Lieber Herr Doktor Samek!
Endlich bin ich so weit,
Ihnen eine Darstellung des
Prozesses Tappert-Kempner (Kerr) geben zu können. Die Prozess
Akten in Moabit konnten nicht mehr eingesehen werden, da sie
bereits längst kassiert
sind; ich vermochte dort lediglich eine
Registereintragung
aufzutreiben, aus der hervorgeht, daß die
erste Verhandlung am 21.
Juni 1897 stattgefunden hat und
daß das Verfahren später
eingestellt wurde. Die Vorgeschichte
ist folgende: Kerr hatte in einem Aufsatz
in der FrankfurterZeitung ganz
allgemein auf die Bestechlichkeit der Berliner
Musikkritik hingewiesen.
Darauf erfolgte ein Kollektiv-Protest
von 23 Berliner
Musikkritikern, unter denen aber Lackowitz
und Tappert fehlten. Hierauf
lokalisierte Kerr seine Beschuldi
gung auf diese beiden. Tappert antwortete im „Kleinen Journal“
indem er Kerr
Lüge und Verläumdung vorwarf. Sodann
verklagten Lackowitz und Tappert,
jeder einzeln, Kerr. Die
beiden Verfahren wurden vereinigt, und die erste Verhandlung
fand am 21. Juni 1897 statt,
wobei Tappert diese Klage auf
Veranlassung von Leipziger, dem Herausgeber des Kl.J. einge
bracht hatte. Der genauere
Bericht dieser Verhandlung liegt
unter 1 bei. Sie werden
daraus ersehen, daß Tappert doch
nicht so ganz, wie Sie mir
schrieben, „die Leistung von
Schülerinnen, denen er
Gesangsunterricht erteilt hatte,
besprach“,
sondern daß er ganz fremden Künstlern, die
in Berlin auftreten
wollten, noch kurz vor dem Konzert eine
oder mehrere Stunden gab,
und deren Leistungen dann nach
dem Konzert als Kritiker besprach. Andrerseits geht aus
der ersten Verhandlung auch
hervor, daß er als weltfremder
und armer Mann in gutem Glauben gehandelt hatte, und
sich jedenfalls in seinen
Kritiken nicht beeinflussen ließ,
was der Justizrath Kleinholz, Tapperts Verteidiger, auch
gebührend hervorhob. Dem Berichte nach, muß die allgemeine
Stimmung dieser ersten
Verhandlung doch eine für
Tappert im Ganzen günstige gewesen sein, weshalb
auch
der Angeklagte und
Widerkläger Kerr auf weitere Zeugen
einvernahmen
bestand. Der Prozess wurde vertagt.
Ein paar Tage darauf – Tappert fungierte weiter
als Musikkritiker im Kl.J. – erschien dort der Brief
von Moritz Rosenthal 2 dessen wichtigsten Passus ich
hier beilege. Ein Brief, der offensichtlich Ausdruck
der
Stimmung unter den
Konzertkünstlern war, die nun wohl
einsahen, was Tappert für sie bedeutete.
Kerr antwortete darauf am 26. Juni in einem
„Eingesendet“ im Berliner
Tageblatt, wo er Rosenthal
Feigheit vorwarf. Darauf
erfolgte eine Kollektiv-Antwort
der Redaktion des Kl.J. am 1. Juli, deren wichtigsten
Passus ich unter 3 beilege.
Die zweite Verhandlung fand
am 22. Dezember
1897 statt,
und sie war es, die Tappert zu Fall brachte.
Denn obwohl die
Zeugenaussagen nichts Wesentlich Neue
brachten, häuften sich die
festgestellten Fälle von
Geldannahme – allerdings immer nur für „Spesen“, Droschken
fahrten usw. – doch so sehr,
daß die Stimmung gegen
Tappert umschlug. Allerdings konnte auch hier in
keinem
Falle der
Tatbestand einer Bestechung im Sinne eines
Connexes zwischen Honorar
und Urteil festgestellt werden.
Zu diesem Umschwung mag auch
die schärfere Fassung
der
Sachverständigen-Urteile beigetragen haben, die jetzt
weniger von Tappert, als im allgemeinen von der Kritiker-Ehre
sprachen. So kam es, wie Sie
aus dem Bericht ersehen
werden, zu einem Vergleich, der darin bestand, daß die
Privatkläger ihre Klage
zurückzogen und die
Kosten
des Verfahrens übernahmen, Tappert dazu auch
noch die Kosten der
Widerklage; hierauf nahm Kempner
die Widerklage zurück, und
der Gerichtshof erkannte
auf
Einstellung des Verfahrens.
Tappert war erledigt. Leipziger wollte ihn entlassen,
doch nahm er ihn
schließlich, auf Bitten von Tappert und
der Redaktion wieder auf.
Diese wurde vor der Öffentlichkeit derart bewerkstelligt
daß Tappert ein Entlassungsgesuch einreichte, und die
Zeitung diesem nicht stattgab, sondern Herrn Tappert
mit einigen ernstlichen
Rügen wieder aufnahm. Sie
finden die Erklärung am Schlusse von 4.
Tappert ist dann noch kurze Zeit
Kritiker bei dem
Kl.J. gewesen, doch hatten ihn die Schmach
und die
Aufregung gebrochen;
er wurde sehr bald totkrank und
starb gleich darauf in
größter Armut. Es unterliegt keinem Zweifel, daß
gerade der Prozess Tappert im vollsten Sinne den Hals
gebrochen hat.
Die Nachricht über diesen
Epilog des Prozesses hole ich
von Norbert Falk ,
dessen Name ich unter den seinerzeitigen
Mitarbeitern des Kl.J. entdeckte. Er hat nach dem Motiv
meiner Recherche nicht gefragt, und ich habe darüber auch
nichts verlauten lassen.
Der Verteidiger von Lackowitz war ein Dr. Schwindt, jetzt
Amtsgerichtsrat im Kriminalgericht Moabit. Ich
habe ihn
telephonisch
gesprochen. Er besitzt weder Akten noch Notizen
über den Fall, und hat mir
aus dem Gedächtnis folgende
Einzelheiten erzählt, die mir allerdings – nach den
Konsequenzen, die die II.
Verhandlung mit sich brachte – nicht
ganz sicher zu sein
scheinen.
Dr. Schwindt erzählt (von der II. Verhandlung), daß Kerr
sich für diese Verhandlung
eigens den Dr. Bernstein aus
München habe
kommen lassen. Doch vermochte die
Einvernahme all der Sänger
und Sängerinnen nichts
wirklich Gravierendes zu ergeben, da diese – wie er
sagt –, „sich sichtlich drehten und wanden und aus ihnen
nichts herauszubekommen
war. “ Daher stand – nach
Schwindts Worten – die Sache für Kerr so wenig günstig,
daß, als nach der
Einvernahme Verteidiger Dr. Kleinholz
sich zum Plaidoyer erheben
wollte, ihm Bernstein, der
schon längst unruhig und
besorgt dreinsah, schnell in
die Rede fiel, und sagte, daß Kerr die
Beleidigung
zurücknehme.
Von einer „Abbitte“ Tapperts könne jedenfalls
keine Rede sein.
Offenbar nennt Kerr also den Brief von Tappert
(4 am
Schluß) eine öffentliche Abbitte, was offensichtlich
nicht stimmt.
Daß der Prozess Tappert um sein Brot gebracht
hat, wird wahrscheinlich –
nachprüfen läßt sich das
nicht – doch insofern stimmen, als es wahrscheinlich
mit all seinen
Nebenverdiensten, wie Correpetitionen usw.
zu Ende war, und er von dem
Wenigen leben mußte, was
ihm
die Zeitung gab.
Das ist alles, was ich über
diesen traurigen
Prozess in
Erfahrung bringen konnte.
Mit den besten Grüssen an
Sie und an
Herrn Kraus