Sehr geehrter Herr Kollege!
Wie ich vorausschicken möchte,
bearbeite
ich die beiden
Prozesse von Herrn Kraus nicht nur sorg
fältig, sondern bei
der von mir hochgeschätzten Persönlich
keit unseres Mandanten mit ganz besonderer Sorgfalt. Es
ist mir daher selbst am wenigsten
erwünscht, dass ich noch
keinen
glatten Erfolg berichten kann, wie ich ihn, aller
dings mit dem Vorbehalt meines
Briefs an Herrn Kraus vom8.6.1929, erhofft hatte.
Auch heute sehe ich aber die
Prozesslage nicht als ungünstig an; es sind lediglich
Zweifel hineingekommen durch die
vom Beklagten Schabbel
erst neuestens vorgebrachte
Verteidigung, er habe von der
beanstandeten Kritik vor der
Drucklegung überhaupt nicht
Kenntnis genommen. Ich lese immer noch aus Schabbels
Briefan mich vom
26.7.1929 Abs 4 das Gegenteil heraus, und finde
seinen Standpunkt unhaltbar, denn
„nicht
beanstanden“
kann man
nur einen Aufsatz, dessen Inhalt man kennenge
lernt hat. Im Strafverfahren wird
also Herr
Schabbel, der
dort den
Beweis seiner Unkenntnis zu führen hat, diesen
Beweis nicht erbringen können, es
sei denn, dass ihm zuvor
im Zivilverfahren das Gericht über seine Unkenntnis den
Eid auferlegen und er diesen Eid
leisten sollte. Wenn das
Zivilgericht aber seiner mündlichen Erklärung
entsprechend
verfährt, wird es
Herrn Schabbel
verurteilen, ohne auf den
Eid
über seine Unkenntnis zu erkennen. In diesem Falle würde
Herr Schabbel auch im
Strafverfahren zweiter Instanz verur
teilt werden.
Ich habe mich inzwischen nun
mit dem Gegenanwalt
in Verbindung gesetzt, und
dieser bietet jetzt als Beitrag
zu unsern Kosten noch RM
100.– an, dies allerdings unter
der Bedingung, dass auf
Erklärungen in der Zeitung mit Rück
sicht auf die verflossene
Zeit verzichtet wird. Dies Letzte
entspricht einem Hinweis des
Vorsitzenden im Zivilverfahren.
Dieser äusserte, von den
Lesern der Hamburger Nachrichten
würden die wenigsten Herrn Kraus kennen, ausserdem sei bei
ihnen die Angelegenheit bis
zur Rechtskraft des Urteils
völlig vergessen, und endlich sei durch die von uns ver
anlasste Berichtigung die
Unrichtigkeit der von der Zeitung
gebrachten Behauptung schon
von der Öffentlichkeit zur
Kenntnis genommen; der Artikelschreiber habe
sich bei
Herrn Kraus entschuldigt, und die Zeitung gebe laut dem
Strafurteil die
Unrichtigkeit der Behauptung zu. Diese
Auffassung scheint mir doch
beachtenswert.
Ich sehe, dass Sie, sehr
verehrter Herr Kollege,
bereit sind, bezüglich Ihrer
Kosten eine Konzession zu
machen.
Ich glaube mich nicht mit den geltenden Standesvor
schriften in Widerspruch zu
setzen, wenn ich in diesem Einzel-
fall auch meinerseits der
Verehrung für Herrn Kraus durch
die Bereitschaft zu einer
Ermässigung meiner tariflichen
Gebühren Rechnung trage. Ich möchte dies aber nicht so ver
standen wissen, als wollte ich
die beiden Prozesse auf
jeden
Fall verglichen sehen. So beurteile ich die Lage
nicht. In erster Linie halte ich
den Vorschlag der Gegen
seite für erwägenswert. Sollten Sie und Herrn
Kraus anderer
Auffassung
sein und im Gegensatz zum Zivilrichter eine
öffentliche Erklärung heute noch
für unerlässlich halten,
so würde
der Kostenzuschuss von RM 100.– durch den Gegner
wegfallen und nur der
gerichtliche Vergleichsvorschlag
übrigbleiben. Dann würde ich meinerseits allerdings mehr
für Durchführung der Prozesse
sein. Denn nach der Darlegung
des
Zivilrichters glaube ich mit einer Verurteilung von
Schabbel rechnen zu können, die
dann zugleich eine günstige
Grundlage für die zweite Instanz des Beleidigungsverfahrens
böte. Wenn ich in erster Linie
den letzten Vorschlag der
Gegenseite zu erwägen bitte, so deshalb, weil mir diese
Form der Erledigung heute
zweckmässig und auch im Kosten
punkt annehmbar zu sein scheint.
Den Termin vom 29. Januar
werde ich vertagen. Ich
bitte
um Ihre Äusserung.
Herrn Kraus darf ich durch Sie meine verbindlichsten
Grüsse übermitteln lassen.
Mit kolleg. Hochachtung
Dr. Lion