Die Fackel als fascistische Hetzschrift?Karl Kraus – sechzig Jahre [Der Sozialdemokrat]


Sehr geehrter Herr Kollege!


Ich bestätige Ihnen mit bestem Dank den
Empfang Ihres freundlichen Schreibens vom 25. Februar 1935. Durch
die Herrn K. und mir erst in den letzten Tagen bekannt gewordene
Möglichkeit der Gegner, den Anklagen mit dem § 9 Absatz 2 desEhrenschutzgesetzes ein wirksames Hindernis entgegenzusetzen,
ist auch die Angelegenheit „Sozialdemokrat“ in ein Stadium ge
treten, das eine Ueberprüfung unserer Pläne und Angriffsmittel
erfordert. Die von uns früher für so günstig gehaltene Beweis
führung durch den Aufsatz „Hüben und Drüben“, dass die Gegenseite trotz der gleichen Tendenz dieses Aufsatzes den Huldigungsartikel geschrieben hat, konnte mit einiger Geschicklichkeit vom
Beschuldigten gerade dazu benützt werden, um jene „Objektivität“ zu be
scheinigen, die trotz aller Gegnerschaft in der Anschauung noch
den Huldigungsartikel zuliess, aber nach Erscheinen des Juliheftes eben zur energischesten Abwehr herausgefordert wurde, da
es ja einen grossen Unterschied bedeute, ob eine Partei nach den
Ereignissen des Februars 1934 in solcher Weise angegriffen werde
oder ohne solche Ereignisse, und insbesondere, ob für die politischen, siegreichen Gegner
in solcher Weise Stellung genommen werde oder nicht. Diese Gefahr
macht es notwendig, mehr als auf die Gleichartigkeit der Angriffe
in dem Aufsatz „Hüben und Drüben“ und im Juliheft 1934 auf die
Tatsache hinzuweisen, dass der Huldigungsartikel nicht nur in
Kenntnis des Aufsatzes „Hüben und Drüben“ sondern auch in
Kenntnis der „Haltung“ des Herrn K. zu den Februar-Ereignissen
geschrieben worden ist. Dieser Beweis lässt sich durch Herrn
Heinrich Fischer führen, der mit Herrn Emil Franzl bei der An
wesenheit des Herrn K. in Prag nach den Februar-Ereignissen
wiederholt über die „Haltung“ des Herrn K. gesprochen hat, und
es wäre zweckmässig, Herrn Heinrich Fischer und Herrn Emil Franzl
über diese Tatsache einvernehmen zu lassen. Den schärfsten Nach
druck muss man aber auch auf die Entgegnung gegen die Berechti
gung einer solchen „Erregung“ im publizistischen Verkehr legen
und auf die Erbärmlichkeit der Ausrede auf eine solche Erregung
hinweisen, die offenbar vor dem Leser nur zur Schau getragen
wurde, in Wirklichkeit aber gar nicht gefühlt sein konnte, da
ja auch der Huldigungsartikel in Kenntnis der „Haltung“ des
Herrn K. geschrieben wurde. Es ist psychologisch unmöglich, dass
eine Erregung durch einen Huldigungsartikel unterbrochen wird
und dann wieder fortgeht. Diese Kenntnis von der „Haltung“ des
Herrn K. geht sogar aus gewissen Wendungen des Artikels hervor
und überdies erfolgte auch die Absage des Rundfunkvortrages für
den Brünner Sender vor dem Artikel, und war daher dem Blatt und
Herrn Franzl bekannt. Herr Franzl hatte selbstverständlich Kennt
nis von dem ganzen Inhalt der Erregung, die sich seines FreundesBrügel bemächtigt hatte, der den Rundfunkvortrag hätte halten
sollen. Diese Erregung mag, so töricht sie an und für sich ist,
vielleicht vorhanden gewesen sein, aber sie wurde eben durch
den Huldigungsartikel des Blattes in drastischer Weise unter
brochen und das Gegenteil kam zum Vorschein. Erst die beleidigende Notiz, die nach so vielen Monaten erschien, geht wieder
auf den früheren Zustand zurück und deckt sich durchaus mit den
Motivierungen des Herrn Brügel, die in einem Schreiben an Herrn
Professor Jaray zum Ausdruck kamen und eben in dem Juliheft
als die Grundhaltung des Kreises besprochen worden ist. Es
geht denn doch nicht an, dass man über denjenigen, dem der
Huldigungsartikel und zwar in voller Kenntnis der inzwischen
eingetretenen Umstände gewidmet ist, in solch diametral ent
gegengesetztem beleidigenden Ton schreibt und sich dann auf
Erregung ausredet. Diese Entschuldigung wäre höchstens dann
glaubhaft, wenn das Blatt überrascht gewesen wäre und in völ
liger Ahnungslosigkeit bezüglich des angeblichen Umschwunges
der Haltung die Notiz geschrieben hätte. Es kommt vielleicht
heute auf andere Beweise überhaupt nicht mehr an, sondern haupt
sächlich auf eine Uebersetzung des Huldigungsartikels. Die Vor
lage aller alten Werke, selbst die des Juliheftes, ist eigent
lich überflüssig geworden und auch die Vorlage des Aufsatzes
Hüben und Drüben“ ist nicht so zwingend als Gegenbeweis gegen
das Moment der Erregung, wie jener Huldigungsartikel, denn
Hüben und Drüben“ liesse noch trotz seinem vehementesten Angriff
die Anerkennung des Autors durch den „Sozialdemokraten“ zu, aber
der begeisterte Artikel vom 28. April ist in voller Kenntnis der
Umstände geschrieben, macht also eine eventuelle Ausrede, dass
der Inhalt des Juliheftes überraschend kam, selbst wenn man ihn
für eine Steigerung der Aversion gegen die Partei ansehen wollte,
weil eben die ganz bestimmte Ansicht des Herrn K. über die Er
eignisse vom Februar in Prag und insbesondere in den betreffenden
Kreisen bekannt war, ja bis zur Absetzung jenes Rundfunkvortrages
(26.4.) nachweislich geführt hat, unmöglich.


Im Falle der Beweisführung müsste man auf
das Moment vom „Zuchthäusler und Lassalle“ grösstes Gewicht legen.
Die Gegner wären dazu zu verhalten, klar auszusprechen, wen sie
als diesen Zuchthäusler bezeichneten. Sehr wichtig erscheint auch
die Einvernahme des Herrn Franzl, der möglicherweise in einer
Person Autor des Huldigungsartikels und der beleidigendenNotiz ist. Allerdings wäre zu erwägen, ob nicht gerade dieser
Umstand die Komödie von der „Erregung“ unterstützen könnte.
(Ich kann Ihnen leider alle Ausführungen nur als meine Meinung
und als Gedanken von Herrn K. und mir zur Kenntnis bringen, wir
müssen aber selbstverständlich die Taktik im Prozess Ihrer be
währten Führung überlassen, da ja in einem Augenblick sich
manches als notwendig erweisen könnte, was vorher nicht
überlegt werden konnte und anderes, was geplant war, als un
möglich.) Herr Heinrich Fischer weiss ganz genau, dass Franzl
längst unterrichtet war, er hatte mit ihm schon zu Beginn der
zweiten Februarhälfte über die „Haltung“ des Klägers gesprochen.
Ausserdem kannte sie ein gewisser Erich Heller, der jenen HerrnBrügel informiert hatte, und der durch den Kläger selbst auf
geklärt worden war. Ihre Hauptaufgabe wäre es also, sehr ge
ehrter Herr Kollege, falls das Beweisverfahren eröffnet werden
sollte, dem eventuellen Einwand der „Erregung“ auf das
Energischeste entgegenzutreten, die Unanwendbarkeit des betreffen
den Paragraphen (falls überhaupt bei Pressdelikten möglich)
gerade auf diese Tatsache nachzuweisen, was die Gegenseite
für ihre Ehrenerklärung nachgiebig machen dürfte. Für diese ge
nügt natürlich wieder eine allgemeine Zurückziehung mit Bedauern.


Bei dieser Gelegenheit erlaube ich mir auch
die Anfrage, ob der Gegenseite das Kunststück gelungen ist, die
3 bis 4.000 Seiten Uebersetzung herzustellen und vorzulegen?


Indem ich Ihnen den besten Dank und die
herzlichsten Grüsse des Herrn K. übermittle und Sie selbst herz
lichst grüsse, zeichne ich


mit vorzüglicher kollegialer
Hochachtung
Ihr ergebener