Die Fackel als fascistische Hetzschrift?


Sehr geehrter Herr Doktor.


Ich habe Ihnen den Empfang Ihres
gesch. Briefes vom 8. d.M., sowie des eingesendeten FackelheftesNr. 876 bis 884 nicht bestätigt und trage dies hiemit nach.
Nach abermaliger Lektüre des Aufsatzes „Hüben und Drüben
komme ich wiederum zu der Erkenntnis, dass es unmöglich ist,
die Prosa des Herrn Kraus in einer einigermassen befriedigenden
Weise zu übersetzen. Es hätte auch kaum einen Sinn, einige
Stellen des Aufsatzes „Hüben und Drüben“ dem Gerichte in tsche
chischer Uebersetzung vorzutragen, da sich offenbar wiederum
die Situation ergeben würde, die im Prozesse gegen den „AUFRUF
eingetreten ist. Das Gericht wird voraussichtlich erklären, es
könne sich aus den Zitaten selbst kein Bild über die Tendenz
und den Inhalt des betreffenden Aufsatzes machen, weswegen die
Vorlage einer genauen und vollständigen Uebersetzung aufgetra
gen wird. Es ergibt sich dann die Frage, wen man mit der Ausar
beitung dieser Uebersetzung betrauen könnte und wer fähig wäre,
die Aufsätze des Herrn Kraus derart in die tschechische Sprache
zu übertragen, dass sie nicht an der Bildhaftigkeit der Ausdrucks
weise und Kraft der Darstellung einbüssen. Ueberdies müsste jedoch
die Uebersetzung derart sein, dass ihre Richtigkeit von einem
Gerichtsdolmetsch beglaubigt werden könnte.


Nun beglaubigen Dolmetsche bekanntlich nur jene Ueber
setzungen, die den übersetzten Text wörtlich wiedergeben.
Einen Text von Karl Kraus wörtlich zu übersetzen, ist aber
nicht nur unmöglich / wie könnte man das Bild und den Ausdruck
folgender Stelle auch nur einigermaßen entsprechend wieder
geben: Ausdruck des steten Würdebewusstseins mit vergnügten
Sinnen, das von den Zinnen der Partei wie von einem Lug- und
Trug-ins-Land auf alles Untertänige hinabschaut. /, sondern
müsste eine Darstellung ergeben, die den wahren Inhalt des
Textes verzeichnet und die Kunst der Sprache nicht erkennen
lässt.


Man müsste also, um dem Gerichte den Inhalt
des Aufsatzes „Hüben und Drüben“ zur Kenntnis zu bringen
und um den beabsichtigten Zweck zu erreichen, nämlich zu beweisen, dass dieser Auf
satz die gleiche Tendenz hatte wie jener, durch den der
Schreiber des inkriminierten Artikels zu dessen Verfassung
provoziert worden sein will, doch Sachverständige heranziehen.


Ich glaube, dass als einziger Prof. Dr. OtokarFischer in Betracht käme, weiss jedoch nicht, ob es Herrn Kraus
genehm wäre, dass ich ihn als Sachverständigen beantrage und
kann schliesslich nicht einmal dafür garantieren, dass ihn das
Gericht als Sachverständigen zuliesse. Diese Bedenken sind bei
mir durch den Verlauf der Hauptverhandlung gegen Butschowitz
Dr. Bill entstanden, resp. noch vergrössert worden.


Ich habe nämlich bei dieser Verhandlung konstatie
ren müssen, dass es beinahe unmöglich ist, dem Gerichte das Wesen
des Prozesses verständlich zu machen und dass man, wenn man nach
einer Hauptverhandlung den Eindruck hatte, das Gericht wüsste
jetzt, worum es sich handelt, bei der nächsten zur Ueberzeu
gung gelangen muss, alles, was man früher gesagt hat, sei ohne
Wirkung geblieben und man müsse von vorne anfangen. Das ist
ausserordentlich deprimierend vor allem deshalb, weil jedesmal
zu konstatieren ist, dass das Gericht mit grösster Bereitwillig
keit jede Gelegenheit ergreift, die Sache zu vertagen, sodass es
gar nicht abzusehen ist, wann es zu einer Urteilsfällung kommen
wird. Dabei muss ich sagen, dass die Richter der beiden Presse
senate keine schlechten Juristen sind und in den üblichen Presse
streitigkeiten verhältnismässig gut und auch gerecht judizieren.
Sobald aber ein Prozess Probleme zum Inhalte hat, die den Richtern
fremd sind und in die sie sich einarbeiten müssten, stösst man
auf einen Widerstand, den zu überwinden beinahe unmöglich erscheint.


Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass mir die Auf
wendung der bisher vergeblichen Mühe gar nichts ausmacht und dass
ich jederzeit gerne bereit bin, in Sachen des Herrn Kraus meine
bescheidenen Kräfte, soweit eben diese reichen, einzusetzen. Es
bedrückt mich nur das Bewusstsein, dass ich nicht weiterkomme,
und auch die Furcht vor einem ähnlichen Fehlurteil, wie wir es
in der Berichtigungsangelegenheit bereits erlebt haben.
Diese Furcht wäre natürlich weitaus geringer, wenn es sich nicht
um Prozesse des Herrn Kraus handelte und um Pressesachen, die
aus sprachlichen Gründen den Richtern nicht begreiflich gemacht
werden können. Trotzdem könnte ich nicht dazu raten, einem Antrage
auf Delegierung eines deutschsprachigen Gerichtes zuzustimmen,
weil die Richter eines solchen Gerichtes voraussichtlich auch
nicht gescheiter sein werden, als die des Prager-Pressesenates
und weil bei jenen eine bei den Prager-Richtern immerhin vorhan
dene Eigenschaft, nämlich die Unvoreingenommenheit, nicht unbe
dingt vorauszusetzen ist.


Es wird sich also darum handeln, sich zu ent
scheiden, ob der Aufsatz „Hüben und Drüben“ übersetzt werden
oder ob man nicht lieber über den Inhalt dieses Aufsatzes ein
Sachverständigengutachten einholen soll. Entscheidet man sich
für die zweite Eventualität, steht man vor der Frage der Wahl
des Sachverständigen.


Ich bitte daher, Herrn Kraus zu befragen, ob
er damit einverstanden ist, dass ich mich an Herrn Prof. Fischer
wende und zwar sowohl wegen der Uebersetzung, als auch wegen der evtl.
Uebernahme des Sachverständigenamtes oder ob er sonst irgendwelche
diesbezügliche Wünsche hat. Dabei bemerke ich, dass mir gerade
heute die Ladung zur Hauptverhandlung für den 1.III. d.J.
zugestellt wurde.


Ich habe alle diese Mitteilungen nicht nur für
den Prozess gegen den „Sozialdemokrat“ sondern auch für alle an
deren anhängigen Streitfälle vorgetragen, um Herrn Kraus und Ihnen,
sehr geehrter Herr Doktor, zur Kenntnis zu bringen, welche Schwie
rigkeiten hier bestehen. Trotzdem wollte ich dadurch nicht
etwa zum Ausdrucke bringen, dass ich die Prozesse für aus
sichtslos halte oder dass ich dazu rate, in allen Fällen einen
Vergleich anzustreben, sondern vielmehr heute schon darauf
vorbereiten, dass mit einer baldigen Beendigung der Prozesse
nicht zu rechnen ist.


Indem ich Sie, sehr geehrter Herr Doktor, bitte,
diese Mitteilungen zur Kenntnis zu nehmen und Herrn Kraus zur
Kenntnis zu bringen und ihm meine ergebensten Grüsse zu bestellen
zeichne ich mit dem Ausdrucke


vorzüglicher Hochachtung Ihr ergebener
Dr. Turnovsky


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