Abschrift.
P.R. Av 33/28
Urteil.
Das Amtsgericht München, Abteilung Strafgericht
erkennt
in der Privatklagesache
Kraus Wilhelm, Schriftsteller in Wien
gegen
Weiss Wilhelm, Schriftleiter in München
wegen Beleidigung
in der öffentlichen Sitzung
vom 11. Juni 1928,
an der
teilgenommen haben:
1 Amtsgerichtsdirektor Frank als Vorsitzender,
2. Sekretär Bauer als Urkundsbeamter,
auf Grund der
Hauptverhandlung zu Recht:
Der Angeklagte Wilhelm Weiss, geboren am
31. März
1892 zu Stadtsteinach, lediger Hauptmann a.D. und
Schrift
leiter
der Zeitung „Völkischer Beobachter“ in München
ist schuldig,
zweier im sachlichen
Zusammenhang stehender Vergehen
der Beleidigung und wird
deshalb zu Geldstrafen von
einhundert und einhundert Reichsmark, für den Fall
der
Uneinbringlichkeit zu
Gefängnisstrafen von fünf und fünf
Tagen, sowie zur Tragung der
Kosten des Verfahrens und zum
Ersatze der dem Privatkläger Karl Kraus, Schriftsteller
in Wien, erwachsenen notwendigen Auslagen verurteilt.
Dem Privatkläger
wird die Befugnis zugesprochen,
die Verurteilung des Angeklagten auf dessen Kosten
durch einmalige Einrückung
der Urteilsformel in der für
amtliche Bekanntmachungen üblichen Art in die Zeitung
„Völkischer Beobachter“ innerhalb eines Monats
nach
Rechtskraft des
Urteils öffentlich bekannt zu machen.
Gründe:
Der Privatkläger
ist der Verfasser des in dem Verlag„Die Fackel“, Wien–Leipzig
erschienenen Werkes „Traumstück“.
Die „Junge Bühne“ hat in der Nacht vom 1. und 2. März
1928 in den „Münchener Kammerspielen“ das „Traumstück“
aufgeführt.
Der Angeklagte wohnte der Aufführung an.
In Nr. 53 der Zeitung „Völkischer Beobachter“ vom 3.
März1928 ist
folgender Artikel enthalten:
München, 2. März.
Wir erheben hiermit
öffentlichen Protest gegen einen
unerhörten Skandal, den
sich heute nacht bedauer
licherweise die Münchner Kammerspiele durch die Erst
aufführung
eines ‚Traumstückes‘ des Wiener
Juden
literaten Karl Kraus geleistet haben. Dieses sogen.
‚Traumstück‘ stellt die frechste Verhöhnung
aller für
ihr Vaterland
gefallenen Frontkämpfer dar, die jemals
auf offener Bühne vor
sich gegangen ist. Man schämt
sich nicht, einen toten
Frontsoldaten auf die Szene
zu schleppen, um einem
unabkömmlichen Kriegsgewinnler
in herausfordernder
Maske Gelegenheit zu neben, an
seiner Bahre die
zynischen Witze über seinen
‚Heldentod‘ reissen zu
lassen. Es soll damit ge
zeigt werden, für wen
das junge Blut von Millionen
in Wahrheit geflossen
ist. Das wissen wir überlebenden
Frontkämpfer schon von
selber, auch ohne dass der
Fackelkraus aus Wien darüber seine
schmutzigen Zoten
macht.
Aber wir verbitten es uns, die heiligste Er
innerung unseres Lebens
in dieser gemeinsten und
brutalsten Weise, die uns bisher vorgekommen ist, in
den Kot ziehen zu
lassen. Das ganze ‚Traumstück‘
ist
eine einzige fortgesetzte Verhöhnung des front
soldatischen Geistes,
eine schamlose Bewitzelung
des Opfertodes der gefallenen Frontkämpfer, eine
gemeine Besudelung alles
dessen, was für den deut
schen Soldaten zum
Inbegriff seiner Ehre geworden ist.
Ein General in
troddelhafter Operettenuniform
brüstet sich, dass ‚auf
seinen Befehl‘ sich die Massen
haben totschiessen
lassen, eine tuberkulöse
Krankenschwester
erzählt, wie sie von den Offizieren
im Felde ‚angesteckt‘
worden sei, eine Hure tanzt
mit Etappenschweinen und
einbeinigen Soldaten.
Und
so weiter. Das ganze Stück eine einzige
Gemeinheit, eine einzige
Zote, ein einziger
Beweis
der neudeutschen ‚Geistigkeit‘!
Die Aufführung ist heute
eine doppelte Heraus
forderung. Am Sonntag,
den 4. März, begeht Deutsch
land – mit Ausnahme
Bayerns, wie immer – den
Totengedenktag. Sollten die Kammerspiele auf diese
ihre Weise dem
Gedächtnis an die Gefallenen des
grossen Krieges Ausdruck
verleihen?
Wie wir hören, greift in
Münchner Frontkämpfer
kreisen bereits eine
wachsende Erbitterung und
Erregung über diese Herausforderung um sich. Und
daher noch eine Frage an
die Münchner Polizeidirektion: wird
diese ‚erhebliche Erregung‘ genügen,
um das
selbstverständliche Verbot für eine Wieder
holung der Aufführung
ebenso herbeizuführen
wie
bei Lutherfilm? Oder müssen andere Mittel und
Wege gesucht werden, um
die Fortsetzung dieses
Skandals zu verhindern? W.“
In Nr. 62 der Zeitung „Völkischer Beobachter“ vom 14.
März1928 ist
folgender Artikel enthalten:
„Das ‚Traumstück‘ und die Frontsoldaten.Eine Auseinandersetzung
mit der ‚Jungen Bühne‘
Uns geht folgende
Erklärung zu:
Zu dem Protest der Vereinigten VaterländischenVerbände gegen
die Aufführung des ‚Traumstück‘
von
Karl
Kraus erklärt die ‚Junge Bühne
derMünchener
Kammerspiele‘ auf das entschiedenste,
dass das aufgeführte Stück in keinem Wort und
in keiner Szene den
toten Frontsoldaten verhöhnt.
Jeder unvoreingenommene
Betrachter muss erkennen,
dass gerade im Gegenteil in der angedeuteten
Stelle des Stückes auf das Schärfste für
den
toten Soldaten
gegen das überlebende Schiebertum
der Nachkriegszeit
Partei genommen wird. Diese
Parteinahme ist, wie das
ganze Stück, rein
menschlich und unpolitisch gestaltet; aus diesem
Grunde lehnt die ‚Junge Bühne‘ jede Einflussnahme,
die ausserkünstlerischen
Erwägungen entspringt,
ab
und stellt in diesem Zusammenhang fest, dass
die Direktion der Münchener Kammerspiele das
Stück nicht vom Spielplan abgesetzt hat,
sondern
dass, wie aus
allen Vornotizen ersichtlich war,
nur eine Aufführung
angekündigt und aus techni
schen Gründen nur diese
eine möglich war.
Die ‚Junge Bühne‘ wehrt sich also noch gegen die
unberechtigte Annahme,
dass etwa die Empörung der
verhöhnten Frontsoldaten zur Absetzung des Stückes
vom Spielplan geführt
habe. Sie hätte demnach das
Stück nun gerade erst recht weiter
aufgeführt, wenn
es aus
‚technischen Gründen‘ möglich gewesen wäre.
Man muss das zur
Kennzeichnung der geistigen
Verfassung der Leute,
für die die ‚junge Bühne‘
verantwortlich zeichnen,
ausdrücklich feststellen!
Man hätte sich nicht um
den Einspruch der Kreise
gekümmert, die sich nun einmal durch die skandalöse
Aufführung in ihren
Gefühlen aufs schwerste
verletzt fühlten.
Aber die ‚Junge Bühne‘ bestreitet ja unsere
Behauptung, dass das Stück eine Verhöhnung des
Front
soldaten wäre. Zunächst erklären wir feierlich, dass
uns weder Herr Gellner noch sonst ein talentvoller
junger Mann mit
Piskator-Allüren massgebend sein
kann für die Beurteilung
von Dingen, für die sie
nun einmal nicht kompetent sind. Ob sich der deut
sche Frontsoldat durch
den geschwollenen Pazifismus
und durch den zotigen
Zynismus eines Wiener Judenliteraten
herausgefordert fühlen darf oder nicht, ist
ausschliesslich seine
Sache.
Im übrigen keine faulen
Ausreden! Die ‚JungeBühne‘ kennt
natürlich die antinationale und wehr
feindliche Gesamttendenz
des Traumstückes von
Karl Kraus
genau. Eine Tendenz, die
sie durch ihre
verständnis
volle Regie noch
liebevoll
unterstrichen hat. Infolgedessen
ist es nicht wahr, dass
etwa der Sinn der
Szene
zwischen dem Schieber und dem auf der Bahre
liegenden toten Soldaten
eine Parteinahme zugunsten
des Frontkämpfers wäre. Selbst wenn man die typisch
jüdische Phrasologie
berücksichtigt, bei der es
für geradlinig denkende Menschen immer schwer ist
zu unterscheiden, wo die
Satire aufhört und die wahre
Gesinnung beginnt, muss
man dem unkomplizierten
Soldatenverstand recht geben, der die widerliche
Szene rundweg ablehnt.
Im übrigen mag der
‚unvoreingenommene‘ Leser selbst entscheiden, wie
man den folgenden
Monolog aufzufassen hat, den der
in einem schweren
Gürtelpelzmantel gehüllte Kriegs
schieber an der
Totenbahre des gefallenen Soldaten
spricht:
Der
Gürtelpelz:
Ihr
fielt und wir stehn auf demselben Boden,
wir schreiten vorbei
an den mahnenden Malen,
wir wirken den
Wechsel von Toden und Moden,
wie fachen das
Fieber von Zahlen und Qualen.
Es waren Momente und
Episoden.
Denn
dies ist Entwicklung und Vorwärtsschreiten,
der Plumpsack geht
um, aber schlank in der Mitten.
Wir sind das Modell
dieser blutigen Zeiten,
die Welt ist in die
Taille geschnitten.
Ihr strittet, wie teilen ohne Streiten,
andere Zeiten,
andere Sitten,
Was
liegt, kann uns keine Sorgen bereiten,
wir haben es getan,
ihr habt es gelitten.
So rasend wie wir vier Reiter reiten,
keine Post, keine
Post kam rascher geritten.
Es starben die
Zahlen, wir leben die Zahlen.
Wir treten zu
Tänzen, wir tanzen zu Toden,
dank Generalen und
Kardinalen,
es
welken die Herzen und Hirne und Hoden
im Heldenkampf und
in Hurenlokalen.
Und wenn
unmittelbar nach dieser Szene eine
operettenhaft
zurechtgemachte Karikatur eines
Generals auftritt,
dann kann auch der Vorurteils
loseste nicht mehr
zweifeln, auf welcher Seite die
Sympathien der Regie
und des Verfassers stehen.
Der ‚Feldherr‘
deklamiert mit dem ‚Ingenieur‘
und dem
‚Journalisten‘ zusammen folgenden Vers:
Feldherr, Techniker, Journalist.
Wem es gelang, sich
vor uns zu verbergen,
preist unsre Tat.
Wir sind der Nichtswürdigkeit blutige Schergen,
wir säten des Satans
Saat.
Auf meinen
Wink ward das Blut vergossen.
Meine Kugel sass wie
angegossen.
Ich
brachte den Schlachtbericht durchschossen.
Und damit ja kein
Zweifel mehr besteht, wie man die
beschnittene
Problematik des ‚frontkämpferfreund
lichen‘ Kraus
aufzufassen hat, sei noch die Szene
wiedergegeben, in
der ein tuberkulöses Mädchen
dazu herhalten muss,
um das jedem Frontkämpfer
heilige
Kriegserlebnis in den Kot zu ziehen. Das
Mädchen
deklamiert:
An diese
Szene hat die ‚Junge Bühne‘
wahrschein
lich gedacht, als
sie von der ‚rein menschlichen und
unpolitischen‘ Gestaltung sprach. Dieses Geschwafel
von der
‚reinen Menschlichkeit‘ haben wir allmählich
so gründlich satt,
dass es uns am Halse steht. Wenn
es wenigstens wahr
wäre! Aber es ist ja ebenso
verlogen wie die
Absicht, die dahinter steht. Und die
ist ausserdem
gehässig!
In dem „Traumstück“ finden sich u.a. folgende Stellen:
Seite 10: „Der Gürtelpelz
…
Es starben die
Zahlen, wir leben die Zahlen,
Wir treten die Tänzen,
wir tanzen zu Toden,
dank
Generalen und Kardinalen,
es welken die Herzen und Hirne und Hoden,
im Heldenkamp und in
Hurenlokalen“.
Seite 11: „Tuberkulöses Kind“
Wie in dem Artikel in Nr. 62 der Zeitung „VölkischerBeobachter“
wiedergegeben.
Seite 12 nach der
Vorbemerkung: Die Valuta und der
Zinsfuss Foxtrott tanzend:
„Valuta und Zinsfuss
Nichts trägt das
Erinnern
den
Kriegsgewinnern.
Alles fiel zu Gefallen
Hyänen, Schakalen.
Die
Krone, die Leiche
dem
Totentanz weiche.
Parfüm
für die Nase
aus giftigem
Gase.
Nach Leben sich
sehnen
Schakale,
Hyänen.
Hinweg, was
gewesen,
Es tanzen
Prothesen“.
Der Angeklagte ist der Verfasser der erwähnten beiden Artikel in Nr. 53 und
62/28 der Zeitung „Völkischer
Beobachter“.
Der Privatkläger
hat durch seinen entsprechend bevoll
mächtigten Rechtsanwalt am 11. April 1928 schriftlich beim
Amtsgericht München, Abteilung Strafgericht,
Strafantrag
gestellt.
Der Inhalt der beiden
Artikel, in besonderem der
Inhalt des ersten Artikels sind
ein ablehnendes Urteil
über
das „Traumstück“, damit ein
tadelndes Urteil über
eine
schriftstellerische Leistung des Privatklägers.
Die in den Artikeln in
Beziehung auf den Privatkläger gebrauchten Ausdrücke: „Wiener
Judenliterat,
frechste Verhöhnung aller für ihr Vaterland gefallenen
Krieger, schmutzige
Zoten, gemeinstes und brutalstes in
den Kot ziehen
heiligster Erinnerungen, schamlose
Bewitzelung des
Opfertodes der gefallenen Frontkämpfer,
gemeine Besudelung,
einzige Gemeinheit, einzige Zote,
einziger Beweis
neudeutscher Geistigkeit, geschwollener
Pazifismus und zotiger
Zynismus eines Wiener Juden
literaten, typisch
jüdische Phrasologie, beschnittene
Problematik des
‚frontkämpferfreundlichen‘ Kraus,
beschnittene
Fackelsprache“ sind geeignet, die Ehre des
Privatklägers
zu verletzen.
Das tadelnde Urteil bleibt
strafbar, weil aus der
Häufigkeit der beschimpfenden Ausdrücke, aus der Form, das
Vorhandensein einer
Beleidigung hervorgeht.
Die Frage, ob das tadelnde
Urteil als solches berech
tigt oder nicht berechtigt
ist, zu entscheiden, ist
nicht die Aufgabe des Richters.
Der Privatkläger
hatte bei seinem Bildungsgrade das
Bewusstsein, die gebrauchten
Wendungen sind geeignet, die
Ehre des Privatklägers zu verletzen.
Der Strafantrag ist frist-
und formgerecht gestellt.
Der Angeklagte ist deshalb zweier in sachlichem
Zusammenhang stehender
Vergehen der Beleidigung schuldig
§§
185, 193, 194, 61 RStGB.
§ 20 Abs. 1 RPressges.
§ 158
Abs. 2 StPO.
Rein beschimpfende Ausdrücke
sind in grosser Zahl
gebraucht. Das ist straferschwerend. Der erste Artikel
ist geschrieben nach der
glaubhaften Versicherung des
Angeklagten in der Entrüstung über den
Inhalt und die
Aufführung des
Traumstücks. Der Angeklagte war über beides
empört, weil nach seiner
Ueberzeugung Inhalt und Aufführung
eins Verhöhnung des
deutschen Frontsoldaten sind. Die oben
unter I erwähnten Teile des
Traumstücks „Der Gürtelpelz“,
„Feldherr, Techniker,
Journalist“, „Tuberkulöses Kind“,
„Valuta und Zinsfuss“ können
Leute, die eine andere
Weltanschauung und eine andere Einstellung als der
Privatkläger
haben, zweifellos aufs stärkste erregen.
Das ist in weitestem Masse
strafmildernd.
Die Vermögensverhältnisse
des Angeklagten sind nicht
sonderlich günstig.
Unter Berücksichtigung all
dieser Umstände sind
Geldstrafen von 100 u. 100 RM angemessen. Die Geldstrafen
sind für den Fall der
Uneinbringlichkeit in Gefängnis
strafen von 5 u. 5 Tagen
umzuwandeln. §§ 27, 27c, 29,
78 RStGB. Den Artikel „‚Der Fackelkraus‘ gegen den‚Völkischen Beobachter‘. Ein
Beleidigungsprozess“ in
Nr. 132 der Zeitung „Völkischer
Beobachter“ vom 9. Juni 1928
beim Strafausmass zu
berücksichtigen, geht nicht an, weil
der Angeklagte nicht als der verantwortliche Schriftleiter
dieser Zeitung, einer periodischen Druckschrift,
auch
nicht als Verfasser,
festgestellt ist.
Weil zur Strafe verurteilt,
hat der Angeklagte auch die
Kosten des Verfahrens zu
tragen und die dem Privatkläger
erwachsenen notwendigen
Auslagen zu erstatten §§ 464, 471
StPO.
Die Beleidigung ist in einer
Zeitung, öffentlich, be
gangen. Dem Privatkläger
ist deshalb die Befugnis zuzu
sprechen, die Verurteilung
des Angeklagten auf dessen Kosten
öffentlich bekannt zu
machen. Die aus der Formel ersicht
liche Art und Frist ist
angemessen. § 200 RStGB.
Amtsgerichtsdirektor:
gez. Frank
Zur Beglaubigung
Siegel Der Urkundsbeamte:
gez. Bauer