Der Sozialdemokrat


Sehr geehrter Herr Doktor.


In Erledigung Ihres gesch. Schreibensvom 25. d.M. gestatte ich mir bekanntzugeben:


Die Bestimmungen der §§ 1339 und 1340 A.B.G.B.
wurden durch das Gesetz über den Schutz der Ehre vom 28.6.1933
Nr. 108 aufgehoben und es fallen jetzt auch die nicht öffentlich
erfolgten Ehrenbeleidigungen unter den Tatbestand des § 1 desEhrenschutzgesetzes, insofern sie in einer Weise begangen worden
sind und unter Umständen, nach welchen mit Bestimmtheit angenom
men werden musste, dass die Beleidigung anderen Leuten zur Kennt
nis gelangen konnte. Dies gilt insbesondere auch von durch den
Inhalt eines Briefes zugefügten Beleidigungen, wobei die Tatsache,
dass der Brief wirklich anderen zur Kenntnis gelangt ist, belang
los ist, insoferne der Schreiber annehmen und sich dessen bewusst
sein konnte, dass der Brief voraussichtlich anderen zur Kenntnis
gelangen wird. Daraus muss geschlossen werden, dass der Tatort
nicht der Ort der Absendung oder Verfassung des Briefes, sondern
der Wohnsitz des Adressaten ist , woraus sich wiederum ergibt, dass
für brieflich begangene Beleidigungen der Gerichtstand in der
Tschechoslovakei besteht, insofern es sich um einen in Wien auf
gegebenen, in die Tschechoslovakei adressierten Brief handelt.
Die Verfolgbarkeit vor den politischen Behörden ist jedoch wie
oben erwähnt, durch das neue Ehrenschutzgesetz aufgehoben.


Ich bestätige bei dieser Gelegenheit auch den
Empfang Ihres letzten Briefes vom 24. d.M. mit dem korrigierten Entwurfe des Schriftsatzes. Diesen habe ich gestern
übersetzt und werde ihn heute überreichen lassen.


Den auf dem zweiten Bogen als 4/ bezeichnten Punkt habe
ich im Sinne Ihrer Ausführungen umgearbeitet und werde noch
Entscheidungen zum § 9 Abs. 3/ des Ehrenschutzgesetzes stu
dieren, evtl. aus den Materialien des Gesetzes festzustellen
trachten, ob dieser Strafausschliessungsgrund für die Presse
polemik nach der Absicht des Gesetzgebers und nach der
Praxis ausgeschlossen sein soll.


Das neue Ehrenschutzgesetz hat die Einschrän
kung des Wahrheitsbeweises der §§ 489 und 490 des altenStrafgesetzbuches fallen gelassen. Es besteht jetzt keine
gesetzliche Vorschrift, nach welcher es dem Beleidiger ver
wehrt wäre, für beleidigende Handlungen oder Aeusserungen
den Wahrheitsbeweis zu führen. Daraus schliesse ich, dass
auch für die behauptete Tatsache, der Privatkläger habe
„ läppische“ Angriffe gegen den Marxismus und die Sozial
demokratie unternommen, der Wahrheitbeweis geführt werden
darf und dass es tatsächlich geschehen könnte, dass das Gericht
sich mit der Frage, ob die Ausfälle läppisch waren oder als
solche bezeichnet werden dürfen, beschäftigen wird.


Da uns jedoch hauptsächlich daran gelegen war, zu
erwirken, dass die Prozessmaterie auf das notwendige Mass eingeschränkt
und nicht ins Unermessliche erweitert werde, andererseits
zu verhindern, dass der Gegner, um das Verfahren zu sabotieren,
die Durchführung der von ihm angebotenen Beweise durchsetzt,
habe ich lieber die Inkriminierung dieses ganzen Satzes wider
rufen und also auch auf die Anklage wegen der in der Bezeich
nung der Ausfälle als läppisch bestehenden Beleidigung ver
zichtet.


Ich glaube, dass es zweckmässig ist, Herrn Heinrich Fischer und Dr. Emil Franzl jetzt schon zu nennen und habe
deshalb den Beweis durch diese beiden Herren beantragt.


Herrn Fischer kann ich nicht erreichen. Ich habe
ihn wiederholt angerufen, auch in der URANIA hinterlassen, er
möge mich anrufen, doch ist dies bisher nicht geschehen.
Ich nehme an, dass er sich heute abend bei mir melden wird
und werde ihm dann bekanntgeben, was ihm Herr Kraus durch
mich sagen liess.


Bisher ist es mir nicht gelungen, jenen von HerrnKraus erwähnten, gegen die Emigranten gerichteten Artikel, der
im „Sozialdemokrat“ erschienen sein soll, ausfindig zu machen.
Da auch ein sehr eifriges Mitglied des Emigrantenkommitees
von diesem Artikel nichts wusste und bei den anderen Ausschuss
mitgliedern hierüber auch nichts erfahren konnte, dürfte an
zunehmen sein, dass Herr Kraus unrichtig informiert worden
ist und dass ein solcher Artikel von seinem Informator offen
bar in einem anderen Blatte gelesen wurde. Ich werde jeden
falls weiter nach dem Artikel suchen.


Zum Schluss möchte ich Sie noch bitten, Herrn Kraus
zu ersuchen, er möge selbst jene Stellen aus dem Artikel
Hüben und Drüben“ bestimmen, die er zum Beweise darüber heranziehen will,
dass in diesem Aufsatze die gleichen Angriffe gegen die sozial
demokratischen Führer enthalten waren, wie in den Aufsätzen der
letzten Fackelhefte. Ich möchte es nämlich vermeiden, den gan
zen Aufsatz zu übersetzen, was ja vom sprachlichen Standpunkt aus
ohnehin kaum in befriedigender Weise geschehen könnte.


Wollen Sie, sehr geehrter Herr Doktor, Herrn Kraus
meine besten Empfehlungen bestellen und selbst meine besten
Grüsse entgegennehmen.


Mit vorzüglichster Hochachtung ergebener:
Dr. Turnovsky


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