Neues Wiener Abendblatt, 17.9.1927Amnestie?Neues Wiener Abendblatt


Geschäftszahl U I 403/27
3


Im Namen der Republik


Das Strafbezirksgericht I in Wien als Pressgericht hat heute in Gegenwart
des PA Vertreters Dr. Oskar Samek,
des Angeklagten Oskar Hirth
und des Verteidigers Dr. Josef Geiringer
über die Anklage verhandelt, die der Privat
ankläger Karl Kraus gegen
Oskar Hirth, 59 Jahre alt, verh. verantwortlicher
Schriftleiter des „Neuen Wiener Abendblattes
wegen der Übertretung nach § 24 (2) 3 Pressgesetz
erhoben hatte.
und über den vom Ankläger gestellten Antrag auf Bestrafung des Beschuldigten und Verpflichtung zur Veröffentlichung der Berichtigung in der
genannten Zeitung
zu Recht erkannt:


Oskar Hirth wird von der Anklage, er habe im September
1927 in Wien als verantwortlicher Schriftleiter des „Neuen WienerAbendblattes sich grundlos geweigert, die von Karl Kraus
verlangte Berichtigung von in der Nummer 254 der genannten Zeitung vom 17. September 1927 unter der Ueberschrift „Amnestie?
mitgeteilten Tatsachen zu veröffentlichen und hiedurch die
Übertretung; nach §§ 23 u. 24 (2) 3 Pressgesetz begangen,
gem. § 259/3 St.PO. freigesprochen.


Gem. § 390 StPO. hat der Privatankläger Karl Kraus die Kosten
des Strafverfahrens zu ersetzen.


Entscheidungsgründe.


Durch die Angaben des Beschuldigten und das Impressum
hat erwiesen, dass Oskar Hirth in der in Betracht kom
menden Zeit verantwortlicher Schriftleiter des „Neuen WienerAbendblatts“ war, dass er das Berichtigungsschreiben vom
19. September 1927 erhalten habe und die verlangte Berichtigung jedoch nicht veröffentlicht wurde, obgleich nach Er
halt des Berichtigungsschreibens mehr als zwei Nummern
der genannten Zeitung erschienen sind. –


Der Einwendung des Beschuldigten, es sei dem
Berichtigungsschreiben keine Vollmacht beigelegen, kann
Berechtigung nicht zuerkannt werden, da das Vollmachtver
hältnis tatsächlich bestand und diese Tatsache dem Beschuldigten bezw. dem oberwähnten Blatte zugestandenermassen
schon von früher her bekannt war. –


In der Sache selbst wurde folgendes erwogen:


Die Stelle im Artikel, die vom Berichtigungswerber zum Anlass seiner Berichtigung genommen wurde,
lautet: … „vielleicht ein Zeugnis dessen, dass die so
zialdemokratische Partei da sie in eine heillose Sack
gasse geraten ist, nunschon alle möglichen Bundesgenos
senschaften mobilisiert. –“ Wie das Wort „vielleicht“
eindeutig beweist, liegt hier nicht eine behauptete
Tatsache, sondern lediglich eine ausgesprochene Vermutung
vor. –


Es deckt sich daher schon die These nicht völ
lig mit der Stelle des berichtigten Artikels; doch auch die
Antithese stellt keinen vollkommenen Gegensatz zur These dar,
wozu noch kommt, dass die in der Antithese aufgestellten
Behauptungen, dass der „Plan … seiner eigensten Ini
tiative entsprungen“ sei, „ohne dass irgend ein aussen
stehender Faktor darauf Einfluss genommen oder auch nur
davon Kenntnis erlangt hätte“, nicht festumschriebene Tat
sachen, sondern inneres Vorhaben („Plan“, „eigenster Initiative“)
bezw. einen ganz allgemeinen nicht strikten beweisbaren Begriff
(„Einfluss“) enthalten. –


Aus vorstehenden ergibt sich, dass die
Weigerung des Beschuldigten, die vorstehende Berichtigung
zu veröffentlichen, keine grundlose war. – Beschuldigter war daher freizusprechen. –


Die Entscheidung über die dem Privatankläger aufgetragenen Kosten stützt sich auf § 390 StPO.


Wien, am 28. September 1927.
D. Kramer
Kahlert


1