Mut, Verrat oder Feigheit?


Uebersetzung


In der rubrizierten Strafangelegenheit überreiche
ich durch meinen Verteidiger folgende Beweisanträge:


1./ Der Privatkläger klagt vor allem den Satz,
resp. die Ueberschrift des Artikels „Wofür doch so ein
Karl Kraus alles Kraft, Nerven und Zeit hat“, wobei er
den Ausdruck „so ein“ für beleidigend ansieht.


Dieser Ausdruck ist jedoch durchaus anständig, enthält
nichts beleidigendes, insbesondere nicht die Absicht, den
Privatkläger lächerlich zu machen oder herabzusetzen.


2./ Ferner klagt Herr Kraus sein eigenes Zitat
und zwar den Satz „denn Polemik erfordert entweder Mut oder
ist Feigheit oder Verrat und keine Polemik ist auch eine
Polemik!“ Dieses Zitat als solches ist in keiner Weise
anstössig, umsoweniger, als es ja ein Zitat aus den Werken
des Privatklägers selbst ist. Insoferne jedoch der Kläger
diesen Satz als beleidigend empfindet und zwar in Verbindung
damit, dass er zu der Ermordung seines Freundes Erich Mühsam
und zum Schicksal des Karl Ossietzky geschwiegen hat, ver
weise ich darauf, dass der Privatkläger sich bei diesem An
lasse tatsächlich in keiner Weise geäussert hat, wiewohl man
mit Rücksicht auf sein Verhältnis zu dem ermordeten Mühsam
und auf seine frühere politische Ueberzeugung und auf seine
Beziehungen mit Recht erwarten konnte, dass er sich in irgend
einer Weise sowohl zu diesem Morde, als auch zum Schick
sale Ossietzky, dem aller Voraussicht nach das gleiche
Schicksal wie Mühsam bevorsteht, äussern werde.


Beweis: Zeugenaussage der Schriftsteller Franz Weisskopf, Prag – VIII Nc. 1361, Ernst Ottwald,
Prag – II, Betlehemsplatz, Anton Kuh, Prag –II, Hotel ESPLANADE, Ivan Olbracht, Krč 173,
Wieland Herzfeld, Prag – I, Konviktsgasse 5,
Herrmann Budislavský, Prag – X, Žižkagasse 4,
Prof. Zdeněk Nejedlý, Prag-Smíchov, Dienzenhofferpark 2.


3./ Es war nirgends behauptet, der Privatkläger
habe die Menschheit und Menschlichkeit verraten und die
Polemik aus Feigheit unterlassen. Allerdings ist es wahr,
dass der Privatkläger früher im und nach dem Kriege mit
den Repräsentanten des damaligen Regimes heftig polemisiert
hat, insbesondere auch mit Schober, dass er Anhänger des
demokratischen Regimes und der sozialdemokratischen Partei
gewesen ist. Erst von der Zeit an, in welcher ein Wechsel
im Regime Deutschlands und Oesterreichs eingetreten ist,
hat er die Polemik mit diesen faszistischen Regimen einge
stellt, insbesondere mit dem Dollfuss’ Feys und Schnuschniggs,
sodass er seine früher demokratische Gesinnung geändert hat.


Beweis: wie ad 2./


4./ Schliesslich sind die geklagten letzten Sätze
gleichfalls nicht beleidigend, denn es ist absolut nicht
wahr, dass der Privatkläger mit einer Grande Cocotte oder
mit einer Klosettfrau verglichen worden wäre, es handelt
sich vielmehr um eine Polemik mit den Anhängern des Privatklägers und gegen deren irrigen Ansichten. Uebrigens
ist in dem Ausdruck „Grande Cocotte“ oder „Klosettfrau“
nichts beleidigendes zu erblicken, umsoweniger als der
Autor des Artikels sogleich beifügt, er wolle gegen Klosett
frauen nichts gesagt haben, die ja gewiss ebenso ehrlich
arbeitende Frauen sind, wie irgendwelche andere Arbeiterinnen.
Keinesfalls wollte jedoch der Artikel, resp. dessen Autor,
damit vom Privatkläger Tatsachen aussagen, welche ihn ver
ächtlich oder lächerlich machen oder ihn herabsetzen müss
sten, zumal vom Privatkläger selbst weder bei diesem Pas
sus, noch sonst wo die Rede ist, sondern nur von Hitler
barden, welche trotz ihren früheren Verdiensten heute
begeisterte Verehrer des faszistischen Regimes sind, wie
zum Beispiel Benn.


Beweis: wie ad 2.


Prag, am 10.I.1935.


Dr. Marie Schnierer.