Der Aufruf, 20.12.1933Karl Kraus’ Abschied? [1.11.1933]Karl Kraus’ Abschied? [20.12.1933]Der Aufruf


Sehr geehrter Herr Doktor.


Ueber den Stand dieser Angelegen
heit wäre folgendes zu berichten:


Wie Sie wissen, habe ich den Inhalt
des Briefes vom 5. Dezember 1933, in welchem der ver
antwortliche Redakteur und Herausgeber des AUFRUF, der
Advokat Dr. Bill, eigentlich recht flehentlich um Gnade
gebeten hat, mit Herrn Kraus besprochen und wir sind
dahin übereingekommen, dass es nicht zweckmässig wäre,
den Brief schriftlich zu beantworten. In diesem Falle wäre
nämlich erforderlich gewesen, zu den recht dürftigen Aus
führungen des Herrn Dr. Bill Stellung zu nehmen, was,
wenn dies im Namen des Herrn Kraus geschehen wäre, eine
Zergliederung der Ausführungen des Gegners erfordert
hätte. Dies wollten wir vermeiden. Deswegen habe ich
über Weisung des Herrn Kraus auf Grund der bei der Unter
redung mit diesem gemachten Notizen Dr. Bill in tele
fonischer Rücksprache auf die logisch mangelhafte Be
gründung seiner Entschuldigungen aufmerksam gemacht und
zum Schluss der Unterredung bemerkt, Herr Kraus verlange
die Veröffentlichung der bereits vorher geforderten Be
richtigung und im Nachhange dazu einer Erklärung, dass das
Gedicht ohne Genehmigung des Autors veröffentlicht worden
sei. Dr. Bill bedankte sich und erklärte, er werde in
der nächsten Nummer des Aufruf sowohl die Berichtigung,
als auch die verlangte Erklärung veröffentlichen. Ent
gegen diesem Versprechen erschien in Nr. 6–7 der Ihnen
bekannte kleine Artikel „Karl Kraus’ Abschied?“. Der
in Ihrem Schreiben vom 5. l.M. erteilten Weisung entspre
chend, habe ich an Dr. Bill am 8. l.M. die Aufforderung
gerichtet, die von Ihnen konzipierte Erklärung zu ver
öffentlichen. Darauf erhielt ich den in Abschrift beige
schlossenen Brief vom 9. l.M., dessen Inhalt mich begreif
licherweise sehr empört hat, zumal Dr. Bill in unwahrer
Weise die mit ihm gepflogene telefonische Rücksprache
darstellt und behauptet, die Erklärung nach meinem eigenen,
von ihm bei der Rücksprache notierten Ausspruche verfasst
zu haben.


Da es sich um eine mich persönlich betreffende
Behauptung gehandelt hat, habe ich ihm, bevor ich noch
Herrn Kraus über das Schreiben vom 9. l.M. informiert habe,
laut Abschrift am 10. l.M. geantwortet. Darauf erhielt ich
den gleichfalls in Abschrift beigelegten Brief vom 12. l.M.,
der allerdings noch über die in den früheren Briefen und
Artikeln gebesserten Frechheiten hinausgeht.


Ich bitte Herrn Kraus über die gewechselten Briefe
zu informieren und ihm die juristische Situation klarzustel
len: Herrn Kraus steht nach § 21 des Urheberrechtsgesetzes
das ausschliessliche Recht zu, das Werk zu veröffentlichen.
Nach § 44 begeht einen Eingriff in das Urheberrecht, wer,
ohne dazu berechtigt zu sein, über ein Werk in einer Weise
verfügt, die das Gesetz dem Urheber vorbehält. Für diesen
Eingriff ist der Verletzer des Urheberrechtes sowohl nach
den Bestimmungen des Bürgerlichen- und Strafrechtes, sowie
nach den besonderen Vorschriften des Urheberrechtsgesetzes
verantwortlich. Da in diesem Falle das Urheberrecht durch
wissentlichen Eingriff verletzt worden ist, handelt es sich
gemäss § 45 um ein Vergehen. Nach § 50 werden die in den
§en 45 und 47 angeführten strafbaren Handlungen nur auf
Privatklage verfolgt. Die Verfolgung ist ausgeschlossen,
wenn der Berechtigte der Handlung zugestimmt oder sie ver
ziehen, oder den Antrag auf Verfolgung nicht binnen 2 Monaten
von dem Tage, an dem er von der strafbaren Handlung und der
Person des Täters Kenntnis erlangte, gestellt hat.


Objektiv verjähren die nach dem Urheberrechtsgesetze straf
baren Vergehen nach Ablauf von 2 Jahren und die Uebertretun
gen mit Ablauf von 6 Monaten von der Beendigung der straf
baren Tätigkeit.


Wenn man also gegen Dr. Bill mit der Pri
vatklage vorgehen wollte, wird er sich sicher damit ver
teidigen, Herr Kraus habe ihm den Eingriff in sein Urheber
recht verziehen. Dies kann dadurch damit widerlegt werden, dass
Herr Kraus zwar bereit war, dies zu tun, jedoch für die Ver
zeihung gewisse vom Täter nicht erfüllte Bedingungen ge
stellt hat. Dass diese Bedingungen nicht erfüllt worden
sind, kann durch meine Zeugenaussage bewiesen werden.


Herr Dr. Bill wird als Ehrenmann auch die
Verjährung einwenden, zumal das Urheberrecht bereits durch
das Erscheinen des Artikels, also am 1. November 1933, ver
letzt worden ist. Die zweimonatliche Frist wird von dem
Tage, an dem der Berechtigte von der strafbaren Handlung
und der Person des Täters Kenntnis erlangte, berechnet.
Ich habe mich in dieser Angelegenheit an den Gegner zum
erstenmal am 24.XI.1933 gewendet und er weiss nicht, wann
Herr Kraus von der strafbaren Handlung Kenntnis erlangt hat.
Wollte man jetzt noch gegen Dr. Bill auf Grund des § 45Urheberrechtsgesetz vorgehen, so müsste man behaupten, HerrKraus habe nicht früher, als 2 Monate vor dem Tage der Ueber
reichung der Privatklage von dem Berichte und dem Täter
Kenntnis erlangt.


Wiewohl ich Herrn Dr. Bill nicht für so
gesetzeskundig halte, dass er die Fristen des Urheberrechtes
kennt, kann ich es doch nicht ausschliessen, dass er, eben
um die Ueberschreitung der Frist zu erzielen, sich zur Ver
öffentlichung der Erklärung bereiterklärt hat.


Ich weiss nun nicht, ob Herr Kraus wünscht,
dass man behaupte, er hätte von dem Delikte und dem Täter in
einem Zeitpunkte Kenntnis erlangt, von welchem bis zur Ueber
reichung der Klage nicht mehr als 60 Tage verstrichen sind.
Wenn er das nicht wünscht, dann kann man heute die Klage nicht
mehr überreichen und müsste die Angelegenheit gegen den Aufruf
vorläufig damit beenden, dass man Dr. Bill in entsprechender
Weise mitteilt, dass durch die Gewährung der von ihm instän
dig erbetenen Nachsicht und durch den Umstand, dass mit der
Erfüllung der ihm auferlegten Bedingungen zu Unrecht gerech
net wurde, bedauerlicherweise die Frist zur Erhebung der
Privatklage nach § 45 Urheberrechtsgesetz verstrichen ist.
Dadurch sei er der Strafe entgangen, welche ihn nach den
Bestimmungen des Gesetzes sonst sicher getroffen hätte.


Indem ich Sie, sehr geehrter Herr Doktor,
bitte, diese Mitteilungen zur Kenntnis zu nehmen und sie HerrnKraus zur Kenntnis zu bringen, ersuche ich um die weiteren
Weisungen in dieser Angelegenheit, wobei ich bitte, auf die
oben erwähnte Frist für den Fall, dass die Klage überreicht
werden soll, Bedacht zu nehmen.


In vorzüglicher Hochachtung ergebener:
Dr. Turnovsky


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