Sehr geehrter Herr Doktor.
Soeben bin ich vom Urlaub
zurückgekehrt
und habe
Ihre freundlichen Urlaubsgrüsse erhalten; vielen Dank!
In der Angelegenheit Karl Kraus
ca: Dr. Schwelb und Dr. Emil Strauss wegen Ver
öffentlichung des tendenziösen Prozessberichtes im „ SOZIALDEMOKRAT“ wurde, wie Sie
bereits wissen, das Verfahren gegen
Dr. Schwelb eingestellt. Der Untersuchungsrichter hat
später
auch das Verfahren
gegen Dr. Strauss
einstellen wollen, die
Ratskammer hat jedoch dem von mir überreichten Einspruche
ent
sprochen und so
wurde die Hauptverhandlung angeordnet.
Ich habe von meinem Urlaubsort
aus meinen Substituten mit der
Intervention bei der
Hauptverhandlung beauftragt und ihm eine
sehr ausführliche Information
erteilt. Auch habe ich ihn ermäch
tigt, gegebenenfalls einen
bedingten Vergleich abzuschliessen,
konnte jedoch den Wortlaut des
Vergleiches nicht stipulieren,
da
ich nicht wusste, ob und in welchem Masse die Gegenpartei
vergleichsbereit sein wird.
Deswegen habe ich eben den Auftrag
erteilt, den Vergleich nur bedingt abzuschliessen und sich das
Recht des Widerrufes
vorzubehalten.
Wie mir nun mein Substitut mitteilt,
wurde von Dr. Strauss
ein Vergleich angeboten, nach welchem er
die Verfahrenskosten zu
bezahlen verpflichtet ist und folgende
protokollarische / also
nicht zu veröffentlichende / Erklärung
abgibt:
„Zu dem in der Zeitschrift SOZIALDEMOKRAT vom16.IV.1936
veröffentlichten Artikel „Karl Kraus
verliert einenProzess“ erklären wir, dass wir nicht die Absicht hatten, durch
den Inhalt dieses Artikels die Ehre des Privatklägers,
des Herrn
Karl Kraus,
anzugreifen, sondern dass es sich lediglich um einen
Gerichtsaalbericht ohne
irgendeine beleidigende Absicht gehan
delt hat. Hiebei verweisen
wir auf den im SOZIALDEMOKRAT vom13.VI.1936
veröffentlichten Artikel, in welchem
wir die Tätig
keit
und Bedeutung des verstorbenen Herrn Karl Kraus
gebührend
gewürdigt
haben.
Die Redaktion.“
Dieser Vergleich ist wohl
nicht sehr be
friedigend, zumal er keinen Widerruf der Behauptung enthält, KarlKraus habe gegen
die Arbeiterschaft Stellung genommen, und weil
er / nämlich der Vergleich /
nicht veröffentlicht werden soll.
Trotzdem weiss ich nicht, ob
ich den Ver
gleich
widerrufen soll. Bei der uns jetzt schon zu gut bekann
ten Einstellung der
Pressesenate ist mit einer Verurteilung
des Dr. Strauss
wohl kaum zu rechnen und ich glaube, annehmen zu
müssen, dass das Gericht der Ansicht sein wird, dass es sich
wirk
lich um
einen Gerichtsaalbericht handelt, durch welchen kein
Delikt nach dem
Ehrenschutzgesetze begangen worden ist. In diesem
Falle wäre der Privatkläger
verpflichtet, dem Angeklagten die Ver
fahrenskosten zu
ersetzen, was wohl vermieden werden soll, trotz
dem es sich um keinen sehr
bedeutenden Betrag handeln könnte.
Aber ein freisprechendes
Urteil würde voraussichtlich auch jetzt
noch von den
Sozialdemokraten publizistisch ausgenützt werden,
wodurch der Zweck der
Ehrenbeleidigungsklage, die ja durch den
Tod des Herrn Kraus
ohnehin ihre aktuelle Bedeutung verloren hat,
vereitelt werden müsste.
Nach dem Berichte meines Substituten ist
mit einer weitergehenden
Satisfaktion bei der Gegenpartei nicht
zu rechnen.
Ich weiss nun nicht, ob Sie,
sehr geehrter
Herr Doktor, noch auf Urlaub sind, weswegen ich
den Brief jeden
falls an Ihre Adresse einsende, da ich annehme, dass er Ihnen
nachgesendet werden wird.
Jedenfalls bitte ich um Entschuldigung,
dass ich, falls Sie noch auf
Urlaub sind, Ihren Urlaubsfrieden
störe. Ich möchte aber doch
sehr gerne Ihre Ansicht kennen und
diese letzte Angelegenheit
in einer Weise liquidieren, die
wenigstens einigermassen
jenem Standpunkte Rechnung trägt, welchen
Karl Kraus
gewahrt wissen wollte.
Ich wünsche Ihnen für den
Rest Ihres Urlaubes,
falls er
noch nicht konsumiert sein sollte, schönes Wetter und
recht gute Erholung und bin
mit den herzlichsten Grüssen
Ihr ergebener:
Dr. Turnovsky