Berliner Tageblatt, 30.9.1928VerleumdungsparadiesBerliner Tageblatt, 7.10.1928


Hochverehrter Herr Kraus,


ich habe den Spätnachmittag dazu benutzt, unser
heutiges Telefongespräch nochmals eingehend zu durchden
denken, und bin dabei zu folgenden Ergebnissen gelangt:


1. Betr. Kerr-Inserat.
Zwischen Ihnen und der Firma Rudolf Mosse, ver
treten durch ihre Zweigannahmestelle, ist ein bindender
und wirksamer Inseratenvertrag / gemischter Werkvertrag /
auf einmaligen Abdruck des Kerr-Inserats in der „Literarischen Rundschau“ des „Berliner Tageblatt“ zu stande ge
kommen. Dieser Vertrag ist auch in keiner Weise anfecht
bar oder nichtig: wegen arglistiger Täuschung nicht, weil
das Inserat den Zusammenhang klar erkennen läßt und eine
weitere Aufklärung des Filialsleiters, die zur Ab
lehnung hätte führen können, nach den Verkehrsanschau
ungen nicht erforderlich war, wegen Irrtums nicht, aus
den gleichen Gründen, und weil es sich höchstens um
einen rechtlich belanglosen Irrtum im Motiv handelt, wegen
Sittenwidrigkeit nicht, weil es zulässig sein muß, die
Öffentlichkeit über einen Kritiker auch an der Stelle
seines Wirkens aufzuklären. Demnach ist der Verlag Mosse
verpflichtet, Ihr Inserat abzudrucken oder Schadensersatz
wegen Nichterfüllung des Vertrages zu leisten. Schadens
ersatz können Sie jedoch, da Ihnen ein bestimmter Aufnahme
tag nicht zugesichert, dieses Inserat jenem Wesen nach
auch nicht erkennbar an einen solchen gebunden ist, ge
mäß §§ 636, 634, 327, 326 BGB nur verlangen, wenn der Ver
lag trotz Setzung einer angemessenen Nachleistungsfrist
seiner Verpflichtung nicht nachkommt.


Ich rate daher, falls das Inserat auch am nächsten
Sonntag nicht erscheint, am Montag, den 3. Oktober 1928,
der Inseratenabteilung des Mosse-Hauses folgenden Brief
zu schreiben / eingeschrieben! /:


„Ich habe Ihnen am Freitag, den 28. September
1928 durch Ihre Filiale … den Auftrag erteilt,
ein Inserat betr. Heft 787–794 der Zeitschrift‚Die Fackel‘ in die nächstes Nummer der ‚Literarischen Rundschau‘ des ‚Berliner Tageblatt‘ aufzu
nehmen, habe aber dieses Inserat weder in der Ausgabe vom 30. September 1928 noch in der vom 7. Ok-
tober 1923 gefunden. Ich ersuche Sie daher,
dieses Inserat spätestens in der Ausgabe der
Literarischen Rundschau‘ vom 14. Oktober 1928
zum Abdruck zu bringen. Nach dem Ablauf dieser
Frist werde ich die Annahme der Leistung ableh
nen und Schadensersatz wegen Nichterfüllung ver
langen.“


2. Betr. Beleidigungsklage gegen W.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der
Vorwurf der Lüge beleidigend ist. Durch die ironische
Wendung „Reich der einfachen Lüge“ im Gegensatz zu dem
von K. vorgebrachten Vorwurf der Verleumdung wird auch
jene Absicht der Beleidigung klargestellt, die zum Aus
schluß des§ 193 StGB erforderlich ist. Daß auch Ihnen
der Vorwurf galt, wird durch die nachträglichen Briefe
des Beschuldigten über jeden Zweifel erhoben.


Der Vorwurf der Lüge kann einmal bedeuten, daß Sie
die Äußerung des sterbenden Harden erdichtet haben. Da
gegen können wir durch Pfempfert und die Dame den völlig
schlüssigen Gegenbeweis führen.


Soweit damit aber gesagt ist, daß der dieser Äuße
rung zu Grunde liegende Vorgang nicht stattgefunden habe,
können wir einen m.E. nicht weniger schlüssigen Gegenbe
weis führen. Zunächst einmal wird die Dame bekunden, daß
Harden ihr bereits mehrere Jahre vor seinem Tode, als er
von einer Konferenz mit Rheinhardt kam, mitgeteilt,
hat, wie Rheinhardts Bedenken gegen Kerr durch W. zer
stört wurden. Sodann wird durch Zeugnis der beiden Rhein
hardts und ihres Staues vielleicht die Wahrheit zu er
weisen sein, wo durch Vorlage der Original-Kritiken sich
schon die hohe Wahrscheinlichkeit des Vorwurfs ergeben
hat. Nicht zuletzt wird dann vielleicht auch ein eidliches
„ich erinnere mich nicht“ des Bandwurms der geistigen
Welt offenbaren, warum es so schön war.


Ausgegangen aber muß von der Zeitungsnotiz werden,
der die Briefe nur als Erläuterung dienen, um Berlin-Mitte
als sicheren Gerichtsstand zu haben.


Immer bleiben dann die verschiedenen „lügenhaft“
und und der offensichtlich zu Ehrenkränkung und Blos
stellung gegenüber Dritten benutzte Vorwurf der Reklame
sucht zur Durchsetzung der Abstrafung, immer aber auch
die große Satire übrig, daß einer, dessen Tantieme am
Jahresschluß sich danach richtet, wie viele Menschen ihre
Reklamesucht gegen bare Kasse befriedigt haben, Reklame
als etwas Schimpfliches empfindet.


3. Die Beleidigungsklage gegen Müller ist vielleicht
nicht mehr erforderlich, da ihr Zweck ja durch 2 völlig
konsumiert wird, bestimmt aber bis zu dem Zeitpunkt herauszu
schieben, in dem das Wutgeschwür zum Durchbruch gekommen
ist.


4. Nicht ganz sicher ist der Ausgang einer Beleidi
gungsklage der Tochter Hardens. § 189 StGB verlangt näm-
nämlich, daß die unwahre Tatsache – Harden habe den Vor
fall erlogen – wider besseres Wissen verbreitet ist. Da
W. aber Hauptakteur des Vorfalls ist, wird sein besseres
Wissen zu unterstellen sein und ihm der Beweis seines
guten Glaubens nicht gelingen. Er könnte sich höchstens
in diesem Prozeß darauf zurückziehen, er habe nicht Harden, sondern die Verbreiter der Äußerung des Sterbenden,
die er für erdichtet gehalten habe, angreifen wollen.


Ich stehe Ihnen heute Abend und in den nächsten
Wochen jederzeit nach Vereinbarung zu mündlichen Rück
sprachen zur Verfügung und bin


in wirklicher Verehrung
Ihr
Botho Laserstein