Brief ans „Prager Tagblatt“. Karl Kraus und das österreichische Regime


Sehr geehrter Herr Doktor.


Ich erhielt Ihre beiden Briefe vom 25.
und 26. d.M., sowie den Durchschlag des von Ihnen an den verantwortlichen Redakteur des Prager Tagblatt eingesendeten Schreibens. Ich habe selbstverständlich gar nichts dagegen einzuwen
den, dass der Brief von Ihnen direkt und nicht unter meinem
Namen abgesendet worden ist.


Zu der Anfrage, ob das Vorwort zu der
Erklärung, die vom Prager Tagblatt nur teilweise veröffentlicht wurde, zum Gegenstand einer Ehrenbeleidigungsklage ge
macht werden kann, gestatte ich mir folgendes zu bemerken:


Die Behauptung, dass die Erklärung Stel
len enthalten hat, die dritten Personen den Anlass zu einer Eh
renbeleidigungsklage gegen das Prager Tagblatt geben könnten,
ist nach meiner Ansicht kaum inkriminierbar, denn diese Behaup
tung ist nicht identisch mit dem Vorwurfe, dass der Verfasser
oder der Absender sich einer Ehrenbeleidigung schuldig gemacht
haben. Ich glaube, dass den Anlass zu einer Ehrenbeleidigungs
klage auch eine Handlung bieten kann, die nicht beleidigend ist
und dass die betreffende Stelle des Vorwortes zu dem Teilabdruck
der eingesendeten Erklärung nur dann inkriminiert werden könnte,
wenn behauptet worden wäre, dass jene Stellen der eingesendetenErklärung ausgelassen worden sind, die dritten Personen den An
lass zu einer begründeten Ehrenbeleidigungsklage
gegen das Prager Tagblatt oder zu einer Verurteilung wegen der
in der Erklärung enthaltenen Ehrenbeleidigungen geben könnten.
Deswegen möchte ich nicht empfehlen, das Vorwort zu dem
Teilabdrucke der Erklärung zum Gegenstand einer Ehrenbeleidigungs
klage zu machen.


Dass der Artikel in dem Wiener-Anwaltsblatte
nicht erscheinen wird, ist wohl schade, aber schliesslich hoffe
ich, dass der Nichtigkeitsbeschwerde entsprochen werden wird, auch
wenn man nicht darauf hinweisen kann, dass das Urteil in auslän
dischen Fachkreisen Aufsehen erfegt hat. Die Ablehnung der Ver
öffentlichung des Artikels ist wohl darauf zurückzuführen, dass
er sich mehr mit dem speziellen Fall, als mit der Theorie der be
treffenden gesetzlichen Bestimmung befasst hat. Dies konnte aller
dings nicht vermieden werden, wenn man den angestrebten Zweck er
reichen wollte. Ich könnte natürlich heute einen wesentlich gründ
licheren Artikel verfassen, doch hätte dies keinen Zweck, weil er
doch schon zu spät käme.


Die Möglichkeit, die Einvernahme des HerrnFischer in derselben Form durchzuführen, wie die Einvernahme des
Herrn K. in Brünn, habe ich nicht in Erwägung gezogen, sondern nur
darüber zu Herrn K. bemerkt, dass diese Form der Einvernahme, wenn
sie durchführbar wäre, höchst erwünscht wäre. Ich halte sie je
doch nicht für möglich und weiss nicht einmal, ob es durchführbar
sein wird, dass ich bei der Einvernahme des Herrn Fischer zwecks
Verdolmetschung seiner Aussage anwesend sein kann. Ich werde
es jedenfalls versuchen und mich mit Herrn Fischer ins Ein
vernehmen setzen.


In vorzüglichster Hochachtung und besten
Grüssen, Ihr ergebener:
Dr. Turnovsky


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