Die letzten Tage der MenschheitNeues Wiener JournalDie FackelMinna von Barnhelm oder das Soldatenglück


Anmerkung. Sämtliche in Anführungszeichen gesetzte Stellen sind Werke von Karl Kraus.
x) „Der Mensch
Wer wäre, was er ist, wo Trug und Wesen
die Welt vertauscht in namenloser Wahl.
Der Hund:
Zueignung
Ich bin ein Hund und kann nicht Zeitung lesen“ aus Karl Kraus, Der sterbende Mensch.
An Karl Kraus, zu seiner Vorlesung „Die letzten Tage der Menschheit“ 22/23. Februar 1930
von Hans Loewe, zu seiner 33. Geburtsnacht, 22./23. Februar 1930.


„Ich bin an meinen Punkt gebannt.“


Zufällig nennt man den Verlauf der Linie,
die aus Punkt und Punkten begriffen wird.
Doch: ist die Linie da, so ist der Punkt gewiß.
„Wo Trug und Wesen die Welt vertauscht in namenloser Wahl“
Da gibt die Frage „Wer wäre, was er ist“ das Stichwort niemand.
Dem Wesen treu, stellt Niemand sich nicht vor.
Nich mein ist ja. So bleibt die Treue.
Und es erscheint der Hund.
„Ich bin ein Hund und kann nicht Zeitung lesen.“
Warum sollte ein Hund nicht Zeitung lesen können?
Nur, weil er andere Sorgen hat?
Weil er nicht Zeitung schreibt?
Weil er an Dreck nicht wittern mag?
Er mag nicht, doch er kann.
Denn meine Mutter hat er selbst gelesen,
wie ein Mitglied eines Tierschutzvereines
seinen Hund, der zwei Tage abgängig war,
vertilgen ließ! Der Herr brachte den Hund
zum Tierarzt. Der lehnte den Kopf des Tieres an den Tisch
und öffnete den Mund der Kreatur. Dann schüttete er
ein Säckchen Gift hinein. Da sah das Tier die Menschen traurig an
und starb.


Sprecht nicht davon, denn diese Vorstellung kehrt wieder,
stell ich mir vor: Der Ober gibt dem Hund ein Zeitungsblatt zu lesen.
Treu eurer Art, mögt ihr zum Hunde sprechen, schimpfen, fluchen:
er hört euch an, verspricht auch Besserung, doch glaubt,
daß kein falsch an ihm ist, wo er doch sagt,
daß er nicht Zeitung lesen kann.


Ihr habt gelesen, daß der Meister sagt:
„Mein Werk ist der Beweis: Die Presse lügt,
weil Drücken gleichbedeutend ist mit Lügen.“
Ihr meint, daß sie auch falsche Nachricht bringt.
So siehste aus! Das sagt man dort, wo Eisbein Spezialität ist.
Und nirgendwo hab ich so spitze Köpfe, so spitze Ohren und
so sonderbare Schnauzen gesehn wie dort.
Was Wunder, wenn der Mann im Norden nie
sein Stückchen Schweinefleisch vergaß und die Verfügung traf,
daß er bei seinem Haus erhalten bleibe, nämlich so:
dreihundert Pfund im Jahr. Zehntausend Pfund in dreiundreißig Jahren.
Dreihunderttausend Pfund in tausend Jahren.
Vor grauen Jahren führte mich die Eisenbahn
durch das Gebiet von Bratislava. Ein Mann saß im Coupé
und sprach zu andern Männern von Leder und von der Kundschaft,
indes das Schmalz aus aus seiner Rede triefte. Da brach die Panik los,
denn eine Schar von Mißvergnügten stürmte den Waggon:
In Preßburg war Entsetzliches geschehn.
Der Kurs der Gänseleber war gefallen. Er fiel und fiel.
Ganz Preßburg war von Lebern überschwemmt.
Ich rettete mich, ehe mir die Galle platzte, und floh nach Wien.
Seit damals tragen Menschen Gansgesichter. Es is ja eh in der Zeitung gestanden.
So hieße der Beweis, daß, was ich sage, wahr ist.
Noch stand es nicht. Noch wie Lemberg noch in unserem Besitz.
Lemberg fiel erst nach Wien, das längst an Preßburg fiel.
Herrje! Hat auch die Presse zugerichtet.


Nicht, daß sie auch falsche Nachricht bringt. „Wo Trug und Wesen die Welt
vertauscht“, sind in der Vorstellung dessen, der die Welt besser vorstellt, Adjektive
nicht vorhanden, namenlos ausgenommen. Sie sind an ihr Ziel gelangt,
nicht in die Weltanschauung der Relativität, die den Kampf um die Wahrheit
durch Selbstmord entscheidet: sie blieben am Ursprung.


„Was ist denn Eitelkeit? Ein Tauschgeschäft
von Wert und Geltung. Wo wird Wert geopfert?
Doch von der Welt! Wo Geltung?
Doch wohl von jenem, den sie eitel nennt!“


Also: ein Verlustgeschäft. Zu viel Wert bezahlt für zu viel Geltung (etwa: das
Erlebnis der Welt mit Schober), für eine Passivpost. Ein Hundertprozentiges
Verlustgeschäft. Wer es abschließt, der Träger des Grenzwertes der Dummheit,
wo Dummheit keine Eigenschaft ist, sondern ein Phänomen, so greifbar und
unüberwindlich wie ein Bundeskanzler.


In „Schön ist häßlich, häßlich schön“ wurde (am 9. April 1926) das erste ‚häßlich‘
als Gerundium gesprochen. So war beim Kommen das Wesen gegeben, der
Nachsatz als Subjekt und Prädikat beglaubigt, und die Hexe, die Trug und Wesen
vertauscht in namenloser Wahl, in lusterfüllter Hingegebenheit an ihr Wesen
dem nichtgenannten Schüler vorgestellt, der eben aus der Poesie des Irrenhauses
angekommen war, wo er „die geistige Wohltat erwähnen“ müßte, bevor er sie
erfassen dürfte.


Schon daselbst, weil der Umfang meiner bisherigen Lektüre zufolge anderer Sorgen
als von einem beliebigen Durchschnittgymnasiasten beizeiten übertroffen erscheint, hätte
ich es nicht gewagt, im zweiten Absatze dieser Zueignung Denkvorgänge eines
hochberühmten deutschen Schriftstellers hinter der Scene in auffallender Parallele
zu einer Vererbungslinie der Kopfformen abzuführen, deren Verlauf kaum durch
irgendeine abendländische Fakultät als vorhanden anerkannt sein dürfte, wäre
nicht ein Punkt gewiß: daß diejenigen, die an Minna von Barnhelm das
Wesen des Komischen durchaus studiert haben mit heißem Bemühn, das Resultat
dieser Zueignung zufolge der mathematischen Beweisführung zwar nicht
vereinen können, zufolge ihrer Dummheit es aber werden verneinen wollen,
weil sie sich sonst gleich umbringen müßten, infolgedessen sagen werden: Komisch.


Unwahr ist, daß das Resultat meiner mathematischen Beweisführung
komisch ist. Wahr ist, daß es tragisch ist. Unwahr ist, daß es nicht komisch ist.
Wahr ist, daß es komisch ist. Unwahr ist, daß das Komische komisch ist. Wahr ist,
daß das Komische nicht komisch ist. Unwahr ist, daß das Komische nicht tragisch
ist. Wahr ist, daß das Komische tragisch ist.


Wahr ist, daß der Zeitgeist durch mathematischen Beweis ad absurdum
geführt wird: Zueignung, weil Eigentum des Geistes.


„Der immer gegenwärtig
und spürbar wirkend ihre Zeit durchquerte“,


die große Zeit, die er noch gekannt hat, wie sie so klein war, die wieder
klein geworden ist, weil ihr dazu noch Zeit blieb, obwohl sie ihren Geist
aufgegeben hat in einem Scherbengericht.


Das Ziel: die Vernichtung. Der Urspung: die Lüge. Ziel ist Urspung.
Das ist das Tragische. Das ist das Komische.


Am 23. Februar soll die Tragödie der Menschheit dem Schüler vorgestellt
werden vor dem, der die Welt vorstellt als von lebenslänglichen Frohnsclaven
der diktatorischen Gewalt von Preßburg bevölkert.


Wahr ist, daß der Paragraph 23 dieser Febertage mein Geburtstag ist.


Ich hatte nun beabsichtigt, in die mathematische Besprechung des Weltgesetzes
einzugehen, von dem zu vermuten ist, daß es Pythagoras geahnt hat, daß er
Moses gekannt hat, von dem aber gewiß ist, daß es Karl Kraus bewußt erlebt –
zunächst in Beibehaltung des Themas Adjektiva, ausgehend von den Zahlenbeziehungen,
die im Faust als Hexeneinmaleins genannt sind, vom Goetheschen Mephisto
falsch interpretiert. Namenlose Zahlen sind eine Adjektive. Sie sind die
ewigen Attribute Gottes. Sie sind die Bausteine des Tempels, aus dem es
zu treiben gilt die Händler und die Wechsler.


Ich hatte beabsichtigt, den Satz:


„Und der das Ziel noch vor dem Weg gefunden,
so kam vom Ursprung nicht.“ Aus den abgebraischen ‚Variationen mit Wieder
holung‘, von denen in der modernen Mathematik nur der Satz bekannt ist,
respektive gilt: „Die Summe der möglichen Variationen mit Wiederholung
von n Elementen der rten Klasse = nr, und alles übrige Larifari
unmathematischer Wahrscheinlichkeitstheorien, als das Grundgesetz
der Periodizität nachzuweisen, wo der zeitlose Satz Gottes:


„Du bliebst am Ursprung. Ursprung ist das Ziel.“


Der Erscheinungsform in Raum und Zeit einen anderen Ausweg nicht
offen läßt als den Weg der Periodizität, die bei mechanischen Vorgängen
außerhalb der Möglichkeit menschlicher Erfahrung liegt (zufolge der Periodi
zitätszahl 232,792.560 (dem kleinsten gemeinsamen Vielfachen der Zahlen 11, 12, 13,
14, 15, 16, 17, 18, 19, 20). Außerhalb der Erfahrung, weil der einzige Gegenstand,
an welchen bisher mechanischen Vorgängen entspringende ‚Variationen
mit Wiederholung‘ beobachtet worden sind, die Roulette ist, die bei einer
Tages-Spielanzahl von 500 Spielen 1300 Jahre brauchen würde, um die durch
das Zahlungsgesetz gegebene Periodizität zu erreichen.


Obgleich in der Sekunde, die von der Setzung des letzten Schlußpunktes bis
zur Aufschreibung das O (in Obgleich) verging, im Neuen Wiener Journal
balkendick blöde Lettern erschienen sind ‚Karl Kraus will die Bank
von Monte Carlo sprengen‘, hatte ich doch beabsichtigt, für Herrn Karl Kraus
das von mir durch ein ganzes Jahr erarbeitete mathematische Werk
niederzuschreiben, es ihm also zuzueignen und anhand einer beliebigen
Nummer der in Wien erhältlichen Zoppoter Kasinozeitung oh. einer authen
tischen Liste abzulaufener Spielresultate nachzuweisen: daß aus der Variation
der 60. Klasse oh. nach einem an einer (beliebigen Stelle aus den Tages-Spielverläufen
herauszugreifenden Ablauf von 60 Spielen der weitere Verlauf mit absoluter
Eindeutigkeit, also mit Gewißheit bestimmbar ist.


Obgleich in der Sekunde, die von der Setzung des letzten Schlußpunktes bis
zum darauffolgenden O (in Obgleich) verging, unter den obgenannten Balken
lettern ein Artikel erschienen ist, den ich nicht gelesen habe, steht mir das Recht zu,
ihn als eine Erscheinungsform des Phänomens, das Dummheit heßt, abzulesen. Beweis:
Er schreibt unter den Balken. Pro oder contra? Bei pro muß er sich umbringen,
also schreibt er contra. Das Exempel hieß: Bestimmung des Spielverlaufes unter
Ausschluß jeder Wahrscheinlichkeitsannhme. Mit dieser Voraussetzung habe ich es
vorgestellt, nachdem ich ein Jahr lang darüber nachgedacht habe. Bei dieser Voraussetzung
hat er nicht Stoff, fünf Minuten darüber nachzudenken. Also: der pure Unsinn.
Auch wenn er ein Prominenter ist. Ein Prominenter ist ein Punkt. Für die
Denkfunktion eines Punktes ist ein Linienfeld transcendental. Ein Punkt hat zu kuschen
und weiterzuschreiben. Er steht unter der diktatorischen Gewalt von Preßburg.


Ich hatte beabsichtigt, den Nachweis aufzuschreiben, daß das für die
Variationen von 2 Elementen gefundene Gesetz für die Variationen aller
Elemente-Anzahlen, welche Potenzen von 2 sind, in Anwendung kommt,
somit für den Ablauf der Welt; wobei die Grenze 60 auch dann vorhanden
ist, wenn die Elementezahl größer ist als 60. Einen Kommentator zu diesem
Satz habe ich dem Herrn Karl Kraus nicht zu geben. Und für den Fall, daß
mein Wort im heiligen Feuer der Fackel erscheint, wird es die Seelen
der Leser nicht verbrennen. Wer es nicht weiß, hat es nicht zu wissen.


Ich hatte beabsichtigt, die innere Unwahrheit einer Literatur darzutun,
die Handlungen beschreibt und gar erfindet: als ob ein Punkt ein
Linienfeld beschreiben oder erfinden könnte. Der sechzehn bis achtzehn
Stunden im Tag das Erlebnis des in Raum und zeit Pünktlichen
erleidet, ihm ist die Sprache Thema. Wie sie es ist, vermag nicht zu
fassen, wer das in Raum und Zeit Pünktlichen nicht inne ward.
Spinoza: Er kam vom Weg und fand den Ursprung. Und der den
Ursprung noch vor dem Ziel gefunden, an ihm hat sich die Periodizitäts
zahl noch nicht erfüllt.


All das hatte ich darzustellen beabsichtigt. Ich hoffte, die Aufschreibung
in einer Woche bewältigen zu können. Auch war mir von der Welt, die
es nicht wußte, der letzte von ihr erhältliche Geldbetrag von sechzig Schillingen
zugeflossen. Wenn es auch für einen eigenen Raum nicht reichte, so hatte
ich doch meine bisherige Schlafstelle bis zum 15. Februar gemietet, und
er hätte ausgereicht, u weiter – wie bisher – an der freien Luft und
an Kaffeehaustischen zu arbeiten.


Ich hatte ferner beabsichtigt, etwa am 13. Februar den Verlag „Die Fackel“
mit dem Hinweis auf meine wirtschaftliche Notlage abermals um eine
Unterstützung zu bitten, nachdem mir vor sieben Jahren eine solche
gewährt worden ist, und ich vom Verlag „Die Fackel“ damals ein Antwort
schreiben erhalten hatte, in dem erklärt ist, daß nicht die geistige Wohltat, die
ich erwähnte, sondern meine wirtschaftliche Notlage das Anrecht auf eine
Unterstützung gibt.


Ich hoffte, daß mir die Unterstützung zuteil werden würde, und
beabsichtigte infolgedessen, Herrn Karl Kraus zu bitten, er möge mir
zu seinen Vorlesungen am 22. und 23. Februar freien Eintritt gewähren,
und ich hoffte, daß er meine Bitte erfüllen würde, weil in der
Buchhaltung der Fackel der Fall nicht vorgesehen sein kann, daß ein
Käufer einer Eintrittskarte mit dem Gelde der Fackel Lustbarkeits
steuer entrichtet.


All das hatte ich beabsichtigt, im Dunkel gehend einer Troglodyten
welt der Erscheinungsformen, von denen nichts vorhanden ist als
Bestialität, erwacht aus einem Traumstück, noch den Schrecken in den
Gliedern, und wissend um das Licht aus dem dunkelsten Österreich.


Ich war in meiner Darstellung bis zur Aufzeichnung des Tragischen, des
Komischen gekommen: der zerschellte in dem Kaffeehaus, in dem ich
schrieb, einen Lichtmangel, die Scherben krachten auf den Boden, gleich
darauf noch eine Lichtkugel, und ich schrieb das Wort ‚Scherbengericht‘.
Nachdem ich den Satz vom Paragraph 23 geschrieben hate, bemerkte ich,
daß – was mir bisher noch nie passiert war – eben doch hat passieren
müssen: meine Brieftasche, die die letzten fünfzig Schillinge enthielt,
war abhanden gekommen.


Den Verlust meines gesamten Vermögens habe ich nicht als
tragisch, nicht als komisch betrachtet. Dem in Raum und Zeit Pünktlichen
lieh ich mein Ohr und erkannte, daß die Zueignung auch in der Form
nur ein Fragment sein kann.


Ich leg es in des Meisters reine Hände
und anvertraue mich dem Augenblick,
da er mich ruft, daß ich das Werk vollende.


Hans Loewe
II. Vereinsgasse 1/III.


Wien, den 6. Februar 1930.