Sehr geehrter Herr Doktor.
Ueber den Stand dieser
Angelegen
heit
wäre folgendes zu berichten:
Wie Sie wissen, habe ich den
Inhalt
des Briefes vom 5. Dezember 1933, in welchem der ver
antwortliche
Redakteur und Herausgeber des AUFRUF, der
Advokat Dr. Bill,
eigentlich recht flehentlich um Gnade
gebeten hat, mit Herrn Kraus
besprochen und wir sind
dahin
übereingekommen, dass es nicht zweckmässig wäre,
den Brief schriftlich zu beantworten. In diesem Falle
wäre
nämlich erforderlich
gewesen, zu den recht dürftigen Aus
führungen des Herrn Dr. Bill
Stellung zu nehmen, was,
wenn
dies im Namen des Herrn Kraus geschehen wäre, eine
Zergliederung der
Ausführungen des Gegners erfordert
hätte. Dies wollten wir vermeiden. Deswegen habe ich
über Weisung des Herrn Kraus
auf Grund der bei der Unter
redung mit diesem gemachten
Notizen Dr.
Bill in tele
fonischer Rücksprache auf
die logisch mangelhafte Be
gründung seiner
Entschuldigungen aufmerksam gemacht und
zum Schluss der Unterredung
bemerkt, Herr
Kraus verlange
die
Veröffentlichung der bereits vorher geforderten Be
richtigung und im Nachhange
dazu einer Erklärung, dass das
Gedicht ohne Genehmigung des Autors
veröffentlicht worden
sei.
Dr. Bill
bedankte sich und erklärte, er werde in
der nächsten Nummer des Aufruf sowohl die Berichtigung,
als auch die verlangte
Erklärung veröffentlichen. Ent
gegen diesem Versprechen
erschien in Nr. 6–7 der Ihnen
bekannte kleine Artikel „Karl
Kraus’ Abschied?“. Der
in Ihrem Schreiben vom 5. l.M. erteilten Weisung entspre
chend, habe ich
an Dr. Bill am
8. l.M. die Aufforderung
gerichtet, die von Ihnen
konzipierte Erklärung zu ver
öffentlichen. Darauf erhielt
ich den in Abschrift beige
schlossenen Brief vom 9. l.M., dessen Inhalt mich begreif
licherweise sehr
empört hat, zumal Dr. Bill in unwahrer
Weise die mit ihm gepflogene telefonische Rücksprache
darstellt und behauptet, die
Erklärung nach meinem eigenen,
von ihm bei der Rücksprache notierten Ausspruche verfasst
zu haben.
Da es sich um eine mich
persönlich betreffende
Behauptung gehandelt hat, habe ich ihm, bevor ich noch
Herrn Kraus
über das Schreiben vom 9. l.M. informiert habe,
laut Abschrift am 10. l.M. geantwortet. Darauf erhielt ich
den gleichfalls in Abschrift
beigelegten Brief vom 12. l.M.,
der allerdings noch über die
in den früheren Briefen und
Artikeln gebesserten Frechheiten hinausgeht.
Ich bitte Herrn Kraus
über die gewechselten Briefe
zu informieren und ihm die juristische Situation klarzustel
len: Herrn Kraus
steht nach § 21 des Urheberrechtsgesetzes
das ausschliessliche Recht
zu, das Werk zu veröffentlichen.
Nach § 44 begeht einen Eingriff in das Urheberrecht, wer,
ohne dazu berechtigt zu
sein, über ein Werk in einer Weise
verfügt, die das Gesetz dem
Urheber vorbehält. Für diesen
Eingriff ist der Verletzer des Urheberrechtes sowohl nach
den Bestimmungen des
Bürgerlichen- und Strafrechtes, sowie
nach den besonderen
Vorschriften des Urheberrechtsgesetzes
verantwortlich. Da in diesem
Falle das Urheberrecht durch
wissentlichen Eingriff verletzt worden ist, handelt es sich
gemäss § 45 um ein Vergehen. Nach § 50 werden die in den
§en 45 und 47 angeführten strafbaren Handlungen nur auf
Privatklage verfolgt. Die
Verfolgung ist ausgeschlossen,
wenn der Berechtigte der Handlung zugestimmt oder sie ver
ziehen, oder den Antrag auf
Verfolgung nicht binnen 2 Monaten
von dem Tage, an dem er von
der strafbaren Handlung und der
Person des Täters Kenntnis
erlangte, gestellt hat.
Objektiv verjähren die nach
dem Urheberrechtsgesetze straf
baren Vergehen nach Ablauf
von 2 Jahren und die Uebertretun
gen mit Ablauf von 6 Monaten
von der Beendigung der straf
baren Tätigkeit.
Wenn man also gegen Dr. Bill mit
der Pri
vatklage
vorgehen wollte, wird er sich sicher damit ver
teidigen, Herr Kraus
habe ihm den Eingriff in sein Urheber
recht verziehen. Dies kann
dadurch
damit
widerlegt werden, dass
Herr Kraus
zwar bereit war, dies zu tun, jedoch für die Ver
zeihung gewisse vom Täter
nicht erfüllte Bedingungen ge
stellt hat. Dass diese
Bedingungen nicht erfüllt worden
sind, kann durch meine
Zeugenaussage bewiesen werden.
Herr Dr. Bill wird
als Ehrenmann auch die
Verjährung einwenden, zumal das Urheberrecht bereits durch
das Erscheinen des Artikels, also am 1. November 1933,
ver
letzt
worden ist. Die zweimonatliche Frist wird von dem
Tage, an dem der Berechtigte
von der strafbaren Handlung
und der Person des Täters Kenntnis erlangte, berechnet.
Ich habe mich in dieser
Angelegenheit an den Gegner zum
erstenmal am 24.XI.1933
gewendet und er weiss nicht, wann
Herr Kraus von
der strafbaren Handlung Kenntnis erlangt hat.
Wollte man jetzt noch gegen
Dr. Bill
auf Grund des § 45Urheberrechtsgesetz vorgehen, so müsste man behaupten, HerrKraus habe nicht
früher, als 2 Monate vor dem Tage der Ueber
reichung der Privatklage von
dem Berichte und dem Täter
Kenntnis erlangt.
Wiewohl ich Herrn Dr. Bill nicht
für so
gesetzeskundig halte,
dass er die Fristen des Urheberrechtes
kennt, kann ich es doch
nicht ausschliessen, dass er, eben
um die Ueberschreitung der
Frist zu erzielen, sich zur Ver
öffentlichung der Erklärung
bereiterklärt hat.
Ich weiss nun nicht, ob Herr Kraus
wünscht,
dass man
behaupte, er hätte von dem Delikte und dem Täter in
einem Zeitpunkte Kenntnis
erlangt, von welchem bis zur Ueber
reichung der Klage nicht
mehr als 60 Tage verstrichen sind.
Wenn er das nicht wünscht,
dann kann man heute die Klage nicht
mehr überreichen und müsste
die Angelegenheit gegen den Aufruf
vorläufig damit beenden,
dass man Dr.
Bill in entsprechender
Weise mitteilt, dass durch
die Gewährung der von ihm instän
dig erbetenen Nachsicht und
durch den Umstand, dass mit der
Erfüllung der ihm
auferlegten Bedingungen zu Unrecht gerech
net wurde,
bedauerlicherweise die Frist zur Erhebung der
Privatklage nach § 45 Urheberrechtsgesetz verstrichen ist.
Dadurch sei er der
Strafe entgangen, welche ihn nach den
Bestimmungen des Gesetzes
sonst sicher getroffen hätte.
Indem ich Sie, sehr geehrter
Herr Doktor,
bitte, diese Mitteilungen
zur Kenntnis zu nehmen und sie HerrnKraus zur Kenntnis zu bringen, ersuche ich um die weiteren
Weisungen in dieser
Angelegenheit, wobei ich bitte, auf die
oben erwähnte Frist für den
Fall, dass die Klage überreicht
werden soll, Bedacht zu
nehmen.
In vorzüglicher Hochachtung
ergebener:
Dr. Turnovsky