Karl Kraus contra „Sozialdemokrat“Der Verrat der GeistigenDer Sozialdemokrat, 30.11.1935Die Fackel als fascistische Hetzschrift?Karl Kraus verliert einen ProzeßProzeß Karl Kraus – „Sozialdemokrat“ [16.4.1936][Erklärung über Karl Kraus im Zusammenhang mit dem Artikel „Der Verrat der Geistigen“]


Sehr geehrter Herr Kollege!


Mit bestem Dank auch von seiten des HerrnK. bestätige ich den Empfang Ihrer freundlichen Briefe vom 22.,
23. und 24. April 1936. Ich beantworte diese Briefe zusammenfassend
nach den folgenden Gesichtspunkten:


1.) Berichtigungen. Herr K. schliesst sich der Ansicht an, dass
gegen das ‚Prager Tagblatt‘ die Berichtigungsklage aussichtslos
ist und wird diesen Fall in der Weise erledigen, dass er diesem
Blatt einen Brief schreiben lässt, der die Niederträchtigkeit der
Verweigerung der Berichtigung bei der Aufnahme einer offensichtlich falschen Notiz darstellt.


An die ‚Prager Presse‘ könnte die Berichtigung vielleicht ohne den ersten Absatz noch einmal gesendet wer
den, mit einem Begleitbrief, ungefähr des folgenden Wortlautes,
den ich vorschlage und in welchem Herrn Laurin die Möglichkeit
gegeben wird, auch den letzten Satz auszulassen, wenn er diesen
Satz nicht als dem Gesetz entsprechend erachtet:


Hochgeehrter Herr! Ich danke Ihnen für Ihre freundliche
Absicht, aber ich könnte beim besten Willen, gegen einen Artikel,
der mit dem Schein der Richtigkeit in jedem Wort und zwischen
den Worten von Unwahrheiten strotzt, keine andere Berichtigung
oder Entgegnung verfassen. Da Sie die Berichtigung der Stelle
von der Beendigung beanstanden, so schicke ich die Berichtigung
ohne diese. Ich wäre auch damit einverstanden, dass Sie den
letzten Satz, obwohl ich auf diesen Wert lege, weglassen, wobei
ich Ihnen mitteilen möchte, dass die LIDOVE NOVINY die Berichti-
gung vollständig gebracht hat. Mit vorzüglicher Hochachtung.“


In der Berichtigung an den ‚Sozialdemokrat
könnte vielleicht zur Verdeutlichung des Grundes des Freispruches
der letzte Satz in der folgenden Weise geändert werden:


„Wahr ist vielmehr, dass Dr. Strauss lediglich aus dem
formalen Grund freigesprochen wurde, weil sich der Privatkläger
Karl Kraus in einem zweiten von ihm gegen den gleichen Angeklagten angestrengten Prozess, in welchem sich dieser zur
Veröffentlichung einer Ehrenerklärung wegen ähnlicher Beleidi
gungen, zur Bezahlung der Verfahrens- und Anwaltsspesen und
zu einer Busse zu Gunsten der Arbeitslosen der Hauptstadt
Prag verpflichtete, die Weiterverfolgung der im ersten Prozess
unter Anklage gestellten Beleidigungen nicht vorbehalten hat.“


Herr K. gibt auch zu bedenken, ob es nicht
möglich wäre, mit der Klage auf Widerruf gegen den ‚Sozialdemokrat
vorzugehen, und erbittet sich Ihre Meinungsäusserung. Ich selbst
halte diese Klage nicht für ausgeschlossen. Allerdings ist es schwer,
den Zusammenhang zwischen dem Bericht und einer Beeinträchtigung
des Erwerbes oder Fortkommens logisch herzustellen. Zu erwägen
wäre auch, ob dieser Prozessbericht nicht zum Gegenstand einer
neuen Ehrenbeleidigungsklage gemacht werden kann, denn die Behauptung,
Kraus habe gegen das österreichische Proletariat und seine helden
haften Schutzbündler Stellung genommen, war in dem Artikel vom10. August 1934 nicht enthalten und stellt eine ganz neue Beleidigung
dar. Eventuell könnte sogar die Wiederholung der früheren Beleidi
gungen im Zusammenhang mit der falschen Behauptung, Dr. Strauss sei
von der gegen ihn erhobenen Anklage vollinhaltlich freigesprochen
worden, womit offenbar zum Ausdruck gebracht werden soll, dass er
die Wahrheit der Beleidigungen erwiesen habe, als neue Beleidigung
aufgefasst werden. Auch darüber erbitte ich mir Ihre geschätzte
Meinungsäusserung.


In der Berichtigung für den ‚Tagesboten
möchte ich vorschlagen, gleich den ersten Absatz auszulassen, weil
es mir wirklich bedenklich erscheint, das Wort „beendet“ zum
Gegenstand einer Berichtigung zu machen, wenn später ausdrücklich
mitgeteilt wird, dass eine Nichtigkeitsbeschwerde erhoben wurde,
so dass auch dem simplern Leser klar werden kann, dass es sich nur
um eine Beendigung in der ersten Instanz gehandelt hat. Für die
beiden anderen Punkte der vorgeschlagenen Berichtigung möchte ich
im Einvernehmen mit Herrn K. kleine Aenderungen vorschlagen, die
ich auf den von Ihnen eingesendeten Entwürfen verzeichnet habe.
Ich sende Ihnen sämtliche Berichtigungen wieder zurück und bitte
Sie, sehr geehrter Herr Kollege, sie mir gelegentlich wieder ein
zusenden, damit ich sie meinem Akt anschliessen kann.


2.) Nichtigkeitsbeschwerde. Zu dieser sind Herrn K. und auch mir
einige verwendbare Argumente eingefallen, die ich Ihnen mitteile,
wobei die Auswahl selbstverständlich Ihnen überlassen bleibt.
Da ich nicht weiss, wie Sie Ihre Nichtigkeitsbeschwerde aufbauen
werden, bringe ich sie ohne jede Ordnung vor, wie sie mir gerade
einfallen.


Der § 18 kann nicht auf den verantwortlichen
Redakteur bezogen werden, sondern nur auf den wirklichen Täter.
Er sagt ausdrücklich, dass er nur bei einer strafbaren Handlung
in Betracht kommt, die nach diesem Gesetz (Ehrenschutzgesetz)
zu behandeln ist. Im § 23 des Gesetzes heisst es ausdrücklich,
dass die allgemeinen Bestimmungen mit den in diesem Abschnitt
angeführten Abweichungen im Verfahren über eine Privatanklage
wegen Uebertretung der Vernachlässigung der pflichtgemässen Sorg
falt bei der Herausgabe einer Druckschrift, durch deren Inhalt
ein Vergehen nach diesem Gesetz begangen wurde, zur Anwendung
kommen sollen. Der § 18 gehört nicht zu den allgemeinen Bestim
mungen dieses Abschnittes, nicht zu den Verfahrensbestimmungen,
sondern ist eine materiellrechtliche Bestimmung, ist also auf
den verantwortlichen Redakteur nicht anwendbar. Die Berufung auf
die Bestimmung des § 6, Absatz 5 ist abwegig. Der Richter selbst
gibt zu, dass es sich nicht um einen eigentlichen Strafausschlies
sungsgrund handelt. Er nimmt aber an, dass das Erlöschen des Ver
folgungsrechtes gegenüber dem Täter durch die Unterlassung des
Vorbehalts „a contrario“(?) die Verfolgung des angeklagten verant
wortlichen Redakteurs unzulässig mache, was als Strafausschliessungs
grund angesehen werden müsse. Diese Argumentation könnte jedoch
nur dann stattfinden, wenn der Täter mitgeklagt wäre und schon nach
gewiesen wäre, dass beide Artikel von demselben Täter herrühren.
(Wie denn, wenn zwei verschiedene Täter vorhanden wären?) Hier aber,
wo dies nicht feststeht, musste der Strafausschliessungsgrund
respektive der Hemmungsgrund für die Weiterverfolgung dem verantwortlichen Redakteur originär und nicht erst abgeleitet zustehen,
was eben, wie oben dargestellt wurde, nicht der Fall ist.


Nicht nur die Ueberschrift zum § 18 „Gegenseitige Klagen“ lässt darauf schliessen, dass der Gesetzgeber die
sen Paragraphen nur bei gegenseitigen Beleidigungen Anwendung fin
den lassen wollte, sondern auch die Textierung. Die Worte „… so
kann die eine Partei die andere Partei wegen einer anderen der
artigen strafbaren Handlung …“ setzen doch offenbar, dem Titel
gemäss, Gegenseitigkeit voraus und sind unverständlich, wenn sie
auf den Fall angewendet werden, dass dieselbe Partei dieselbe ande
re Partei wegen einer anderen derartigen strafbaren Handlung ver
folgen will, denn für diesen Fall ist schon die Bestimmung des § 57St.P.O. vorhanden, wo der Angeklagte die Aeusserung verlangen muss.
Vorgesorgt soll offenbar für den Fall werden, dass der Beschuldigte
sich bereitwillig in einen Vergleich einlässt, mit der Mentalre-
servation, vom Privatkläger Verzeihung zu erlangen und ihn dann
wegen einer ihm bekannten Beleidigung bestrafen zu lassen. (Siehe
das Wort „Entweichen“ im Motivenbericht!) Als Ueberraschungsmoment
wäre zu verwenden, dass sogar die Definition des Erstrichters
selbst über den Begriff des Vergleiches im Ehrenbeleidigungspro
zess, so abwegig sie an und für sich ist und so sehr sie sich be
müht, das Gegenteil zu beweisen, geradezu beweist, dass es sich um
gegenseitige Beleidigungen handeln muss. Denn der Vergleich bei
einseitiger Beleidigung, bei welcher der Privatkläger auf die Be
strafung des Angeklagten durch das Gericht verzichtet, sondern sie
im eigenen Wirkungskreis in Form einer Busse, einer Ehrenerklärung
und Kostenzahlung auferlegt, bedeutet nicht „ein gegenseitiges
Nachgeben, eine gegenseitige Ausgleichung des gestörten Gleichge
wichtes zwischen den Parteien, eine Erneuerung des gegenseitigen
ruhigen gesellschaftlichen Zusammenlebens, der gegenseitigen Wert
schätzung und Achtung“. (Die ganze komische Sentimentalität, be
sonders die Stelle mit dem „Schatten zwischen den Parteien“ müsste
erörtert werden.) Hauptsächlich hat sich der Richter durch die
Anwendung des Plurals gefangen. Denn dies ist nur bei gegenseiti
gen Beleidigungen der Fall oder denkbar, bei welchen sich beide
Beleidigten und Beleidiger ausgleichen. Bei Fällen, wie in dem
vorliegenden, tritt an Stelle der Strafe die Busse, die Ehrener
klärung, aber von einer Erneuerung eines gegenseitigen ruhigen
gesellschaftlichen Zusammenlebens, der gegenseitigen Wertschätzung
und Achtung kann natürlich (bei publizistisch-politischen Fällen)
keine Rede sein. Der beste Beweis dafür ist der Bericht des‚Sozialdemokrat‘ über den Verlauf der Verhandlung, der vielleicht
am besten dem Oberstgerichte vorgelegt wird, und aus dem zur Ge-
nüge bewiesen wird, wie wenig Eindruck die sentimentale Erklärung
des Gerichtes erster Instanz auf den Angeklagten gemacht hat. Die
ganze Begründung ist ein Residuum aus dem Gedankengang, den eine
3richtige Interpretation des Gesetzes, die auf Gegenseitigkeit,
mit sich bringt. Denn nur aus der richtigen Interpretation des
Gesetzes heraus kann ein Richter sagen, dass bloss über den aus
drücklichen Wunsch der Parteien, durch den Vorbehalt eine Ausnahme
erfolgen könnte, oder dass die einzige Ausnahme, welche das Ge
setz für Fälle statuiert, in welchen einer der Streitparteien die
strafbare Handlung oder die Person des Schuldigen noch nicht be
kannt ist, auf andere Fälle nicht ausgedehnt werden könne. Wo
anders als bei gegenseitigen Beleidigungen könnte der Fall eintre
ten, dass unabhängig von der Beklagten- oder Klägerrolle, also von
der Parteienrolle, den Parteien ein Vorbehalt zustünde. Wie sollte
denn dem einseitig Beklagten ein Einfluss auf den Vorbehalt zu
stehen? Für die gegenteilige Auffassung: dass es sich um zwei
Klagen desselben Klägers handelt, ist diese Interpretation absurd,
ja unmöglich, wie überhaupt die ganze Begründung. Nur zwei, die
einander geklagt haben, können so erfüllt von der Moral der richter
lichen Begründung und so versöhnt auseinandergehen (und vielleicht
auch streitende Nachbarsleute). Man müsste vielleicht auch darauf
hinweisen, dass die trockene Ehrenerklärung des Blattes, mit der
man sich begnügt hat und die vorgelegt werden kann, nicht die
Sprache von Sentimentalität enthält, wie sie in der moralischen
Auseinandersetzung des Erstrichters zum Vorschein kommt. Bei einer
solchen moralischen Auffassung dürfte es überhaupt keinen „Vorbe
halt“ geben. Dass es einen solchen Vorbehalt geben kann, zeigt, dass
es sich bei einem Vergleich in Ehrenbeleidigungsprozessen nicht um
ein Sentiment, sondern um eine rein praktische Austragung handelt.
Es sollte vielleicht auch darauf hingewiesen werden, dass in
der Erklärung, die der ‚Sozialdemokrat‘ am 27. Januar 1936 abgexgeben hat, er nur die in der ausdrücklich bezeichneten Nummer 279der Zeitung vom 30. November 1935 aufgestellten beleidigenden
Behauptungen über Karl Kraus zurückzieht. Es ist implicite darin
gelegen, dass die anderen beleidigenden Behauptungen in den
früheren inkriminierten Artikel vom 10. August 1934 nicht zurück
gezogen, nicht in den Vergleich einbezogen wurden und daher Ge
genstand weiterer Verfolgung sein können und sollen. Das war
wohl auch die Ansicht des Angeklagten, der sich nach Abschluss
das Vergleiches durch Mittelspersonen um einen Vergleich auch
in dieser Sache beworben hat und der auf die gerichtliche Ge
legenheit verwiesen wurde, dort diesen Vergleich zu erlangen.
Die Definition des Vergleiches als ein gegenseitiges Nachgeben,
als eine gegenseitige Ausgleichung des gestörten Gleichgewichtes
zwischen den Parteien, eine Erneuerung des gegenseitigen ruhigen
gesellschaftlichen Zusammenlebens, der gegenseitigen Wertschätzung
und Achtung hat Herrn K. geradezu bestürzt, da sie ihn sozusagen
seelisch verpflichten sollte, mit dem ‚Sozialdemokrat‘ in diese
gemeinsame Stimmung zu kommen, die auf keiner Seite vorliegt.
Höchstens könnte von einem Nachgeben, von nichts anderem Psychi
schen, insoferne die Rede sein, als eine Strafe mit Busse und
sachlichem Widerruf vertauscht wird. Sie werden sich vielleicht
auch noch erinnern können, dass bei der letzten Verhandlung, auf
die Frage des Richters, ob eine Ehrenerklärung von seiten des
Sozialdemokrat‘ abgegeben werden könnte, diese abgelehnt wurde,
mit der Begründung, die frühere Ehrenerklärung sei abgedruckt und
bei dieser Gelegenheit verspottet worden; der Oberste Gerichtshof
habe dies für unfair erklärt. Darauf hat der Verhandlungsleiter
gesagt, dies sei nicht richtig, der Oberste Gerichtshof habe bloss
gesagt, dass, wenn vereinbart werde, eine Ehrenerklärung in einem
bestimmten Blatt abzudrucken, es unfair sei, diese Erklärung auch
in anderen Blättern abzudrucken. Der Richter selbst hat gar nichts
daran gefunden, dass eine Ehrenerklärung vom Empfänger derselben
besprochen und das Verhalten der Gegenseite einer abfälligen Kritik
unterzogen werde. Er musste aber bei seinen Begriffen von einem
5Vergleich ein derartiges Verhalten ablehnen, das ja wirklich bei
einer Versöhnungsaktion (nach gegenseitiger Beleidigung) unstatt
haft wäre.


Ich hoffe, dass Sie noch rechtzeitig in den
Besitz des Briefes gelangen und manches aus ihm verwenden können.


Bei dieser Gelegenheit übersende ich Ihnen
auch den Durchschlag des vorbereitenden Schriftsatzes, den Herr K. und ich in dem Prozess gegen die Brünner Arbeiterzeitung verfassthaben und der Sie sicherlich sehr interessieren wird.


Ich möchte Ihnen noch mitteilen, dass Sie
Herr K. gestern abend telephonisch angerufen hat, wovon Sie wahr
scheinlich unterrichtet sind, lediglich um Ihnen mitzuteilen, dass
er am 29. und 30. April 1936 in Brünn sein wird, wo Sie eventuell
Gelegenheit hätten, mit ihm persönlich zu sprechen. Ich glaube aber,
dass dies nicht notwendig sein wird.


Indem ich Sie herzlichst grüsse und auch die
besten Grüsse des Herrn K. übermittle, zeichne ich mit vorzüglicher
kollegialer Hochachtung


Ihr ergebener


4 Beilagen.
Express. Rekommandiert.