Die FackelVorgelesene Operetten. Zum Offenbach-Zyklus von Karl KrausWiener Neueste NachrichtenBerliner Börsen-ZeitungDie neue StadtArbeiter-ZeitungTraumstück


4 U 114/30


Abschrift.


1 Schilling Stempel


Strafbezirksgericht I in Wien
Eingelangt 29. Sep. 1930


An das
Strafbezirksgericht IWien.


Privatankläger:
Dr. Paul Amadeus Pisk
Musiker und Musikschriftsteller
Wien IV., Schleifmühlgasse 19
durch:
Dr. Ludwig Pisk Dr. Otto Pisk


Angeklagter:
Karl Kraus, Schrift
steller in Wien III.,Hintere Zollamtsstrasse 3
durch:
Dr. Oskar Samek


wegen Ehrenbeleidigung


1 fach 9 Beilagen


Ergänzende Sachverhaltsdarstellung des Privatanklägers mit
Stellung von Anträgen.


In der aussen bezeichneten Rechtssache bringe ich durch
meinen ausgewiesenen Vertreter nachstehende ergänzende Sach
verhaltsdarstellung mit Beweisanträgen und Anträgen zur Richtig
stellung des Verhandlungsprotokolles der Verhandlung vom
26.VI.1930 vor, wie folgt:


1) Der Herr Angeklagte hat durch seinen Verteidiger bei Angabe
der Generalien behauptet, dass er nur einmal wegen Ehrenbelei
digung vor 32 Jahren vorbestraft sei und im übrigen sich nur
Pressdelikte habe zuschulden kommen lassen.


Abgesehen davon, dass eine Ehrenbeleidigung, die durch die
Presse begangen wird, nicht nur als Pressdelikt bezeichnet wer
den kann, scheint diese Angabe den Tatsachen nicht zu entsprechen,
da ich hörte, dass der Herr Angeklagte sowohl wegen einer Beleidi
gung des Schriftstellers Felix Salten, als auch des Schrift
stellers Hermann Bahr und ebenso des Berliner Kritikers AlfredKerr verurteilt wurde. Diese Umstände, die zwar nicht unmittelbar
mit der gegenständlichen Sache im Zusammenhang stehen, sind
deshalb doch wichtig, weil es für den Herrn Angeklagten charak
teristisch ist, über Kritiker und Schriftsteller herzufallen und
sich aggressiver und beleidigender Ausdrücke zu bedienen. Deshalb
wären diese Vorstrafen für den vorliegenden Fall als Erschwerungs
gründe zu werten.


Ich lege sub A) zwei Zeitungsausschnitte vom November 1929
vor, aus denen ersichtlich ist, dass der Herr Angeklagte wegen Be
leidigung des Chefredakteurs des Berliner Tageblattes, Herrn
Theodor Wolf bzw. Alfred Kerrs zu 100 Mark Geldstrafe verurteilt
wurde und dass die Urteilsbegründung dahin lautet, dass das Be
weisergebnis keinen Anhaltspunkt für die Wahrheit der vom Angeklagten veröffentlichten Behauptungen ergeben habe.


Ich stelle den Antrag auf Bei stellung schaffung der Strafkarte des Herrn
Angeklagten zur Feststellung seiner Vorstrafen, in eventu auf
Beischaffung der diesbezüglichen Strafakten.


2.) Der Herr Beschuldigte hat in seiner Verantwortung durch sei
nen Verteidiger vorgebracht, dass er nur das zum öffentlichen
Vortrag brachte, was in der Nummer der „Fackel“ vom August 1929
gedruckt sei. Es wurde hiezu auch bemerkt, ohne dass dies im
Protokoll festgehalten wurde, dass der Angeklagte nie frei
spreche und den genauen Wortlaut seiner Manuskripte zum Druck
bringe, und nie etwas anderes. Dem gegenüber hat der Zeuge
Silbermann unter Eid dezidiert angegeben, dass er sich genaue
Aufzeichnungen über den Vortrag angefertigt und festgestellt
habe, dass der mündliche Vortrag mit dem später, erst nach
Einbringung der Klage in der Fackel erschienenen Aufsatz nicht
wörtlich übereinstimmt.


Zudem bin ich in der Lage, dem Gericht sub B/ eine facsimi
lierte Handschrift des Beschuldigten vorzulegen, aus der hervor
geht, dass die Manuskripte des Beschuldigten, bevor sie zum
Druck befördert werden, und sogar noch die Bürstenabzüge durch
unzählige Korrekturen geändert werden und dass daher die ursprüngli
che Fassung und der mündliche Vortrag mit dem nachträglich in
der Fackel Publizierten nicht identisch sein müssen.


Ich bemerke hiezu noch, dass der Angeklagte in der gegenständ
lichen Fackel selbst zum Ausdruck brachte, dass er vermute, wegen
der Aeusserung geklagt zu werden, ja noch mehr, dass er gleich
beim inkriminierten mündlichen Vortrage am 10.VI.1929 sich
äusserte: „Ich weiss, dass ich verurteilt werde, aber ich werde
das Urteil an alle Litfassäulen durch die ‚Wipag‘ anschlagen
lassen und auch im ‚Krupnikorgan‘ (Arbeiterzeitung) inserieren;
aber es wird eine triumphale Niederlage sein, um endlich den Be
weis zu erbringen, dass die revolutionäre Sozialdemokratie die
bürgerlichen Gerichte zu Hilfe nehmen muss, um mit mir fertig
zu werden. Von der Bedenkzeit werde ich gewaltig Gebrauch machen“(?)


Ueber diese Aeusserungen beantrage ich die neuerliche Ver
nehmung des Zeugen Otto Silbermann, sowie die Befragung der über
die Vorfälle vom 10.VI.1929 noch zu vernehmenden Zeugen.


Aus diesen Aeusserungen des Herrn Angeklagten ist zu schliessen
dass er im Bewusstsein seiner künftigen Verantwortlichkeit vor Gericht die Drucklegung der Vorträge redigierte und hiebei sicher
lich schon auf seine Verteidigung Bedacht nahm.


Hiefür ist jedoch noch ein weiteres Beweismittel vorhanden:
der gegenständlichen Fackel wurde der sub C beiliegende Zettel
mit der Bezeichnung: „Nach dem Druck“ beigeschlossen. In diesem
Zettel heisst es wörtlich: „Sie (die Klage) betrifft auch die im
Vortrag erfolgte Anzweiflung seiner fachmännischen Autorität.
Da dieser Zweifel im Druck noch stärker – und durch das Nachwort
verstärkt – hervortritt …“ Hier gibt der Beschuldigte expressis
verbis zu, sich bei der Drucklegung nicht an den mündlichen Vor
trag gehalten zu haben.


3) Der Herr Angeklagte hat in seiner Verantwortung durch
seinen Verteidiger vorgebracht, dass sich das Wort „Schlieferl“
nicht auf den am 7.VI.1929 anwesenden Privatankläger bezog, son
dern auf jemanden, der bei einem früheren Vortrag an einer Zusatz-
strophe Anstoss genommen habe. Dies sei nicht der Privatankläger gewesen; somit sei der Privatankläger bezüglich des
ersten Inkriminierten Vorfalles nicht erkennbar gewesen, sondern
habe nur geschlossen, dass sich die Aeusserung auf ihn beziehe.
Ebenso wäre für niemanden erkennbar gewesen, dass er gemeint
war (Zugeständnis des Beschuldigten, den Privatankläger gemeint
zu haben!).


Demgegenüber stelle ich folgendes unter Beweis: Ich war
bereits vor dem 7.VI.1929 und zwar am 3., 5., und 6.VI.1929 bei
den Offenbach-Vorlesungen des Herrn Angeklagten anwesend, siehe
Beilagen D, E und F, die von mir gekauften Eintrittskarten. Der
Beschuldigte wusste von meiner Anwesenheit und davon, dass ich
mit seiner musikalischen Darbietung nicht einverstanden war.
Der Kapellmeister Fritz Mahler, der damals in Wien weilte, hat
mich nämlich in meiner Wohnung aufgesucht und nach einer Rück
sprache über rein musikalische Angelegenheiten mich interpelliert,
wie mir die Offenbachoperettenvorführung des Angeklagten ge
falle. Ich erwiderte ihm im ähnlichen Sinne, wie ich es dann
auch später in meiner Kritik in der Arbeiterzeitung zum Ausdruck
brachte, worauf er opponierte und auch in einem späteren Schrei
ben zum Ausdruck brachte, dass er diese meine Ansicht nicht
teile.


Dieser genannte Kapellmeister hat nun dem Beschuldigten
von meinen künstlerischen Einwänden und auch davon Mitteilung
gemacht, dass ich in den Vortrag vom 7.VI.1929 kommen werde. Der
Herr Angeklagte war also genau davon unterrichtet, dass ich
derjenige bin, der an seiner Art vorzutragen Anstoss genommen
habe und ebenso, dass ich am 7.VI.1929 im Saale anwesend sein
werde. Es stellt sich daher seine Verantwortung, er habe mich
nicht gemeint, als unrichtig dar.


Ich beantrage zum Beweis über diese angeführten Umständen
meine Einvernahme als Zeuge und behalte mir vor, als weiteren Zeugen
Herrn Fritz Maler zu führen, der sich übrigens rühmt, den gegen
ständlichen Prozess verursacht zu haben.


Dass aber der Herr Angeklagte mich gemeint hat, bezw. mich
durch auf mich passende Kennzeichen genau umschrieben hat, er
gibt sich auch aus folgendem:


In seiner Verantwortung sagt der Herr Angeklagte, er habe
in dem Vortrage wörtlich gesagt: „einer aus der Arbeiterzeitung “.
Selbst wenn er nur diese Worte gesagt hätte, wäre ich als Musik
referent der Arbeiterzeitung für alle beteiligten Kreise kennt
lich gewesen. In Wahrheit aber hat der Herr Angeklagte wörtlich
gesagt: „Ein Vertreter des Zentralorgans
der österreichischen Sozialdemokratie“, also die Arbeiterzeitung),
ein Schlieferl, ist hier im Saale anwesend und wird die Leser
dahin aufklären, dass ich nicht musikalisch bin und nicht singen
kann“ (siehe Klage). Hiedurch hat der Herr Angeklagte zweifellos
zum Ausdruck gebracht, dass es sich um mich, Dr. Paul Amadeus Pisk,
Musikreferenten der Arbeiterzeitung, handelt. Dass seine Ausführungen
mir, dem Privatankläger persönlich, galten, geht auch daraus hervor,
dass er aus den ihm von Herrn Fritz Maler gemachten Mitteilungen
wusste, wer als Referent der Arbeiterzeitung, als welcher ich
übrigens in den Wiener Kunstkreisen überall bekannt bin, in den
Vortrag kommen werde.


Darüber, dass ich durch diese Bezeichnung sofort agnosziert er
schien, habe ich bereits, die Zeugin, Opernsängerin Johanna Schwarz
beantragt, die auch darüber zu befragen wäre, ob durch die vom Beschuldigten gefallene Aeusserung für alle musikalischen Kunstkreise, z.B.
die ganze Schönberggruppe, und überhaupt für das ganze literarische
Wien eine eindeutige Kennzeichnung meiner Person vorgelegen ist.


Ich bemerke hiezu, dass es der Herr Angeklagte gar nicht be
streitet, mich gemeint zu haben. Das Protokoll der Verhandlung vom
26.VI. enthält diesbezüglich eine unrichtige Wiedergabe. Der Ver
teidiger, Herr Dr. Samek, hat bei dieser Verhandlung expressis verbis
erklärt: „dass der Privatankläger nicht gemeint sei, wird nicht
behauptet“, worauf mein Vertreter ausdrücklich ersuchte, dieses Vor
bringen des Verteidigers wörtlich zu Protokoll zu nehmen. Der
Herr Schriftführer jedoch hat, offenbar in der Eile, die Protokol
lierung in etwas anderer Weise vorgenommen.


Dass ich in dem zweiten Vortrag genau bezeichnet wurde und gemeint
war, geht aus den bisherigen Beweisergebnissen unzweifelhaft hervor.
Die bisher vernommenen Zeugen bestätigen übereinstimmend, dass die
mit meinem vollen Namen signierte, in der Arbeiterzeitung erschienene
Kritik an das Publikum im Saale in vielfachen Exemplaren verteilt
wurde, dass der Beschuldigte ein Exemplar in der Hand hielt und
seine Glossen darüber machte, ferner sich mit dem Wortlaut meiner
Kritik in beleidigender Weise auseinandersetzte. Er hat auch noch
ein Uebriges getan, indem er, die flache Hand über die Augen hebend,
das Publikum visierte und sprach: „Ich muss nachsehen, ob das
Schlieferl sich wieder im Saale befindet.“


Auch über diese Umstände beantrage ich die neuerliche Vernehmung
des Zeugen Otto Silbermann sowie des Zeugen Löwy und die Befragung
der noch zu vernehmenden Zeugen.


Die Identität ist übrigens auch durch die Art der Beleidigungen
unzweifelhaft gegeben. Ich verweise auf die Ausdrücke: „küm
merlicher Schönbergschüler“ und „Korrepetite“ welche beide
Ausdrücke ebenfalls Verspottungen beinhalten und geeignet sind,
mich in der öffentlichen Meinung herabzusetzen.


Zur Erhärtung der Aussagen der bereits vernommenen Zeugen,
die, ein Jahr nach den Vorfällen, in ihrer Erinnerung nicht
mehr die genauen Wortlaute behalten haben können, lege ich
1sub G und H die unmittelbar nach der Tathandlung durch die
Zeugen erfolgten schriftlichen Niederlegungen dem Gerichte
vor, mit dem Eventualantrag, die Zeugen neuerlich einzuvernehmen
und darüber zu befragen, ob diese Darstellung tatsächlich nach
den bei den Vorträgen gemachten Notizen in frischester Erinne
rung zu Papier gebracht und dem Vertreter des Privatanklägers übermittelt wurden.


Zu dem von der Verteidigung eingebrachten Schriftsatz habe ich
soweit nicht im Vorhergehenden bereits einzelne Punkte wider
legt erscheinen, Nachstehendes zu bemerken:


Der Herr Angeklagte will geltend machen, dass er jemanden ge
meint hat, der in einem früheren Vortrage im Saale anwesend war
und behauptet den Ausdruck: „sich in den Vortragssaal, verirrt
hat“, gebraucht zu haben. Da der Herr Angeklagte die ausgezeichne
te Beherrschung der deutschen Sprache für sich in Anspruch
nimmt, so ist ihm der Unterschied zwischen Präsens und Imper
fekt zweifellos bekannt und er muss wissen, dass die Bemerkung:
„es hat sich jemand in den Saal verirrt“ sich auf den gegenwärti
gen Vortrag bezieht. Der Herr Angeklagte hätte sicherlich,
wenn er einen früheren Vortrag gemeint hätte, sich des Plus
quamperfektums, unter Erwähnung des früheren Vortrages, bedient.


Im Uebrigen gibt ja der Herr Angeklagte zu, dass er von
befreundeter Seite (siehe obige Ausführung bezüglich Fritz Maler)
von meiner Anwesenheit in Kenntnis gesetzt wurde. Hiemit er
scheint das weitere Vorbringen des Schriftsatzes, dass in die
Anwesenheit des Fachreferenten an diesem Abend unbekannt war,
im krassem Widerspruch.


Es wäre zweifellos aufrichtiger vom Herrn Angeklagten, statt
sich hinter derartige Verklausulierungen zu verschanzen und die
ohnehin negativ bereits zugegebene beabsichtigte Beleidigung
(„ich kann nicht behaupten, dass der Privatankläger nicht ge
meint war“) auch in positiver Form offen zuzugeben.


Auch die Behauptung, dass der Herr Angeklagte den Privatankläger nur flüchtig kenne und daher nicht agnoszieren konnte,
ist unrichtig. Anlässlich der Aufführung des „Traumstückes“ an der
Neuen Wiener Bühne hatte der Herr Angeklagte mit dem Privat-ankläger durch eine Reihe von Tagen bei den Proben und bei der
Aufführung täglich zu tun und hat überdies damals Vertonungen
von Nestroy-Couplets durch Wenzel Müller aus den Beständen der
Nationalbibliothek gemeinsam mit mir durchgearbeitet. Von damals
her war ihm meine Tätigkeit als Korrepetitor zweifellos bekannt,
da er sich ja selbst meiner in dieser Eigenschaft bediente.


Beweis: meine Einvernahme als Zeuge, weitere Beweise
Vorbehalten.


Die Verdunklung des Saales hat hiemit gar nichts zu tun, da,
wie bereits erwähnt, dem Herrn Angeklagten von meiner beab
sichtigten Anwesenheit berichtet wurde und da ihm sicherlich auch
meine tatsächliche Anwesenheit bekannt war, gleichgültig, ob er
mich persönlich agnoszierte oder nicht.


Beweis: Frl. Johanna Schwarz als Zeugin und meine Ein
vernahme als Zeugen.


Aus seiner Bemerkung, es hat sich (gegenwärtig) ein Vertreter
des Zentralorgans … in den Saal verirrt, geht zwingend hervor,
dass er von meiner Anwesenheit wusste.


4.) In der Folge des Schriftsatzes tritt nun der Herr Angeklagte den Wahrheitsbeweis für den Ausdruck „Schlieferl“
an, zu den ich mich wie folgt äussere:


Aus der ganzen Art des Sachverhaltes geht hervor, dass der Herr
Angeklagte im gegenständlichen Falle sich krasse Ausfälle gegen
meine Person erlaubte und mich mit dem animus injuriandi („ich
weiss, dass ich verurteilt werde …“) bewusst beleidigte. Zur
Führung eines Wahrheitsbeweises, wenn der Herr Angeklagte das
Wort Schlieferl als Kritik irgendeines auf diesen Ausdruck pas
senden Verhaltes meinerseits angewendet haben will, hätte er ein
solches, von mir gesetztes Vorgehen unter Anführung bestimmter
substanziierter Tatbestände im Zusammenhang mit dem Schimpf
wort anführen müssen; so etwa käme wenn jemand jemanden einen
Gauner nennte, ohne dazu irgend ein bestimmtes, dieses Schimpf
wort deckendes Verhaltungsmoment zu behaupten, dieses Wort
lediglich als Schimpfwort in Betracht.


Der vom Herrn Angeklagten angestrebte Wahrheitsbeweis ist un
zulässig und auch nicht geeignet, dieses Schimpfwort in irgend
einer Weise mir gegenüber zu rechtfertigen. Das Wort Schlieferl
ist, ebenso wie die anderen gebrauchten Worte „kümmerlicher
Schönbergschüler“ und „Korrepetite“ nichts anderes als ein
Schimpf und Spott, den mir der Herr Angeklagte antun wollte
und angetan hat. Es ist ständige Praxis, dass Ausdrücke
wie Schlieferl u.dgl. lediglich als Beschimpfungen nach
§ 496 StG anzusehen sind. Es gibt sehr viele Schimpfworte,
in denen irgendein Sinn und ein Bezug auf Eigenschaften
liegt und es wird trotzdem niemandem einfallen, wenn nicht
bestimmte Tatsachen bei derselben Gelegenheit behauptet und
bewiesen werden, solche Worte unter den § 491 StG zu
subsummieren. Ich könnte ein ganzes Lexikon solcher Worte
anführen, wie Hinternschliefer (eigentlich das Sinonym zu
Schlieferl), Leisetreter, Schmarotzer, Lump, Trottel, Narr,
Tölpel, Pilger (Pülcher), Tepp u.dgl. mehr. Bei dieser Art von
Schimpfworten, deren Aufzählung beliebig verlängert werden
kann, ist ein Tatbestand, der das Schimpfwort deckt,
schlechterdings nicht aufzustellen, deshalb sind es eben
Schimpfworte, die nur nach § 496 StG beurteilt werden können.
Das Wort Schlieferl ist nur so zu behandeln, wie diese angeführ
te Schimpfworte da es eine Schmähung mit Zugrundelegung einer
bestimmten Richtung und mit einem genau erkennbaren Tatbe
stand nicht beinhalten kann.


Auf die ethymologischen Ausführungen des Herrn Angeklagten
einzugehen, erübrigt sich. Es bleibt dem Gerichte überlassen,
eventuell einen Sachverständigen über die Bedeutung dieses
Wortes zu vernehmen.


Vorsichtsweise will ich jedoch, ohne meinen Standpunkt
aufzugeben, dass ein Wahrheitsbeweis hier nicht zulässig
ist, mich zu den diesbezüglichen Ausführungen des Schriftsatzes des Verteidigers äussern.


Ich stelle unter Beweis, dass ich niemals von irgendeiner
mit der Leitung der Arbeiterzeitung in Wien oder mit der
sozialdemokratischen Parteileitung in Wien in Verbindung
stehenden Personen einen Auftrag oder auch nur einen Wink
erhalten hätte, in gewisser Richtung zu schreiben, und zwar
durch Vernehmung nachstehender Personen: Friedrich Austerlitz,
Chefredakteur der Arbeiterzeitung, Dr. Oskar Pollak, verantwort
licher Redakteur der Arbeiterzeitung, Dr. David Bach, Chef des
Feuilletons der Arbeiterzeitung, Otto König, Literaturreferent
der Arbeiterzeitung, sämtliche unter der Adresse der Arbeiterzeitung V. R. Wienzeile 97, ferner die Nationalräte Paul Richter
und Dr. Robert Danneberg als Mitglieder des Parteivorstandes.


Diese Zeugen werden bekunden, dass die Behauptungen des
Herrn Angeklagten, es wären mir infolge der zwischen der
Arbeiterzeitung und ihm bestehenden Polemik irgendwelche
Winke gegeben worden, nach der einen oder der anderen Seite meine
Kritik ihnen genehm einzurichten, ganz aus der Luft gegriffen
sind und dass niemals in irgendeiner Weise, sei es von Seite
der Arbeiterzeitung, sei es von Seite der sozialdemokratischen
Partei auf die Art und Weise meiner Kritik irgendwelcher Einfluss
genommen wurde. Ich würde auch eine solche Stellungnahme ganz ent
schieden zurückweisen, denn die erste Pflicht des Kritikers ist
Gerechtigkeit und Unabhängigkeit.


Darüber, dass ich die Kritiken vollkommen unberührt von jedem
Einfluss und allein verfasst habe, beantrage ich meine Vernehmung
als Zeuge.


Ich bemerke, dass ich mit den verschiedenen Differenzen
zwischen dem Herrn Angeklagten und Herrn Dr. Bach, Nationalrat
Austerlitz, Dr. Oskar Pollak der Arbeiterzeitung und der sozial
demokratischen Partei im Allgemeinen nicht das Geringste zu tun
hatte und habe und mich niemals darum kümmerte.


Es erübrigt sich daher, auf die diesbezüglichen Ausführungen
des versuchten Wahrheitsbeweises, insbesondere auch mit der
Berufung auf den Brief Steuermann-Berg einzugehen. Dieser Brief
kann als Beweismittel in keiner Weise gewertet werden, denn die
Schreiber des Briefes und deren Hintermänner, die dem Herrn
Angeklagten mit Komplimenten und Anerkennung dienen und sich dabei
den Namen der „Radikalsten und Absolutesten der heutigen Musik“
zulegen, sind ebenfalls nur Musiker, die ihrer Meinung Ausdruck
geben und wenn auch diese Meinung mit meiner Meinung nicht über
einstimmt, kann dies ein Beweis für irgendeine Absicht, die
aus meiner Kritik hervorgehen sollte, niemals sein. Wenn sich
diese, wie sie sagen, „zünftigen“ Musiker zusammenschliessen und,
dem Grundsatze „quot capita tot sententiae“ entgegen, auf den
Herrn Angeklagten ein gemeinsames Loblied anstimmen, so ist dies
nichts anderes, als eine solche sich zusammenschliessende Clicque,
wie sie der Herr Angeklagte so strenge verpönt.


Es ist übrigens ein grotesker Zug, wenn sich der Herr Angeklagte, der sich über alle Kritik hinwegsetzt und sie verachtet
und der sich auch in politischer Hinsicht revolutionär gebärdet,
gerade auf eine Kritik der „Wiener Neuesten-Nachrichten“ (dem
Organ der Grossdeutschen Partei) beruft.


Zum Schlusse glaubt der Herr Angeklagte, noch ein besonderes
Eisen gegen mich im Feuer zu haben, wenn er sich über meine Mit
arbeit an der Berliner Börsenzeitung auslässt. Obwohl ich über-
zeugt bin, dass der Herr Angeklagte zur Zeit der Offenbachvor
träge von meiner Tätigkeit für die Berliner Börsenzeitung nichts
gewusst hat, sondern erst später, während seines Berliner Aufent
haltes davon Kenntnis bekommen hat, ist seine Darstellung falsch
und juristisch nicht zu werten. Man kann zur Erbringung eines
Wahrheitsbeweises nicht Tatsachen ins Treffen führen, von denen
man zur Zeit der Beleidigung nichts gewusst hat. Ich bin nicht
Wiener Korrespondent dieses Blattes, sondern nur Berichterstatter
für Musik und Theater, also für einen Zweigfach der Kunst, die
mit Politik absolut nichts zu tun hat.


Aber auch die Auffassung des Herrn Angeklagten ist irrig, dass
die Börsenzeitung zwischen der Deutschen-Volkspartei und den
Deutschnationalen schwanke. Ich lege sub J die programmatische
Jubiläumsnummer dieses Blattes vor, worin ausdrücklich hervorge
hoben ist, dass dieses im Privatbesitz der Familie Killisch von
Horn (nicht etwa im Besitz einer Partei) befindliche Blatt keiner
Partei zugehört. Die unterstrichenen Stellen dieser Festnummer
299 sagen ausdrücklich: „keiner Partei zugehörig, unabhängig von
jeder Organisation oder Interessengruppe … überparteilich …
Wir leihen unsere Hilfe jeder Gruppe, jeder Partei, jeder Koalition
und jeder Regierung …“.


Meine Mittätigkeit an diesem Blatt, die sich ausschliesslich
auf den Kunstteil erstreckt, ist übrigens kein Geheimnis, da sie
beiden Redaktionen bekannt ist.


Ich beantrage, falls das Gericht es nicht als notorisch annimmt,
dass die Kunst von jeder politischen Einstellung unabhängig ist,
nachstehende namhafte Wiener Kritiker als Zeugen bzw. Sachverstän
dige: Dr. Paul Stefan, Schriftsteller, Wien VIII. Hammerlingplatz 7,
Dr. Julius Korngold, Musikkritiker der Neuen Freien Presse, WienVI. Theobaldgasse 7, Dr. Ernst Decsey, Musikkritiker des NeuenWiener Tagblattes, Wien I. Wollzeile 30, Professor Dr. Max Graf WienIX.Wilhelm Exnergasse 30, Hofrat Max Springer, Musikkritiker der
Reichspost, Klosterneuburg, Stiftplatz der Rektor der Musikhochschule, Wien III. Lothringerstrasse 20, aus dem Fache der Literatur
und Theaterwesen: Alfred Kerr, Berlin, nähere Adresse wird nach
getragen, Hermann Bahr, München, nähere Adresse wird nachgetragen,
Felix Salten, Wien XVIII. Cottagegasse 37.


Zum Beweise darüber, dass tatsächlich unter dem „Referenten
des Zentralorgans der oesterreichischen Sozialdemokratie“ nur ich
gemeint sein kann, weil ich der einzige Referent dieses Blattes
für Operetten bin, beantrage ich die Vernehmung aller vorstehend
genannten Zeugen über diesen Umstand.


Wenn schliesslich der Herr Angeklagte aus meiner, von ihm
fälschlich als „Wohnbau-Kantate“ bezeichneten
Komposition den Schluss ziehen will, dass ich mich einer
Gesinnungserbötigkeit schuldig gemacht hatte, so ist dies
unrichtig. Er folgert aus der später in der Nummer der Fackel
vom Oktober 1929 von mir veranlassten Berichtigung, dass ich
etwa diese Komposition ableugnen wolle. Dies ist mir jedoch
nie eingefallen. Ich habe nur den vom Herrn Angeklagten in
Schmähungsabsicht erfundenen Titel dieser Komposition „Wohnbau-
Kantate“ berichtigt. Ich habe kein Werk dieses Namens geschrie
ben, sondern, was ich abzuleugnen keineswegs veranlasst bin, eine
oft aufgeführte und bekanntgewordene Kantate „Die neue Stadt“.
Der Text dieser Komposition ist nicht von mir und gehört
daher überhaupt nicht in den Rahmen dieses Prozesses.


Unbeschadet meinem Standpunkt, dass ein Wahrheitsbeweis für die
Beschimpfungen überhaupt nicht zulässig ist, wäre ein solcher
in dem vom Herrn Angeklagten vorgebrachten Dingen niemals zu er
bringen und müsste als vollständig misslungen angesehen werden,
so dass an der vom Herrn Angeklagten bereits vorausgesehenen
Verurteilung nicht zu zweifeln ist.


Dr. Paul Amadeus Pisk.