Sehr geehrter Herr Justizrat!
Verzeihen Sie, wenn ich mich
wieder in einer Herrn
Karl Kraus
betreffenden Angelegenheit an Sie um eine Rechts
auskunft wende.
In der Morgenausgabe des „Berliner Tageblatt“ vom
Dienstag den 21. Dezember
1926, 55. Jahrgang, Numero 600, hat
Alfred Kerr
einen Artikel unter dem Titel „Zur
Jessner-Hetze“
veröffentlicht, in dessen Absatz III. folgende Worte vorkommen:
„Manche hier verändern die
Tatsachen mit Männerbrust
Ad
libitum, drauflos. (Wie, auf anderem Feld, Karlchen Kraus
in Wien, der kleine mieße Verleumder mit moraligem Kitschton –
der einer heiteren Belichtung
nicht entgehen wird.)“
Herr Karl Kraus hat
nun in Erwägung gezogen, wegen
dieser Worte gegen Herrn Alfred Kerr Strafantrag wegen Beleidi
gung zu stellen. Nach meinem
Dafürhalten dürfte aber dabei nicht
ausser Acht gelassen werden,
dass Herr Kerr
selbst wegen gewisser
formeller Beleidigungen in den Aufsätzen des Herrn Kraus „EinFriedmensch“,
veröffentlicht in der Oktobernummer der Fackel und
„Kerr in
Wien“, veröffentlicht in der Dezembernummer der Fackel,
nach § 198
St.G. die Widerklage erheben könnte.
Ich bitte Sie nun, mir
mitzuteilen, wie die Auffassung
der Gerichte bezüglich des
§ 198 St.G. ist, ob wechselseitige
Beleidigungen schon dann
angenommen werden, wenn nur die Personen
der Beleidiger und
Beleidigten identisch sind oder ob erfor
derlich ist, dass diese
Beleidigungen in einem gewissen Zu
sammenhange stehen. Dies
wäre nach meinem Dafürhalten deshalb
von wesentlicher Bedeutung,
weil dann Herr Kerr eventuell nicht
auf den Oktoberartikel zurückgreifen kann. Ferner bitte ich Sie
um die Mitteilung, wie die
Gerichte sich in dem Fall einer Wider
klage verhalten, wenn der
Kläger, wie Herr Kraus, nicht in
Deutschland lebt und daher die Ladung zur
Verhandlung ihm per
sönlich nicht zugestellt werden kann, ob sie dann die Verhand
lung über die Klage zu Ende
führen und ein Urteil fällen und
die Verhandlung über die
Widerklage bis zur Betretung des Wider
geklagten aussetzen, oder ob
sie auf Vereinigung der beiden An
gelegenheiten bestehen und
mit der Urteilsfällung zuwarten, bis
eben die Verhandlung auch
über die Widerklage möglich ist.
Ihrer geschätzten
Rückantwort entgegensehend
zeichne ich mit vorzüglicher kollegialer
Hochachtung