Sehr verehrter Herr Kraus!


Von Herrn Siegfried Geyer erhielt ich das
folgende Schreiben und zeichne


mit ergebener Hochachtung
Dr. Samek


Siegfried Geyer Wien, am 22. November 1928.
IV. Theresianumgasse 23.


Herrn
Dr. Oskar Samek,
Wien, I.Schottenring 14.


Sehr geehrter Herr Doktor!


Ich erhielt Ihren Brief vom 20. November und
erlaube mir Ihnen folgendes zu sagen:


Ich habe mich natürlich niemals Adolf Loos
gegenüber geäussert, Karl Kraus hätte seine Vorlesung auf den
Tag der Verhandlung angesetzt, um dieser Verhandlung nicht bei
wohnen zu müssen. Karl Kraus kennt mich und meine Vorstellung
ihm gegenüber viel zu genau, nicht zu wissen, dass ich ihn viel
zu hoch schätze, ihn einer Hilfeverweigerung oder unhonorigen
Handlung gegenüber einem Freunde in schwerer Zeit fähig zu hal
ten.


Das von Loos unrichtig wiedergegebene Gespräch ging
von der seinerzeit mir von Adolf Loos geäusserten Absicht aus,
er wolle Karl Kraus als Vertrauensmann für sich der Verhandlung
beigezogen wissen. Nun sagte mir Loos bei seinem Letzten Besuch,
er wolle Herrn Soundso (er nannte den Gerichtssaalkorrespondenten
einer Wiener Tageszeitung) als Vertrauensmann für sich bestellen.
Worauf ich sehr erstaunt fragte: „Ja, was ist denn mit KarlKraus?“ Worauf Loos sagte: „Er hat an diesem Tag seine Vor
lesung.“ Worauf ich sagte: „Kann er die nicht verschieben?“
Worauf Loos sagte: „Nein, denn der Saal ist an keinem anderen
Tag frei.“ Worauf ich sagte (nein, wie immer, in das Höhrohr
schrie): „Das ist für Sie nicht gut …“ So ungefähr hat sich die
Szene abgespielt. Von einer Ladung Karl Kraus als Zeuge wusste
ich überhaupt nichts. Ich sprach nur von ihm als Vertrauensmann.


Mit dem Ausdruck der Hochachtung
Siegfried Geyer m.p.


3