Die FackelVorwärtsLiteratenstreit vor Gericht. Alfred Kerr und Karl Kraus.


Sehr geehrter Herr Justizrat!


Ich schreibe Ihnen erst heute, da es für mich
sehr schwer war, in dieser Sache zu einer Entscheidung zu gelangen.
Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass der vorläufige Ausgang des
Prozesses Herrn Kraus nicht befriedigt hat. Es scheint erst jetzt
aus Ihrer Stellungnahme hervorzugehen, dass Sie die Widerklage für
eine ernstzunehmende, ja gleichwertige Chance der gegnerischenSeite halten, während wir auf Grund Ihrer Schreiben der Meinung
waren, dass Sie die Kompetenz des Berliner Gerichtes gar nicht als
gegeben erachteten. Trotz dieser unbestreitbaren Schwierigkeit
könnte aber Herr Kraus in einer Sache, die er von allem Anfang an
als eine kulturpolitische Angelegenheit angesehen und in wahrem
Sinne des Wortes „in Angriff“ genommen hat, einer Erledigung nicht
zustimmen, die auch nur im geringsten den Anschein eines solchen
„Vergleiches“ herbeiführen könnte, der auf der Gegenseite die
Hoffnung oder gar Erwartung eines Abschlusses auch im publizistischen
Sinne erwecken würde.


Wenn infolge der (hauptsächlich durch die klare Ver-
zögerungstaktik des Gegners bewirkte Ueberwucherung der Prozess
materie die Führung dieser höchst wichtigen Angelegenheit vor einem
fremden Gerichtsforum sich überhaupt als untunlich herausstellt, so
wäre es ja diskutabel, die Klage fallen zu lassen, selbst ohne Rück
sicht darauf, ob der Gegner desgleichen tut. Es könnte daher umso
mehr auch einem solchen Abschluss zugestimmt werden, wonach die
beiden Klagen fallen gelassen werden, in der Art, wie Sie auf den
gegnerischen Vorschlag vorläufig eingegangen sind; und darin allein
wäre gewiss noch kein „Vergleich“ zu erblicken. Wenn aber, freilich
ohne dass es abgemacht war – da ja keine Erklärungen ausgetauscht
wurden –, doch in der Gegenseite die Erwartung geweckt wäre, dass
damit auch die Materie als solche aus der Welt geschafft sei, also
in der gegenteiligen Erfahrung hinterher eine Enttäuschung erblickt
wurde, aus der der Vorwurf der Illoyalität erwachsen könnte, so
dürfte man auf die vorgeschlagene Erledigung keineswegs eingehen. Es
wäre demnach unerlässlich, der Gegenseite in einer Ihnen überlasse
nen Art und Form klar und motiviert bekanntzugeben, dass kein
Friedensschluss im moralischen Sinn sondern lediglich eine prozes
suale Abschliessung vorliegt, aus dem Grunde, weil ein Ende des
Prozesses infolge des unaufhörlichen Wechsels von Schriftsätzen
nicht abzusehen ist und schon darum das Gerichtsforum zur Behandlung
der so angewachsenen ungewöhnlichen Materie nicht mehr geeignet er
scheint. In Wahrheit bedeuten ja allein schon die kostbaren deutsch
nationalen Schriftsätze des Herrn Kerr eine so wertvolle Prozesser
ledigung im geistigen Sinne, dass man auf die andere, welche ja
diese nur vorzögern würde, recht wohl verzichten kann. (Nebenbei
weise ich darauf hin, dass die phantastische Plagiatbeschuldigung
in dem letzten Lügenstück von einem Schriftsatz wiederholt und so
drollig mit dem berühmten Lichtenberg-Zitat von dem Kopf und dem
Buch komplettiert wurde.) Wenn der Gegner auf Ihre Mitteilung hin
die von ihm vorgeschlagene Prozesserledigung bedauert, so wäre er
trotz seiner offenbaren Bindung im juristischen Sinne augenblick
lich unsererseits von dieser zu befreien und der Prozess müsste
weitergehen. In diesem Falle würde ich Sie – mit der gleichzeitigen
Uebermittlung des Ausdruckes allerbesten Dankes des Herrn Kraus für
Ihre so freundlichen Bemühungen – bitten, mir offen zu sagen, ob Sie
die Fortführung nicht allzusehr belastet. Es ist ja durchaus einzu
sehen, dass Ihnen diese Materie, deren Wichtigkeit als Leser der
Fackel“ Sie ganz gewiss ermessen, zwar nicht „über den Kopf“, aber
vielleicht über die Nerven und über Ihre Zeitmöglichkeiten hinaus
wachsen könnte. Wir sind auch darüber unterrichtet, dass sich der
gegnerische Vertreter in einer allerdings für den eigenen Klienten
nicht gerade schmeichelhaften Art vor Gericht über die Unwichtigkeit
der Materie ausgelassen und die Angelegenheit gleichsam als Literaten
gezänk bagatellisiert hat, was auch aus dem infamen Bericht des
Vorwärts“ hervorgeht. Herr Justizrat Heine soll sich darauf berufen
haben, dass er sich in dieser Auffassung mit Ihnen verständigt habe,
was wir aber bei Ihrer Kenntnis der „Fackel“ selbstverständlich nicht
glauben, indem wir Ihre Zustimmung zu einem gerichtlichen Abschluss
lediglich auf Erwägungen juristischer Zweckmässigkeit zurückführen.
Ich möchte Sie nun für den Fall, dass der Prozess nach der erbetenen
Aufklärung des Gegners weitergehen sollte, ersuchen, mir freundlich
bekanntzugeben, wie Sie sich Ihrerseits persönlich dazu stellen,
und ob es Ihnen nicht eine Erleichterung wäre, die Sache einem
Kollegen zu übertragen, von dem Sie vermuten können, dass er in
Ihrem Sinne die gerichtliche Stigmatisierung der Kriegstätigkeit
des Herrn Kerr als eine Kulturaufgabe betrachtet, die über die
Masse einer kleinen Privatbeleidigungssache sichtbar hinausreicht,
und der nicht durch andere wichtige und gewiss akut noch wichtigere
Aufgaben, die Sie selbstlos erfüllen und von denen Herr Kraus mir
mit grösster Anerkennung erzählt hat, belastet ist.


Ich zeichne, Ihrer Antwort entgegensehend,
mit ergebener kollegialer Hochachtung


P.S. Es würde mich sehr interes
sieren zu erfahren, ob die Unterstreichungen
auf dem letzten Schriftsatz von Ihnen oder
von der Gegenseite oder vom Gericht herrühren,
und ich bitte Sie auch um eine freundliche
Mitteilung hierüber.


Sollten Sie noch irgendwelche Aufklärungen be
nötigen, so wäre eine telefonische Aussprache
am besten. Ich bin, ausser Samstag, täglich zwischen
1/2 4 und 6 Uhr sicher zu erreichen. Meine Telefon
Nummer 68-2-62.


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