Sehr geehrter Herr Doktor.
Nachdem ich die Anordnung
der Haupt
verhandlung für den Herrn Kraus genehmen
Termin / 15.IV.1936 /
erwirkt
hatte, habe ich mir die Uebersetzung der einzelnen
zum Wahrheitsbeweis
herangezogenen Stellen aus den verschie
denen Fackelheften
vorbereitet. Vorsichtshalber habe ich mich
bei Herrn Fischer
erkundigt, ob er bereits die Vorladung zur
Hauptverhandlung erhalten
hat, da ich weiss, dass das Gericht
manchmal die Ladung der
Zeugen übersieht, und vermeiden woll
te, dass dies auch diesmal,
wenn Herr Kraus eigens nach Prag
kommt, geschehe. Da mir Herr Fischer sagte, er habe noch keine
Ladung erhalten, fuhr ich
heute zum Strafgericht Pankrac, wo
selbst ich
folgende Feststellung machen musste:
Herr Dr. Schwelb hat als Verteidiger
des Angeklagten dieser Tage eine Eingabe bei Gericht überreicht,
in welcher er namens des Angeklagten ankündigt, dieser werde
sich bei der
Hauptverhandlung mit der weiteren Einwendung ver
teidigen, dass der Privatkläger am 27.I.1936 in der Presseange
legenheit Tk
XIX366/36 mit ihm einen Vergleich abgeschlossen
hat, ohne sich vor Abschluss
des Vergleiches das Recht vorzube
halten, den Angeklagten wegen des Inhaltes des
inkriminierten Artikels vom 10.8.1934 zu verfolgen. Dadurch
sei
der Privatkläger des Klagerechtes im ersten Prozesse verlustig
geworden. Er sei daher der
Ansicht, dass bei der Hauptverhand
lung keine weiteren Beweise
zugelassen werden dürfen, also auch
nicht der Beweis durch
Verlesung der Protokolle über die Einver
nahme der Zeugen Dr. Franzel, Dr.
Brügel und Heinrich Fischer.
Sollte das Gericht jedoch anderer Ansicht
sein, dann verwahre
auch er
sich gegen die Vorlesung dieser Protokolle und bestehe
auf Einvernahme dieser
Zeugen, wobei er als weiteren Beweis über
das gleiche Thema die
Einvernahme des Herrn Dr. Erich Heller be
antrage.
Ich habe mit dem
Vorsitzenden des Pressesenates
Dr. Tisek über diese Eingabe gesprochen und zu meiner nicht
ge
ringen
Ueberraschung festgestellt, dass er von der Durchführung
weiterer Beweise absehen
will und der Ansicht ist, dass das Kla
gerecht wegen Unterlassung
des oben angeführten Vorbehaltes
tatsächlich erloschen ist.
Dazu muss ich Folgendes
bemerken:
Es ist richtig, dass beim
Abschlusse des Verglei
ches in der zweiten
Presseangelegenheit gegen Dr. Strauss der
Vorbehalt der Verfolgung
wegen des in dem I. Prozesse inkriminierten
Artikels nicht gemacht wurde. Ich habe dies auch nicht
für notwendig gehalten und
bin überzeugt, dass dieser Vorbehalt
nach den bestehenden
gesetzlichen Vorschriften im Gesetze auch
nicht vorgesehen ist.
Die Verteidigung spielt auf
die Bestim
mung
des § 18 des Gesetzes über den Ehrenschutz an. Dieser
Para
graf ist
überschrieben: „Gegenseitige Klagen“ und lautet:
„1./ Ist es zu einem
Vergleiche oder zu einem Urteile über
eine Privatklage wegen
einer nach diesem Gesetze strafbaren
Handlung gekommen, so
kann die eine Partei die andere Partei
wegen einer anderen
derartigen strafbaren Handlung, die diese
gegen sie bis zum
Abschlusse des Vergleiches oder bis zum
Schlusse des
Beweisverfahrens begangen hat, nur dann verfolgen,
wenn sie sich vor dem
Vergleiche oder vor Schluss des Beweis
verfahrens ausdrücklich
das Recht ihrer Verfolgung vorbehalten
hat. Dieser Vorbehalt
ist nicht notwendig, wenn der Berechtig
te von der strafbaren
Handlung oder von der Person des Schuldi
gen erst nach Abschluss
des Verfahrens oder nach Schluss des Be
weisverfahrens Kenntnis
erlangt hat.
2./ Auch wenn sich die
Partei nach der Bestimmung des Ab
satzes 1/ das Recht der
Verfolgung der anderen Partei vorbehal
ten hat, ist die
Verfolgung ausgeschlossen, falls das Begehren
um Strafverfolgung nicht
innerhalb der gesetzlichen Frist ge
stellt wurde.
3./ Die Bestimmungen des
Absatzes 1 gelten auch dann, wenn
die von der Gegenseite
begangene strafbare Handlung in tatsäch
lichem Zusammenhang mit
der Handlung steht, derentwegen es zur
Hauptverhandlung
gekommen ist. Das Begehren um Strafverfolgung
der von der Gegenseite
begangenen Handlung kann jedoch in
einem solchen Falle noch
binnen 15 Tagen nach Abschluss des
Vergleiches oder nach
Schluss des Beweisverfahrens gestellt
werden, selbst wenn die
gesetzliche Frist zur Einbringung der
Privatklage bereits
abgelaufen ist.“
Daraus geht noch – wie ich
bestimmt annehmen zu
dürfen
glaube – Folgendes hervor: Die Verfolgung einer sol
chen strafbaren Handlung
muss bis zum Abschlusse des Verglei
ches oder bis zur
Schliessung des Beweisverfahrens nur in
solchen Fällen vorbehalten
werden, in welchen die strafbare
Handlung noch nicht verfolgt
wurde. Der Vorbehalt der Ver
folgung einer bereits
verfolgten strafbaren Handlung hätte
doch keinen Sinn und der
Gesetzgeber hätte, wenn er diesen
Vorbehalt auch für solche
Fälle hätte statuieren wollen, un
bedingt sagen müssen: „…, so
kann die eine Partei die
andere Partei wegen einer anderen derartigen strafbaren Hand
lung, die diese gegen sie
bis zum Abschlusse des Vergleiches
oder bis zum Schlusse des
Beweisverfahrens begangen hat, nur
dann verfolgen, wenn sie
sich vor dem Vergleiche oder vor
Schluss des Beweisverfahrens
ausdrücklich das Recht ihrer
Verfolgung oder ihrer Weiterverfolgung vorbehalten hat.“
Dass der Gesetzgeber nicht
diese Absicht hatte,
geht
meiner Ansicht nach aus den Materialien zum § 18 hervor.
Da ist gesagt: „Einer
besonderen Regelung bedarf der Fall der
gegenseitigen Klagen. Aus
der Praxis ist der beliebte Vorgang
bekannt, dass bei
gegenseitigen Beleidigungen bis zum letzten
Tage der Frist gewartet
wird, damit die andere Partei nicht
mehr gegenseitig klagen
könne. Dies will der Entwurf durch
die Bestimmung verhindern,
dass wegen gegenseitiger straf
barer Handlungen gegen die
Sicherheit der Ehre noch bis zur
Beendigung des
Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung, wel
che über die Klage des einen
der Beklagten angeordnet wurde,
geklagt werden kann, mag
auch die regelmässige Klagefrist
schon abgelaufen sein.
Die angeführten Bestimmungen
gelten nur, wenn die
gegenseitig begangenen strafbaren Handlungen in tatsächlichem
Zusammenhange stehen, wenn
also zum Beispiel die Beleidigung
an Ort und Stelle erwidert
wurde. Aber auch wenn ein solcher
Zusammenhang nicht besteht,
ist aus dem eben angeführten Grun
de wünschenswert, die
Möglichkeit der gegenseitigen Klagen
einzuschränken, wenn es
schon zu einem Vergleiche oder zum
Urteile gekommen ist. Wollen
sich nämlich die Parteien das
Klagerecht wegen irgendeiner strafbaren Handlung, welche sich
zwischen ihnen bis zum
Abschlusse des Vergleiches oder bis
zur Beendigung des
Beweisverfahrens ereignet hat und welche
dem Berechtigten bereits
bekannt war, wahren, so sollen beide
Parteien genötigt sein, sich
das Verfolgungsrecht ausdrück
lich bis zu der angeführten
Zeit vorzubehalten.
Ferner sagt der
Motivenbericht: Die gleichen Grund-
sätze, wie im § 17 sind auch die Grundlage für die Fassung
des §
18. Durch den Vergleich oder das Urteil gemäss Absatz
1des § 18
sollen alle zwischen den Parteien entstandenen Sachen
erledigt werden und die nachträglichen Klagen / vorausgesetzt,
dass die Beleidigungen
bekannt sind / durch den ausdrücklichen
Vorbehalt bedingt sein. Die
Motivenberichte sprechen also
ausdrücklich von gegenseitigen Beleidigungen und Klagen und
von nachträglichen Klagen,
deren Ueberreichung eben nur mög
lich sein soll, wenn sie bis
zum Abschlusse des Vergleiches
oder bis zur Beendigung des Beweisverfahrens vorbehalten wurde.
Daraus geht doch sicherlich
hervor, dass
es nicht
notwendig ist, sich die Ueberreichung der Klage oder
die Strafverfolgung
vorzubehalten, wenn es sich nicht um gegen
seitige, sondern nur um
einseitige Beleidigungen handelt, die
bereits verfolgt wurden und
bezüglich welcher das Strafverfah
ren noch anhängig ist.
Dies habe ich auch
Obergerichtsrat Dr.Tisek
auseinandergesetzt; er erklärte jedoch, dass er meine Aus
legung nicht für richtig
halte und dass das Obergericht in einem
solchen Falle eine von Dr. Tisek herausgegebene Entscheidung
auch bestätigt habe. Dagegen
hat das Oberste Gericht diese
Frage noch nicht
entschieden, weswegen Dr. Tisek die
Gelegenheit
begrüsse,
eine Entscheinung des Obersten Gerichtes
herbeizuführen.
Man muss also damit rechnen,
dass bei der
für den 15. d.M.
angeordneten Hauptverhandlung, zu der keine
Zeugen geladen werden, keine
Beweise durchgeführt werden dürften
und dass nur über die Frage
ein Beschluss gefasst werden wird,
ob das Klagerecht wegen der
Unterlassung des Vorbehaltes nach
§
18 beim Abschlusse des Vergleiches in der zweiten Presseange
legenheit erloschen und der
Angeklagte daher freizusprechen ist.
Unter diesen Umstanden weiss
ich nicht, ob sich
Herr Kraus zu dieser Verhandlung wird einfinden
wollen und ich
mache mir,
wenn ich auch an diese Auslegung des Gesetzes nicht
habe denken können,
Vorwürfe, dass ich den Vorbehalt beim Ab
schlusse des Vergleiches in
der zweiten Angelegenheit nicht ge
macht und dadurch, wenn auch
unbewusst, zur Komplizierung die
ses Prozesses beigetragen
habe.
Ich hoffe jedoch, dass das
Oberste Gericht diese
Auslegung des § 18 des Ehrenschutzgesetzes nicht bestätigen und
einer gemäss § 281 Zahl 9 St.P.O. überreichten Nichtigkeitsbeschwer
de stattgeben
wird.
Indem ich Sie, sehr geehrter
Herr Doktor, bitte,
diese Mitteilung zur
Kenntnis zu nehmen und an Herrn Kraus weiter
zuleiten, bin ich
mit besten Grüssen an ihn und Sie
in vorzüglichster
Hochachtung ergebener:
Dr. Turnovsky