahre 1922 die Rückwirkungs
bestimmung
ausdrücklich aufzunehmen und ein Ergänzungs
gesetz zu
erlassen. Der § 48 des B.G. vom 7. April 1922B.G.Bl. 218 über
die Presse bestimmt, dass auf strafbare
Handlungen die vor seinem
Geltungsbeginn begangen worden
sind, dieses Gesetz nur dann anzuwenden ist, wenn das
frühere Recht für den
Beschuldigten nicht günstiger ist.
§ 6 des Gesetzes vom 25. Mai 1883 R.G.Bl. 78 über straf
rechtliche
Bestimmungen gegen Vereitelungen von Zwangs
vollstreckungen
bestimmt, dass sie auf solche Handlungen,
welche vor der Wirksamkeit
dieses Gesetzes vorgenommen
wurden nur insoweit Anwendung finden, als dieselben nach
den bisherigen Gesetzen
einer strengeren Bestrafung un
terliegen würden. Der § 28 des B.G. vom 9. März 1921B.G.Bl. 253 über
die Bestrafung der Preistreiberei, des
Schleichhandels und anderer
ausbeuterischer oder die
Versorgung der Bevölkerung gefährdender Handlungen
(Preistreibereigesetz
bestimmt, dass die §§ 1 bis 22 auf
vorher begangene strafbare
Handlungen nur insoweit An
wendung finden, als der Betroffene darnach keiner strenge
ren Behandlung
unterliegt, als nach den bisher geltenden
Bestimmungen.)
§ 18 Abs. 2 des Gesetzes vom 25. Oktober 1901 R.G.Bl.Nr. 26 ex 1902
betreffend den Verkehr mit Butter, Käse,
Butterschmalz,
Schweineschmalz und deren Ersatzmittel
bestimmt, dass die
Strafbestimmungen der §§ 9, 10 und 11des G. vom 16.
Jänner 1896 R.G.Bl. Nr. 89 ex 1897 betreffend
den Verkehr mit Lebensmittel
und einigen Gebrauchsgegen
ständen auf Handlungen, die unter die Strafbestimmungen
der §§ 15 bis 17 des
Margarinegesetzes fallen, nur dann
anzuwenden sind, wenn diese
Handlungen vor der Wirksam
keit des gegenwärtigen Gesetzes begangen wurden.
Andere
Rückwirkungsbestimmungen sind in den
Strafgesetzen nicht
enthalten. Man sieht daraus, dass
der Gesetzgeber es trotz Art. IX KMP, zum St.G. für not
wendig befunden
hat, in den meisten Fällen gleichwärtige
Rückwirkungsbestimmungen zu
treffen, die er gewiss nicht
getroffen hätte, wenn er der Ansicht gewesen wäre, dass
Strafgesetze grundsätzlich
zurückwirken oder auch nur,
dass die Rückwirkung dann ausser Frage stehe, wenn die
neuen Bestimmungen den Täter
günstiger stellen. Die
von
mir absichtlich zitierte Bestimmung des Margarine
gesetzes, die
scheinbar eine andere Ansicht voraussetzt,
regelt in Wirklichkeit nur
die Abgrenzung zwischen Lebens
mittelgesetz und Margarinegesetz für zukünftige Fälle,
denn es ist
selbstverständlich, dass die strengeren Be
stimmungen des
Margarinegesetzes nicht auf strafbare
Handlungen Anwendung finden
können, die zur Zeit der
Begehung unter die milderen Bestimmungen des Lebensmit
telgesetzes
gefallen sind und es soll mit diesen Be
stimmungen nur
ausgedrückt werden, dass das Lebensmittel
gesetz auf
diejenigen Gegenstände nicht angewendet wer
den könne, die
durch das Sondergesetz über Margarine
geregelt wurden, woferne
nicht eine Regelung im Margarine
gesetz
unterblieben ist, worauf dann subsidiär wieder
das Lebensmittelgesetz
anzuwenden wäre. Man muss also
aus allen strafgesetzlichen
Bestimmungen zu dem Schlusse
kommen, dass Strafgesetze auch dann nicht zurückwirken,
wenn sie den Täter günstiger
stellen, woferne der Ge
setzgeber dies nicht ausdrücklich sagt.