Vorgelesene Operetten. Zum Offenbach-Zyklus von Karl KrausArbeiter-ZeitungArbeiter-Zeitung, 9.6.1929Die Fackel


Strafbezirksgericht I LGR Wenger Wien, 28. Juni 1930.


Karl Kraus vor Gericht.


Karl Kraus hielt im heurigen Jahr einen Offenbach Zyklus im
Architektenvereinssaal ab bei welcher Gelegenheit er den Musikkriti
ker der Arbeiterzeitung Dr. Paul Amadeus Pisk wiederholt beleidigt haben
soll. So hat er, mitten während seines Vortrages, nach Angaben des Dr. Pisk
folgendes in den Saal gerufen: „Aber in einigen Tagen wird ein anderer Wind
aus dem Zentralorgan (Arbeiterzeitung) wehen, denn ein Vertreter des Zentralorganes, ein Schlieferl, ist hier im Saale anwesend und wird die Le
ser dahin aufklären, daß ich nicht musikalisch bin und nicht singen kann. Mit
ein paar Slezaks nehme ich es allerdings noch auf, aber ich singe nicht David-Bach sondern Offen-Bach.


In der Arbeiterzeitung vom 9. Juni kündigte Pisk die gerichtliche
Austragung dieser Angelegenheit an.


Gelegentlich des nächsten Vortrages vom 10. Juni ließ Karl Kraus
eine größere Anzahl von Exemplaren der Arbeiterzeitung im Saale verteilen
und nahm in seinem Vortrag auf den Artikel des Dr. Pisk Bezug. Er sagte u.A.:
„Das Schlieferl schreibt …“ Der „Referent, der seit Jahren den Kitsch der
bürgerlichen Operetten toleriert oder bejaht … der mit solcher Fachkritik
eine ‚Petite‘ ja noch mehr eine ‚Correpetite‘ begangen hat. (Pisk ist auch
Correpetitor) … Schlieferl und Tinterlpraktiken … Das gegen mich propagie
rende Schlieferl, losgelassen durch den Machtwahn, den ich gereizt habe … ein
kümmerlicher Schönbergschüler …“


Auf Grund dieses Tatbestandes hätte sich heute Karl Kraus als
Angeklagter vor dem LGR Wenger verantworten sollen. In seiner Vertre
tung erschien Dr. Oskar Samek und gab an:


Der Sachverhalt ist in der Klage nicht richtig angegeben. KarlKraus spricht kein Wort, das nicht in seinem Manuskript steht, der
Wortlaut seiner Rede ist in der „FackelNo 819 Seite 83 ersicht
lich, das Manuskript kann ich vorlegen. Es wird nicht in Abrede ge
stellt, daß das Wort „Schlieferl“ gebraucht wurde, aber in anderem
Zusammenhang als es der Kläger darstellt. Paul Pisk war nicht ge
nannt und nicht erkennbar, daß er gemeint war. Pisk hat am 7. Juni
selbst nicht erkannt, daß er gemeint war. Für Karl Kraus ist die
Person ganz gleichgültig, er hat nur die Sache gemeint.


Richter: Es steht aber: „Das Schlieferl schreibt …“


Vert: Wo steht das? In der Klage des Dr. Pisk. Dort sind aber alle Zitie
rungen falsch. Es ist auch nicht von einem kümmerlichen Schönberg
schüler sondern von einem kümmerlichen Fachwissen eines Schönberg
schülers gesprochen worden. Im Uebrigen werde ich für alles den
Wahrheitsbeweis erbringen. Haben Sie den Schriftsatz nicht gelesen?


Richter: Nein, Sie dürfen sich hier auch
nicht darauf berufen, wir haben mündliches Verfahren.


Dr. Otto Pisk (Vertreter des Klägers) Die Fackel ist eineinhalb Monate später
erschienen und hat die Worte nicht richtig wiedergegeben. Die Zeu
gen werden bestätigen, daß die Klage richtig ist.


Vert: Und ich kann 100 Zeugen dafür bringen, daß in der „Fackel“ kein
Wort geändert wurde und daß Karl Kraus nichts anderes gesagt hat, als
was in der Fackel gedruckt wurde.


Fritz Löwy, gibt zu mit Pisk seit vielen Jahren bekannt zu sein, kann
sich an den Wortlaut nicht mehr erinnern. Unter allgemeiner
Heiterkeit bestätigt er sowohl die Darstellung des Klägers als des
Beklagten, gibt aber an, daß es keinen Zweifel geben konnte, daß Pisk
mit den Schmähungen gemeint war, weil mit dem Programm die ArbeiterZeitung verteilt wurde und darin der Artikel des Pisk, der von ihm
voll signiert war, rot angestrichen war.


Vert: Hat Kraus frei gesprochen oder er vorgelesen.


Zeuge: Der Saal war verdunkelt, ich glaube er hat nur vorgelesen.


Otto Silbermann: Ich bin mit Pisk befreundet. Kraus hielt den Zeitungsaus
schnitt der Arbeiterzeitung in der Hand und hat die Worte gebraucht,
die in der Klage stehen. Ich habe mir Notizen gemacht und sie dem
Dr. Pisk zur Verfügung gestellt.


Vert: Ich beantrage die Beeidigung dieses Zeugen. Ich werde hundert
Zeugen bringen, daß der Zeuge unrichtig aussagt.


(Der Zeuge wird beeidigt)


Zeuge: Ich bleibe bei meinen früheren Angaben.


Richter: Hat Kraus den Dr. Pisk persönlich genannt?


Zeuge: Ja, persönlich.


Richter: Das ist ganz neu, bis jetzt hat das nicht einmal der Privatankläger
behauptet. Sie sagen unter Eid aus. Hat er den Herrn Pisk ausdrück
lich bei seinem Namen genannt?


Zeuge: Das wieder nicht, aber er hat gesagt: „der Musikreferent der Arbeiterzeitung“. Er hat auch bestimmt von einem kümmerlichen
Schönbergschüler gesprochen und gesagt: „Das Schlieferl schreibt.“


Richter: Sie wissen ganz genau, daß er wörtlich gesagt hat: „Das Schlie
ferl schreibt …“


Zeuge: Ja, er hat immer Wort für Wort und Satz für Satz aus dem Aufsatz
der Arbeiterzeitung zerpflückt, hat aber zum Schluß, nachdem er
eine Stunde lang gegen Pisk gesprochen hatte ge
sagt: „Ich meine Niemanden persönlich!“ Aber das war im Wider
spruch zu allem Vorhergesagten.


Dr. Pisk beantragt die nicht erschienen Zeugen Dr. Gropper und seine Frau in Schladming vernehmen zu lassen, sowie Frl. AnnaSchwarz als weitere Zeugin zu laden.


Vert: Ich trete den Wahrheitsbeweis an für das, was in der Fackel reprodu
ziert wurde, werde das Manuskript vorlegen und ist auch der Angeklagte bereit im Oktober vor Gericht zu erscheinen, um zu bestäti
gen, daß er nichts anderes gesprochen hat als was in Manuskript ge
standen ist.


Dr. Pisk: Ich bitte mir die Anträge zum Wahrheitsbeweis leihweise zur
Einsicht zu überlassen.


Richter: Ich kann aus dem Akt nichts herausgeben, Sie können sich eine Ab
schrift machen lassen.


Verteidiger: Ich stelle Ihnen gerne meinen Durchschlag zur Verfügung,
habe aber nur das eine Exemplar.


Richter: Die Verhandlung wird für Oktober vertagt, Karl Kraus so
fort von dem Termin verständigt, damit die Zustellung aus ge
wiesen ist.


Bezirksgericht
Spezialbericht


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