Sehr geehrter Herr College,
in der Privatklagesache Kraus gegen Kerr ist Ihr Einschreibebrief
vom 17. am gestrigen
Sonnabend-Abend 7 Uhr bei mir eingetroffen.
Ich beeile mich, am heutigen
Sonntag Folgendes zu antworten:
1) In Ihrem Schreiben vom 7. November 1927 haben Sie zum ersten Mal
– ohne meine vorherige Anregung –
von einem etwaigen Vergleich ge
sprochen. Ich habe am 10. November geantwortet, dass für einen solchen
die Erhebung der Widerklage durch
Kerr zu beachten sei. Am 19. November haben Sie mich
gefragt, wie ich die Aussicht der Widerklage beur
teile und wie ich mir einen
Vergleich, den die Gegenseite anregen
müsste, dächte. Am 15. Dezember habe ich erwidert, dass ich die Zuläs
sigkeit der Widerklage
natürlich bestreiten würde, eine Bestrafung
des Herrn Kraus wegen formaler Beleidigung jedoch für möglich hiel
te. Am 23. Dezember haben Sie mich von neuem ersucht, Ihnen
mitzutei
len, wie
ich mir einen Vergleich vorstelle. In meinem Brief vom 30.Dezember habe ich
daraufhin erklärt, ich könne mir einen Vergleich
vorläufig nur so denken, dass
bei Kostenteilung Klage und Widerklage
ohne Publikations
verpflichtungen zurückgenommen würden. Eine gegenteilige
Aeusserung
hierauf habe ich
von Ihnen nicht
bekommen!!
2) Im Termin am 2. Februar hat
Rechtsanwalt Heine die vom Richter aus
gegangene Vergleichsanregung
aufgegriffen. Ich habe, um keinen Zweifel
an einer lediglich processualen
Beendigung der Angelegenheit entste
hen zu lassen, betont, dass gegenseitige Erklärungen und
Versprechungen unter
bleiben müssten!! Dieses Moment der nur die gerichtliche Austragung
angehenden Erledigung kann – unbeschadet des Eintritts der Rechtswirksamkeit des
Vergleiches – natürlich noch einmal in einem besonderen
Brief an den gegnerischen Anwalt zum Ausdruck gebracht werden; eine
Abschrift hiervon könnte zu den
Gerichtsakten eingereicht werden.
3) Ich habe mich hinsichtlich
keiner „Auffassung“ vorher mit
Rechts
anwalt Heine „verständigt“. Es trifft
auch nicht zu, dass er sich da
hin im Termin ausgelassen habe.
Er hat nur erwähnt, dass wir gelegent
lich über einen etwaigen
Vergleich gesprochen und in der Beurteilung
der Zweckmässigkeit einer solchen
Erledigung wohl übereingestimmt
haben. Das war der Sinn seiner
Ausführungen.
Was ein Bericht im „Vorwärts“ sagt oder nicht sagt, müsste doch
Herrn Kraus als durchaus belanglos gelten. Er kennt doch die poli
tische Tagespresse zur
Genüge!!!!!
4) Von wem die
Unterstreichungen auf dem letzten Schriftsatz des
Gegners herrühren, weiss ich nicht.
5) Schliesslich: Weshalb mir
gerade der Process Kraus gegen Kerr
„über die Nerven“ und „über die
Zeitmöglichkeiten“ „hinauswachsen“
sollte, vermag ich nicht
einzusehen. Ich habe schon andere Processe
geführt und führe solche, die
schwieriger sind und mehr Anforderungen
an die Nervenkraft stellen, als
die Privatklagesache Kraus gegen Kerr,
ohne
dass ich in irgend einer Hinsicht erlahme oder an Eifer nach
lasse!!!! Andererseits ist es
selbstverständlich, dass ich mich nie
mandem, wer immer es auch sei,
als Rechtsbeistand aufdränge!!! Wenn
also Herr Kraus glaubt, dass ich seine Sache nicht so geführt habe,
wie es seine Interessen
erheischen, und dass ein anderer Anwalt als
ein
besserer mich in der Fortsetzung des Verfahrens ersetzen müsse,
so mag er das mit Ruhe und
Offenheit sagen!!!
6) Jedenfalls wiederhole
ich, dass die Widerrufsfrist am 23. d.M. ab
läuft. Eventuell also müsste
Herr Kraus selbst in einem eingeschrie
benen Eilbrief an
das Gericht anzeigen, dass er den unter
Vorbehalt
abgeschlossenen
Vergleich widerrufe. Am 23. müsste diese Anzeige an
das Amtsgericht Charlottenburg unter dem Aktenzeichen
44.B.222.27
gelangt sein.
(Charlottenburg Kantstrasse
79).
Mit Hochachtung
Victor Fraenkl