Die Stunde


An das
Polizeikommissariat Alsergrund,Wien,


Privatankläger: Karl Kraus, Schriftsteller in Wien
III. Hintere Zollamtsstrasse 3,
durch:


Beschuldigter: Dr. Hans Liebstöckl, Redakteur
in Wien IX. Hahngasse 24,


Wegen Ehrenkränkung.


1 fach,
1 Beilage,
1 Vollmacht,


Strafantrag:


Ich habe mich in mehreren Aufsätzen mit dem
Treiben der „Stunde“ beschäftigt. In einem dieser Aufsätze
unter dem Titel ‚Entlarvt durch Bekessy ‘, erschienen im
Juli 1925 in der Nummer 691–696 des 27. Jahres der Zeitschrift ‚Die Fackel‘ Seite 112, sah ich mich genötigt,
einen Ausspruch des Beschuldigten zu zitieren, dass „‚DieStunde‘ ja das reine Banditenblatt geworden sei“. Daraufhin
sendete mir der Beschuldigte am 20. Juli 1925 verschlossen
den in Abschrift beiliegenden Brief. Auf das Verlangen,
sich zum öffentlichen Charakter dieses Schreibens zu be
kennen und dadurch die Möglichkeit einer gerichtlichen
Feststellung der in Streit stehenden Behauptungen, ob der
Beschuldigte die zitierte Aeusserung getan hat oder nicht,
zu ermöglichen, hat der Beschuldigte geantwortet, dass er
den Brief selbst geschrieben habe und dass dieser keine
Mitwisser habe, sodass der Tatbestand einer gerichtlich zu
bestrafenden Ehrenbeleidigung nicht vorliegt.


Wohl aber liegt der Tatbestand einer polizeilich
zu bestrafenden Ehrenkränkung vor. In diesem Briefe wirft
mir der Beschuldigte vor, dass ich durch meine „leichtfertige
und ihn herabsetzende Behauptung“ in ihm und bei seinen
Freunden Unmut geweckt habe. Es ist klar, dass der Beschuldigte
mit Recht darüber unmutig sein könnte, wenn ich ihm einen
derartigen Ausspruch in den Mund gelegt hätte, den er niemals
gemacht hat. Ich bin aber durch Zeugen zu erweisen in der
Lage, dass der Beschuldigte die von ihm geleugneten Worte
tatsächlich gebraucht hat. Umso unerhörter und schwerer ist
daher die durch den Beschuldigten mir zugefügte Beleidigung,
dass ich seine Aeusserung „leichtfertig“ behauptet habe.
Es ist gewiss, dass die Behauptung der Leichtfertigkeit
einem Schriftsteller gegenüber speziell in einem Presse
kampf, in welchem die genaueste Prüfung sämtlicher Tat
sachen sittliche Pflicht ist, zumindestens den Vorwurf
einer unehrenhaften Handlung be hauptet deutet , ja man könnte sogar
soweit gehen, darin den Vorwurf einer strafbaren Handlung
zu erblicken, da die Unwahrheit der Aeusserungen des Be
schuldigten vorausgesetzt, darin in meiner Behauptung mit Un R echt eine Ehren
beleidigung des Beschuldigten erblickt werden könnte.


Ich fühle mich daher durch den vom Beschuldigten mir gegenüber gemachten Vorwurf der Leicht
fertigkeit in meiner Ehre gekränkt und beantrage gegen
den Beschuldigten eine Tagsatzung anzuberaumen und ihn
strengstens zu bestrafen.


Karl Kraus.


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