Neues Wiener Abendblatt, 17.9.1927Amnestie?Neues Wiener Abendblatt


G.Z. U I 403/27/2


Oeffentliche Hauptverhandlung
Strafbezirksgericht I in Wien am 28. September 1927
Beginn 1/2 2 Uhr.


Gegenwärtig:
Richter L.G.R. Dr. Kramer Schriftführer: Dr. Russy
sein Vertreter : Dr. Oskar Samek V.a.z. U I 109/25
Angeklagter Oskar Hirth Verteidiger Dr. Josef Geiringer V.i.A.


Oskar Hirth, 28.III.68 in Wien geb. u. zust.
r.k. verh. Eltern: Ferdinand und Karoline, für Gattin (Ina)
und 1 Kind zu sorgen, III. Esteplatz 4, unbescholten, ver
antwortlicher Schriftleiter des „Neuen Wiener Abendblattes“.


Verlesen wird aus dem „Neuen Wiener Abendblatt“ vom17. September 1927, Nr. 254, Laufende Nr. 22114 von dem auf
Seite 1 und 2 unter der Ueberschrift „Amnestie?“ erschie
nenen Aufsatze der letzte Absatz, das Impressum der genannten
Zeitung, Seite 6 und das Berichtigungsschreiben vom 19.
September 1927. –


Besch. gibt zu, dass er in der in Betracht kommenden
Zeit verantwortlicher Schriftleiter der genannten Zeitung
war, das Berichtigungsschreiben vom 19. September 1927 er
halten habe, weiters, dass mehr als zwei Nummern dieser
Zeitung nach Erhalt des Berichtigungsschreibens erschienen
sind, ohne dass die oben erwähnte Berichtigung veröffent
licht worden wäre. –


Verteidiger führt aus, dass die Veröffentlichung
der Berichtigung deshalb verweigert wurde, weil sie den
pressgesetzlichen Bestimmungen im Folgenden nicht ent
spreche:


1) Fehle der Antithese der Gegensatz zur These,
denn in der These heisst es, dass es unwahr sei, dass
Herr Karl Kraus von der sozialdemokratischen Partei als
Bundesgenosse mobilisiert wurde, während in der Antithese
steht, dass es wahr sei, dass der Plan, den Polizeipräsidenten in einem Plakate zum Rücktritt aufzufordern,
seiner (des P.A. Karl Kraus) eigensten Initiative entsprungen
sei, ohne dass irgendein aussenstehender Faktor darauf
Einfluss genommen oder auch nur davon Kenntnis erlangt
hätte. – Es gehe aber auch die Antithese weit über den
inhaltlich zulässigen Rahmen hinaus, da sie in den
Worten „… ohne dass – bis – erlangt hätte“ Schluss
folgerungen enthalte, die gleichfalls nicht berichtigungs
fähig seien.


2.) Heisse ausserdem die der Berichtigung
zur Grundlage dienende Stelle des oberwähnten Aufsatzes
„Das Plakat sei … vielleicht ein Zeugnis dessen, dass
die sozialdemokratische Partei, da sie in eine heillose
Sackgasse geraten ist, nun schon alle möglichen Bundes
genossenschaften mobilisiert.“ Darin („vielleicht“)
liege nun nicht eine berichtigungsfähige Tatsache sondern
eine Vermutung. – Aus diesem Grunde decke sich daher
die These inhaltlich nicht mit der zu berichtigenden
Stelle des erwähnten Artikels. –


3.) Haftete der Berichtigung schon von vorn
herein der Mangel an, dass dem Berichtigungsschreiben
keine Vollmacht Dris. Samek beigegeben gewesen sei und
Besch. daher auch nicht gewusst habe, ob Dr. Samek zur
Einbringung der oberwähnten Berichtigung berechtigt
sei;


Der P.A.V. bezeichnet die Einwendungen der
Verteidigung als unstichhältig.


Zum letzten Punkt gibt P.A. Vertreter an,
dass er dem Berichtigungsschreiben tatsächlich keine
Vollmacht beigegeben habe, er dies jedoch im gegebenen
Falle für unnötig hielt, da der Besch. und die erwähnte
Zeitung wohl wussten, dass er der ständige Vertreter des
P.A. sei.


Verteidiger gibt als richtig zu, davon ge
wusst zu haben, dass Dr. Samek den P.A. schon öfters
vertreten habe. –


Besch. bezeichnet das Vorgehen des P.A.Vertreters,
der ihn dem Berichtigungsschreiben nicht einmal mit
„Herr“ titulierte, während er von Karl Kraus nur mit
„Herr“ Karl Kraus schrieb, als eine „Ungezogenheit.“ –


P.A.Vertreter dehnt hierauf die Anklage auf den vom
Besch. gebrauchten Ausdruck „Ungezogenheit“ aus


B.


auf Ablehnung der Ausdehnung von Verhandlung und Urteil
auf diese Tat (§ 263 St.P.O.).


Keine weiteren Beweisanträge.


Schluss des Beweisverfahrens. –


P.A. Vertreter beantragt Bestrafung des Besch.
und Verpflichtung zur Veröffentlichung der Berichtigung,
ohne jedoch die Aufnahme des Vorbehaltes der selbst
ständigen Verfolgung wegen der angebl. beleidigenden
mündl. Aeusserung v. 28. September 1927 in das Urteil
zu beantragen. –


Verteidiger beantragt Freispruch.


Der Richter verkündet das
Urteil
samt Gründen.


Der P.A. Vertreter meldet gegen das Urteil die
Berufung pcto. Schuld und wegen Nichtigkeit an und er
sucht um Zustellung einer Urteilsausfertigung.


Ende 2 Uhr
Dauer 1/2 Stunde
Verh.Geb. S 1.–
Urt.Geb. S 5.–
Beruf.Anm. S 3.–


Der Richter: Der Schriftführer:
Kramer mp. Dr. Russy mp.