Die Fackel


Wien-Steinhof, den 3. Juni 1930.
Herrn
Dr. Oskar Samek,
Rechtsanwalt
Wien I.
Schottenring 14


Sehr geehrter Herr!


Ich habe am 21. Februar l.J. von Ihnen gehört, daß die Ihnen damals
vorgelegten Schmähartikel einiger Wiener Zeitungen dem Herrn Karl Kraus
Anlaß zu einer Arbeit von drei Tagen geben und daß im Zusammenhang
mit dieser Arbeit auch meine Ihnen überreichte Schrift Zueignung an
Karl Kraus in der Fackel erscheinen wird. Da ich außerdem von
Ihnen erfahren habe, daß Sie die mir öffentlich gestellte Diagnose
(paranoia, dementia praecox und Größen-Ideen) für nicht zutreffend
– ja sogar für stark übertrieben – erachten, habe ich mir gestattet,
anhand von Briefabschriften, die ich an die Fackel gesendet habe, darzutun,
daß gegenüber der verbrecherischen Beraubung persönlicher Freiheit und
den (nach den Bestimmungen der Verordnung vom 28.VI.1916 über Anhaltung
in Irrenanstalten) groben Fahrläßigkeiten die Öffentlichkeit eben in
jenem lethargischen Schweigen verharrt, zu welchen sie ihr schlechtes
Gewissen vor dem Namen Karl Kraus seit jeher verurteilt.
Aber dadurch, daß sie alle schweigen, beweisen sie geradezu, daß sie
mich für geistig gesund halten. Denn sonst müßte sich ja irgend ein
Schmutzfink gefunden haben, der von den Früchten auf dem Baum
geschlossen hätte. Auch in dieser Richtung habe ich den Nachweis versucht,
indem ich mich des Landesgerichtspräsidenten Dr. Aichinger bediente,
den ich mir einem Zubringer der Presse übelster Sorte, einem Früchtel, dem die
Polizei mit falschen Dokumenten gedient hat (namens Alexander Stigetić) meinen
Fall besprechen ließ. Dr. Aichinger hat durch Stigetić bei der Direktion
am Steinhof über meinen Zustand angefragt und die psychiatrische
Information erhalten, daß ich geistig gesund bin.


Ich richte nun fröhl. Anfrage an Sie, ob Sie geneigt sind, für mich beim Bezirksgericht Hietzing
gegen den Gerichtsbeschluß auf eine vorläufige Anhaltung von acht Monaten
in der Irrenanstalt einen Rekurs einzubringen.


Ich würde Mitte März vor die in obcitierter Verordnung vorgesehene
Gerichtskommission gestellt. Die Untersuchung dauerte etwa drei Minuten
und verlief folgendermaßen. Ich wurde vom Gerichtspsychiater Hofrat Göbel
gefragt, warum ich freiwillig in die Irrenanstalt gegangen bin, und
antwortete, daß ich den Polizeiarzt lediglich um Überstellung auf die
psychiatrische Klinik ersucht habe. Die Einlieferung auf den Steinhof sei gegen
meinen Willen erfolgt. Hierauf wurde mir vorgehalten, daß ich mich als
den größten Narren Europa’s bezeichnet habe. Das gab ich zu, erklärte aber,
daß ich zufolge des deutschen Sprachgebrauchs das Substantivum ‚Narr‘ ebenso
zu der subjektiven Verbalform ‚Narr sein‘ wie zu der objektiven ‚narren‘
gehöre. Dem entgegnete Hofrat Göbel mit der Feststellung: „Dann sind Sie
wirklich ein großer Narr.“ Ich erwiderte: „In Ihrem Sinne haben Sie
Recht. Und ich gelte auch deshalb als Narr, weil ich den Anschein
nicht vermieden habe, als hätte ich mit Mitteln des Geistes einen an
sich unbewegliche Materie in eine bestimmte Richtung lenken wollen.“


Hierauf fragte mich Hofrat Höbel, ob ich weiterhin interniert
bleiben wolle, was ich verneinte. Die Untersuchung war somit beendigt.


Sowohl damals wie bei späteren Kommissionierungen
hat Hofrat Höbel den anderen Patienten die Dauer der von der Kommission
beschlossenen Internierung mündlich bekannt gegeben. Somit hat es nach der
letzten, von mir verneinten Frage ausgesehen, als ob die Gerichtskommission
die Notwendigkeit meiner weiteren Anhaltung nicht ausgesprochen hätte.


Der Abteilungsarzt, den ich daraufhin wegen meiner Entlassung
befragte, versprach mir durch eine ganze Woche, es mir am nächsten Tag
sagen zu wollen. Ich richtete am 22.III. eine diesbezügliche Aufforderung
schriftlich an den Primararzt und erhielt am 24.III. ohne irgend eine
Begründung die Mitteilung, daß ich weiterhin interniert bleibe.


Nun hat meine Mutter Ende April [l.J.] in der Auskunftsstunde
beim Dienst habenden Arzt vorgesprochen und mit dem Hinweis darauf,
daß sie zufolge ihrer Taubheit meiner Unterstützung bedarf, um
meine Entlassung angesucht. Es wurde ihr mitgeteilt, daß meine
Entlassung ausgeschlossen sei und daß die Gerichtskommission eine
vorläufige Anhaltung von acht Monaten beschlossen habe.
Tagsdarauf besuchte mich der Primararzt Dr. Sterns, teilte mir
mit, daß meine Mutter erklärte, meiner Unterstützung zu
bedürfen, und legte mir nahe, ihr meine Hilfeleistung
dadurch zuteil werden zu lassen, daß ich ihr gelegentlich ihrer
Besuche gute Rathschläge erteile.


Ich habe vorgestern, den 1. Juni, mittelst Korrespondenzkarte
das Bezirksgericht Hietzing ersucht, mir eine Ausfertigung des Beschlusses
über meine Anhaltung zuzusenden.


Ich würde, falls Sie bereit sind, auch den an den Rekurs
sich eventuell anschließenden Prozeß zu führen, Ihnen den Akt
nach Empfang umgehend übermitteln.


Mit vorzüglicher Hochachtung
Hans Loewe


P.S. – Die Postverbindung in die Anstalt ist allerdings sehr problematisch.


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