Berliner Tageblatt


Sehr geehrte gnädige Frau!


Im Auftrag des Herrn Kraus, dessen
Wiener Rechtsanwalt ich bin, beehre ich mich Ihnen das Folgende
mitzuteilen:


Da Sie als Zeuge in seinem Prozess geladen
waren, so erklärt es sich unschwer, dass Herr Kraus vor der Ver
handlung mit Ihnen nicht Rücksprache genommen hat. Aus dem gleichen
Grund richte auch ich dieses Antwortschreiben an Sie und nicht Herr
Kraus selbst. Woraus Sie entnommen haben, er hätte „keine Zeit ge
funden“ mit Ihnen zu sprechen, als er in Berlin war, entzieht sich
seiner Kenntnis. Sollten Sie vielleicht aus einer Gesprächswendung
seines Berliner Vertreters, des Herrn Dr. Laserstein, zu dieser Ver
mutung gekommen sein, so dürfte ein Missverständnis vorliegen, da
ausschliesslich der oben angeführte Grund für das Unterbleiben eine
Zusammentreffens massgebend sein konnte. Ueberdies wäre ja, da ein
mal Ihr Wissen um die Materie bekannt und die Bekundung dieses Wis
sens von Ihnen selbst und spontan angeboten war, eine Vergewisserung
über das Ausmass und die Details Ihrer Orientiertheit überflüssig
gewesen, selbst wenn sie Herrn Kraus unbedenklich erschienen wäre.
Schon aus dieser Feststellung mögen Sie aber, sehr geehrte gnädige
Frau, ersehen, dass Ihre Ueberzeugung: Herr Kraus wäre „nicht er
staunt gewesen darüber, dass Sie nicht vor Gericht erschienen“, von
ihm keineswegs angenommen wird. Leider ist gerade das Gegenteil der
Fall und er möchte Ihnen sagen, dass er in dem Masse, in dem er
Ihren Schmerz und Ihre Entrüstung über die Blosstellung des Verstorbenen begreiflich findet, die Unterlassung der natürlichen
Konsequenz unbegreiflich findet: dass der wichtigste Zeuge, der die
Wahrheit bekräftigen und die Unwahrheit abwehren konnte, sich ab
sentiert hat. Dass Sie verehrte gnädige Frau also unterlassen haben,
wozu Sie sich freiwillig angeboten hatten. Der Umstand, dass eine
Zeitung vorher geschrieben hatte, „die langjährige Freundin Hardens
werde als Zeugin auftreten“, erscheint Herrn Karl Kraus die Fern
haltung keineswegs zu rechtfertigen, und bedauerlicherweise ist
jetzt nichts anderes erzielt, als dass die Zeitung Lügen gestraft wur
de. Jedes Ihrer im Gefühl so berechtigten Worte beweist Ihnen die
Notwendigkeit, dass gerade Sie den natürlichen Schritt unternehmen,
der sich aus der Situation und aus Ihrem eigenen Anerbieten ergibt.
Es versteht sich nach jedem Ihrer Briefe und insbesondere nach dem
letzten – und gerade in Anerkennung Ihrer Pietätspflicht – von
selbst, dass auf Ihre Zeugenschaft nicht verzichtet werden kann. Da
aber Herr Karl Kraus das tiefberechtigte Interesse an der Feststel
lung der Wahrheit, die sie ihm selbst mitgeteilt haben, mit der
schonungsvollsten Rücksicht auf Ihre Empfindlichkeit verbinden möchte,
so stelle ich Ihnen anheim mir oder Herrn Dr. Laserstein Ihren Aufent
halt in der Tschechoslovakei, wo Sie ja mehrere Monate verbleiben
wollen, bekanntzugeben, damit Ihre dortige Einvernahme in die Wege
geleitet werden kann und Sie vor einer Nervenpein der öffentlichen
Berliner Verhandlung bewahrt bleiben, ohne doch alles Wissenswerte,
was auszusprechen nicht nur ihre Zeugenpflicht ist sondern auch offen
bar von Ihnen als Freundespflicht empfunden wird, unausgesprochen
zu lassen.


Herr Karl Kraus sagt Ihnen für alle freundliche Absicht
auf der Erforschung des wahren Sachverhaltes durch mich seinen herzlichen
Dank, aber es ist selbstverständlich ganz undenkbar, dass es auch
weiterhin, wenn es schon zu der Katastrophe des erstrichterlichen
Urteiles gekommen ist, bei dieser blossen Absicht verbleibe.


Mit dem Ausdruck der vorzüglichsten Hoch
achtung und in Erwartung Ihrer baldigen freundlichen Nachricht an
mich oder an Herrn Dr. Laserstein zeichne ich


als Ihr sehr ergebener


Rekommandiert


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