Literatenstreit vor Gericht. Alfred Kerr und Karl Kraus.Vorwärts


Sehr geehrter Herr College,


in der Privatklagesache Kraus gegen Kerr ist Ihr Einschreibebrief
vom 17. am gestrigen Sonnabend-Abend 7 Uhr bei mir eingetroffen.
Ich beeile mich, am heutigen Sonntag Folgendes zu antworten:


1) In Ihrem Schreiben vom 7. November 1927 haben Sie zum ersten Mal
– ohne meine vorherige Anregung – von einem etwaigen Vergleich ge
sprochen. Ich habe am 10. November geantwortet, dass für einen solchen
die Erhebung der Widerklage durch Kerr zu beachten sei. Am 19. November haben Sie mich gefragt, wie ich die Aussicht der Widerklage beur
teile und wie ich mir einen Vergleich, den die Gegenseite anregen
müsste, dächte. Am 15. Dezember habe ich erwidert, dass ich die Zuläs
sigkeit der Widerklage natürlich bestreiten würde, eine Bestrafung
des Herrn Kraus wegen formaler Beleidigung jedoch für möglich hiel
te. Am 23. Dezember haben Sie mich von neuem ersucht, Ihnen mitzutei
len, wie ich mir einen Vergleich vorstelle. In meinem Brief vom 30.Dezember habe ich daraufhin erklärt, ich könne mir einen Vergleich
vorläufig nur so denken, dass bei Kostenteilung Klage und Widerklage ohne Publikations
verpflichtungen zurückgenommen würden. Eine gegenteilige Aeusserung
hierauf habe ich von Ihnen nicht bekommen!!


2) Im Termin am 2. Februar hat Rechtsanwalt Heine die vom Richter aus
gegangene Vergleichsanregung aufgegriffen. Ich habe, um keinen Zweifel
an einer lediglich processualen Beendigung der Angelegenheit entste
hen zu lassen, betont, dass gegenseitige Erklärungen und Versprechungen unter
bleiben müssten!! Dieses Moment der nur die gerichtliche Austragung
angehenden Erledigung kann – unbeschadet des Eintritts der Rechtswirksamkeit des Vergleiches – natürlich noch einmal in einem besonderen
Brief an den gegnerischen Anwalt zum Ausdruck gebracht werden; eine
Abschrift hiervon könnte zu den Gerichtsakten eingereicht werden.


3) Ich habe mich hinsichtlich keiner „Auffassung“ vorher mit Rechts
anwalt Heine „verständigt“. Es trifft auch nicht zu, dass er sich da
hin im Termin ausgelassen habe. Er hat nur erwähnt, dass wir gelegent
lich über einen etwaigen Vergleich gesprochen und in der Beurteilung
der Zweckmässigkeit einer solchen Erledigung wohl übereingestimmt
haben. Das war der Sinn seiner Ausführungen.


Was ein Bericht im „Vorwärts“ sagt oder nicht sagt, müsste doch
Herrn Kraus als durchaus belanglos gelten. Er kennt doch die poli
tische Tagespresse zur Genüge!!!!!


4) Von wem die Unterstreichungen auf dem letzten Schriftsatz des
Gegners herrühren, weiss ich nicht.


5) Schliesslich: Weshalb mir gerade der Process Kraus gegen Kerr
„über die Nerven“ und „über die Zeitmöglichkeiten“ „hinauswachsen“
sollte, vermag ich nicht einzusehen. Ich habe schon andere Processe
geführt und führe solche, die schwieriger sind und mehr Anforderungen
an die Nervenkraft stellen, als die Privatklagesache Kraus gegen Kerr,
ohne dass ich in irgend einer Hinsicht erlahme oder an Eifer nach
lasse!!!! Andererseits ist es selbstverständlich, dass ich mich nie
mandem, wer immer es auch sei, als Rechtsbeistand aufdränge!!! Wenn
also Herr Kraus glaubt, dass ich seine Sache nicht so geführt habe,
wie es seine Interessen erheischen, und dass ein anderer Anwalt als
ein besserer mich in der Fortsetzung des Verfahrens ersetzen müsse,
so mag er das mit Ruhe und Offenheit sagen!!!


6) Jedenfalls wiederhole ich, dass die Widerrufsfrist am 23. d.M. ab
läuft. Eventuell also müsste Herr Kraus selbst in einem eingeschrie
benen Eilbrief an das Gericht anzeigen, dass er den unter Vorbehalt
abgeschlossenen Vergleich widerrufe. Am 23. müsste diese Anzeige an
das Amtsgericht Charlottenburg unter dem Aktenzeichen 44.B.222.27
gelangt sein. (Charlottenburg Kantstrasse 79).


Mit Hochachtung
Victor Fraenkl


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