Sehr geehrter Herr Kollege!
Mit bestem Dank auch von
seiten des HerrnK. bestätige ich
den Empfang Ihrer freundlichen Briefe vom 22.,
23. und 24. April 1936. Ich beantworte diese Briefe zusammenfassend
nach den folgenden
Gesichtspunkten:
1.) Berichtigungen. Herr K. schliesst sich
der Ansicht an, dass
gegen
das ‚Prager Tagblatt‘ die
Berichtigungsklage aussichtslos
ist und wird diesen Fall in
der Weise erledigen, dass er diesem
Blatt einen Brief schreiben lässt, der die Niederträchtigkeit
der
Verweigerung der
Berichtigung bei der Aufnahme einer offensichtlich falschen Notiz darstellt.
An die ‚Prager
Presse‘ könnte die Berichtigung vielleicht ohne den ersten Absatz noch einmal gesendet wer
den, mit einem
Begleitbrief, ungefähr des folgenden Wortlautes,
den ich vorschlage und in
welchem Herrn Laurin die Möglichkeit
gegeben wird, auch den
letzten Satz auszulassen, wenn er diesen
Satz nicht als dem Gesetz
entsprechend erachtet:
„Hochgeehrter Herr! Ich danke Ihnen für Ihre freundliche
Absicht, aber ich könnte
beim besten Willen, gegen einen Artikel,
der mit
dem Schein der Richtigkeit in jedem Wort und zwischen
den Worten von Unwahrheiten
strotzt, keine andere Berichtigung
oder Entgegnung verfassen.
Da Sie die Berichtigung der Stelle
von der Beendigung
beanstanden, so schicke ich die Berichtigung
ohne diese. Ich wäre auch
damit einverstanden, dass Sie den
letzten Satz, obwohl ich auf
diesen Wert lege, weglassen, wobei
ich Ihnen mitteilen möchte,
dass die LIDOVE NOVINY die Berichti-
gung vollständig
gebracht hat. Mit vorzüglicher Hochachtung.“
In der Berichtigung an den
‚Sozialdemokrat‘
könnte vielleicht zur
Verdeutlichung des Grundes des Freispruches
der letzte Satz in der
folgenden Weise geändert werden:
„Wahr ist vielmehr, dass Dr. Strauss lediglich aus dem
formalen Grund
freigesprochen wurde, weil sich der Privatkläger
Karl Kraus in einem zweiten
von ihm gegen den gleichen Angeklagten angestrengten Prozess, in welchem sich dieser zur
Veröffentlichung einer
Ehrenerklärung wegen ähnlicher Beleidi
gungen, zur
Bezahlung der Verfahrens- und Anwaltsspesen und
zu einer Busse zu Gunsten
der Arbeitslosen der Hauptstadt
Prag verpflichtete, die Weiterverfolgung der im ersten Prozess
unter Anklage gestellten
Beleidigungen nicht vorbehalten hat.“
Herr K. gibt auch zu bedenken, ob es nicht
möglich wäre, mit der Klage
auf Widerruf gegen den ‚Sozialdemokrat‘
vorzugehen, und erbittet
sich Ihre Meinungsäusserung. Ich selbst
halte diese Klage nicht für
ausgeschlossen. Allerdings ist es schwer,
den Zusammenhang zwischen
dem Bericht und einer
Beeinträchtigung
des
Erwerbes oder Fortkommens logisch herzustellen. Zu erwägen
wäre auch, ob dieser Prozessbericht nicht zum Gegenstand
einer
neuen
Ehrenbeleidigungsklage gemacht werden kann, denn die Behauptung,
Kraus habe gegen das österreichische Proletariat und seine
helden
haften
Schutzbündler Stellung genommen, war in dem Artikel vom10. August 1934 nicht enthalten und stellt eine ganz neue Beleidigung
dar. Eventuell könnte sogar
die Wiederholung der früheren Beleidi
gungen im
Zusammenhang mit der falschen Behauptung, Dr.
Strauss sei
von der
gegen ihn erhobenen Anklage vollinhaltlich
freigesprochen
worden,
womit offenbar zum Ausdruck gebracht werden soll, dass er
die Wahrheit der
Beleidigungen erwiesen habe, als neue Beleidigung
aufgefasst werden. Auch
darüber erbitte ich mir Ihre geschätzte
Meinungsäusserung.
In der Berichtigung für den
‚Tagesboten‘
möchte ich vorschlagen,
gleich den ersten Absatz auszulassen, weil
es mir wirklich bedenklich
erscheint, das Wort „beendet“ zum
Gegenstand einer
Berichtigung zu machen, wenn später ausdrücklich
mitgeteilt wird, dass eine
Nichtigkeitsbeschwerde erhoben wurde,
so dass auch dem simplern
Leser klar werden kann, dass es sich nur
um eine Beendigung in der
ersten Instanz gehandelt hat. Für die
beiden anderen Punkte der
vorgeschlagenen Berichtigung möchte ich
im Einvernehmen mit Herrn K. kleine Aenderungen vorschlagen, die
ich auf den von Ihnen
eingesendeten Entwürfen verzeichnet habe.
Ich sende Ihnen sämtliche
Berichtigungen wieder zurück und bitte
Sie, sehr geehrter Herr Kollege,
sie mir gelegentlich wieder ein
zusenden, damit
ich sie meinem Akt anschliessen kann.
2.) Nichtigkeitsbeschwerde. Zu dieser sind Herrn K. und auch mir
einige verwendbare Argumente
eingefallen, die ich Ihnen mitteile,
wobei die Auswahl
selbstverständlich Ihnen überlassen bleibt.
Da ich nicht weiss, wie Sie
Ihre Nichtigkeitsbeschwerde aufbauen
werden, bringe ich sie ohne
jede Ordnung vor, wie sie mir gerade
einfallen.
Der §
18 kann nicht auf den verantwortlichen
Redakteur bezogen werden,
sondern nur auf den wirklichen Täter.
Er sagt ausdrücklich, dass
er nur bei einer strafbaren Handlung
in Betracht kommt, die nach
diesem Gesetz (Ehrenschutzgesetz)
zu behandeln ist. Im § 23 des Gesetzes heisst es ausdrücklich,
dass die allgemeinen
Bestimmungen mit den in diesem Abschnitt
angeführten Abweichungen im
Verfahren über eine Privatanklage
wegen Uebertretung der
Vernachlässigung der pflichtgemässen Sorg
falt bei der
Herausgabe einer Druckschrift, durch deren Inhalt
ein Vergehen nach diesem Gesetz begangen wurde, zur Anwendung
kommen sollen. Der § 18 gehört nicht zu den allgemeinen Bestim
mungen dieses
Abschnittes, nicht zu den Verfahrensbestimmungen,
sondern ist eine
materiellrechtliche Bestimmung, ist also auf
den verantwortlichen
Redakteur nicht anwendbar. Die Berufung auf
die Bestimmung des § 6, Absatz 5 ist abwegig. Der Richter selbst
gibt zu, dass es sich nicht
um einen eigentlichen Strafausschlies
sungsgrund
handelt. Er nimmt aber an, dass das Erlöschen des Ver
folgungsrechtes
gegenüber dem Täter durch die Unterlassung des
Vorbehalts „a contrario“(?)
die Verfolgung des angeklagten verant
wortlichen
Redakteurs unzulässig mache, was als Strafausschliessungs
grund angesehen
werden müsse. Diese Argumentation könnte jedoch
nur dann stattfinden, wenn
der Täter mitgeklagt wäre und schon nach
gewiesen wäre,
dass beide Artikel von demselben Täter herrühren.
(Wie denn, wenn zwei
verschiedene Täter vorhanden wären?) Hier aber,
wo dies nicht feststeht,
musste der Strafausschliessungsgrund
respektive der Hemmungsgrund
für die Weiterverfolgung dem verantwortlichen
Redakteur originär und nicht erst abgeleitet zustehen,
was eben, wie oben
dargestellt wurde, nicht der Fall ist.
Nicht nur die Ueberschrift
zum § 18 „Gegenseitige
Klagen“ lässt darauf schliessen, dass der Gesetzgeber die
sen Paragraphen
nur bei gegenseitigen Beleidigungen Anwendung fin
den lassen
wollte, sondern auch die Textierung. Die Worte „… so
kann die eine Partei die
andere Partei wegen einer anderen der
artigen
strafbaren Handlung …“ setzen doch offenbar, dem Titel
gemäss, Gegenseitigkeit
voraus und sind unverständlich, wenn sie
auf den Fall angewendet
werden, dass dieselbe Partei dieselbe ande
re Partei wegen
einer anderen derartigen strafbaren Handlung ver
folgen will, denn
für diesen Fall ist schon die Bestimmung des § 57St.P.O.
vorhanden, wo der Angeklagte die Aeusserung verlangen muss.
Vorgesorgt soll offenbar für
den Fall werden, dass der Beschuldigte
sich bereitwillig in einen
Vergleich einlässt, mit der Mentalre-
servation, vom Privatkläger
Verzeihung zu erlangen und ihn dann
wegen einer ihm bekannten
Beleidigung bestrafen zu lassen. (Siehe
das Wort „Entweichen“ im
Motivenbericht!) Als Ueberraschungsmoment
wäre zu verwenden, dass
sogar die Definition des Erstrichters
selbst über den Begriff des
Vergleiches im Ehrenbeleidigungspro
zess, so abwegig
sie an und für sich ist und so sehr sie sich be
müht, das
Gegenteil zu beweisen, geradezu beweist, dass es sich um
gegenseitige Beleidigungen
handeln muss. Denn der Vergleich bei
einseitiger Beleidigung, bei
welcher der Privatkläger auf die Be
strafung des
Angeklagten durch das Gericht verzichtet, sondern sie
im eigenen Wirkungskreis in
Form einer Busse, einer Ehrenerklärung
und Kostenzahlung auferlegt,
bedeutet nicht „ein gegenseitiges
Nachgeben, eine
gegenseitige Ausgleichung des gestörten Gleichge
wichtes
zwischen den Parteien, eine Erneuerung des gegenseitigen
ruhigen
gesellschaftlichen Zusammenlebens, der gegenseitigen Wert
schätzung und
Achtung“. (Die ganze komische Sentimentalität, be
sonders die
Stelle mit dem „Schatten zwischen den Parteien“ müsste
erörtert werden.)
Hauptsächlich hat sich der Richter durch die
Anwendung des Plurals
gefangen. Denn dies ist nur bei gegenseiti
gen Beleidigungen
der Fall oder denkbar, bei welchen sich beide
Beleidigten und Beleidiger
ausgleichen. Bei Fällen, wie in dem
vorliegenden, tritt an
Stelle der Strafe die Busse, die Ehrener
klärung, aber von
einer Erneuerung eines gegenseitigen ruhigen
gesellschaftlichen
Zusammenlebens, der gegenseitigen Wertschätzung
und Achtung kann natürlich
(bei publizistisch-politischen Fällen)
keine Rede sein. Der beste
Beweis dafür ist der Bericht des‚Sozialdemokrat‘
über den Verlauf der Verhandlung, der vielleicht
am besten dem Oberstgerichte vorgelegt wird, und aus dem
zur Ge-
nüge bewiesen
wird, wie wenig Eindruck die sentimentale Erklärung
des Gerichtes erster Instanz auf den Angeklagten gemacht hat. Die
ganze Begründung ist ein
Residuum aus dem Gedankengang, den eine
3richtige Interpretation des
Gesetzes, die auf Gegenseitigkeit,
mit sich bringt. Denn nur
aus der richtigen Interpretation des
Gesetzes heraus kann ein
Richter sagen, dass bloss über den aus
drücklichen
Wunsch der Parteien, durch den Vorbehalt eine Ausnahme
erfolgen könnte, oder dass
die einzige Ausnahme, welche das Ge
setz für Fälle
statuiert, in welchen einer der Streitparteien die
strafbare Handlung oder die
Person des Schuldigen noch nicht be
kannt ist, auf
andere Fälle nicht ausgedehnt werden könne. Wo
anders als bei gegenseitigen
Beleidigungen könnte der Fall eintre
ten, dass
unabhängig von der Beklagten- oder Klägerrolle, also von
der Parteienrolle, den
Parteien ein Vorbehalt zustünde. Wie sollte
denn dem einseitig Beklagten
ein Einfluss auf den Vorbehalt zu
stehen? Für die
gegenteilige Auffassung: dass es sich um zwei
Klagen desselben Klägers
handelt, ist diese Interpretation absurd,
ja unmöglich, wie überhaupt
die ganze Begründung. Nur zwei, die
einander geklagt haben,
können so erfüllt von der Moral der richter
lichen Begründung
und so versöhnt auseinandergehen (und vielleicht
auch streitende
Nachbarsleute). Man müsste vielleicht auch darauf
hinweisen, dass die trockene
Ehrenerklärung des Blattes, mit der
man sich begnügt hat und die
vorgelegt werden kann, nicht die
Sprache von Sentimentalität
enthält, wie sie in der moralischen
Auseinandersetzung des
Erstrichters zum Vorschein kommt. Bei einer
solchen moralischen
Auffassung dürfte es überhaupt keinen „Vorbe
halt“ geben. Dass
es einen solchen Vorbehalt geben kann, zeigt, dass
es sich bei einem Vergleich
in Ehrenbeleidigungsprozessen nicht um
ein Sentiment, sondern um
eine rein praktische Austragung handelt.
Es sollte vielleicht auch
darauf hingewiesen werden, dass in
der Erklärung, die der ‚Sozialdemokrat‘ am 27. Januar 1936 abgexgeben
hat, er nur die in der ausdrücklich bezeichneten Nummer 279der Zeitung vom 30.
November 1935 aufgestellten beleidigenden
Behauptungen über Karl Kraus
zurückzieht. Es ist implicite darin
gelegen, dass die anderen
beleidigenden Behauptungen in den
früheren inkriminierten Artikel vom 10. August 1934 nicht
zurück
gezogen, nicht in den Vergleich einbezogen wurden und daher Ge
genstand weiterer
Verfolgung sein können und sollen. Das war
wohl auch die Ansicht des
Angeklagten, der sich nach Abschluss
das Vergleiches durch
Mittelspersonen um einen Vergleich auch
in dieser Sache beworben hat
und der auf die gerichtliche Ge
legenheit
verwiesen wurde, dort diesen Vergleich zu erlangen.
Die Definition des
Vergleiches als ein gegenseitiges Nachgeben,
als eine gegenseitige
Ausgleichung des gestörten Gleichgewichtes
zwischen den Parteien, eine
Erneuerung des gegenseitigen ruhigen
gesellschaftlichen
Zusammenlebens, der gegenseitigen Wertschätzung
und Achtung hat Herrn K. geradezu bestürzt, da sie ihn
sozusagen
seelisch
verpflichten sollte, mit dem ‚Sozialdemokrat‘ in diese
gemeinsame Stimmung zu
kommen, die auf keiner Seite vorliegt.
Höchstens könnte von einem
Nachgeben, von nichts anderem Psychi
schen, insoferne
die Rede sein, als eine Strafe mit Busse und
sachlichem Widerruf
vertauscht wird. Sie werden sich vielleicht
auch noch erinnern können,
dass bei der letzten Verhandlung, auf
die Frage des Richters, ob eine Ehrenerklärung von seiten
des
‚Sozialdemokrat‘ abgegeben werden könnte,
diese abgelehnt wurde,
mit
der Begründung, die frühere Ehrenerklärung sei abgedruckt und
bei dieser Gelegenheit
verspottet worden; der Oberste
Gerichtshof
habe
dies für unfair erklärt. Darauf hat der Verhandlungsleiter
gesagt, dies sei nicht
richtig, der Oberste Gerichtshof habe
bloss
gesagt, dass, wenn
vereinbart werde, eine Ehrenerklärung in einem
bestimmten Blatt
abzudrucken, es unfair sei, diese Erklärung auch
in anderen Blättern
abzudrucken. Der Richter selbst hat gar
nichts
daran gefunden,
dass eine Ehrenerklärung vom Empfänger derselben
besprochen und das Verhalten
der Gegenseite einer abfälligen Kritik
unterzogen werde. Er musste
aber bei seinen Begriffen von einem
5Vergleich ein derartiges
Verhalten ablehnen, das ja wirklich bei
einer Versöhnungsaktion
(nach gegenseitiger Beleidigung) unstatt
haft wäre.
Ich hoffe, dass Sie noch
rechtzeitig in den
Besitz des
Briefes gelangen und manches aus ihm verwenden können.
Bei dieser Gelegenheit
übersende ich Ihnen
auch den
Durchschlag des vorbereitenden Schriftsatzes, den Herr K.
und ich in dem Prozess
gegen die Brünner Arbeiterzeitung verfassthaben und der Sie
sicherlich sehr interessieren wird.
Ich möchte Ihnen noch
mitteilen, dass Sie
Herr K. gestern abend telephonisch angerufen
hat, wovon Sie wahr
scheinlich unterrichtet sind, lediglich um Ihnen mitzuteilen, dass
er am 29. und 30. April 1936
in Brünn sein wird, wo Sie eventuell
Gelegenheit hätten, mit ihm
persönlich zu sprechen. Ich glaube aber,
dass dies nicht notwendig
sein wird.
Indem ich Sie herzlichst
grüsse und auch die
besten
Grüsse des Herrn K. übermittle, zeichne ich mit
vorzüglicher
kollegialer
Hochachtung
Ihr ergebener
4 Beilagen.
Express. Rekommandiert.