Karl Kraus verliert einen ProzeßDer Sozialdemokrat, 16.4.1936


Sehr geehrter Herr Kollege!


Gestern bin ich von meinem Urlaube zurück
gekehrt und habe heute sofort den Akt ‚Sozialdemokrat‘ durchge
sehen, um Ihnen Vorschläge wegen einer vom ‚Sozialdemokrat‘ ab
zugebenden Erklärung zu machen. Zu meinem größten Bedauern finde
ich in meinem Akt nicht den Entwurf oder einen Durchschlag der
von Ihnen eingereichten Klage gegen Dr. Schwelb und Dr. Strauß, so
daß ich nur auf den Prozeßbericht vom 16. April 1936 selbst an
gewiesen bin. Was aus der von Ihrem Substituten genehmigten Er
klärung vor allem zu verschwinden hat, ist der neuerlich dadurch
bestätigte Anschein, es würden alle Behauptungen aufrecht erhal
ten und nur die Beleidigungsabsichten geleugnet oder widerrufen.
Solange die Behauptungen bestehen, kann ein solcher Widerruf
nicht ernst genommen werden und ist daher unannehmbar. Sie wer
den sich erinnern können, daß wir den Prozeßbericht vom 16. April1936 deshalb unter Anklage gestellt haben, weil er den Anschein
erweckte, es sei der verantwortliche Redakteur des ‚Sozialdemokrat‘
auf Grund eines durchgeführten Beweisverfahrens und nach Erbrin
gung des Wahrheitsbeweises freigesprochen worden. Das Gegenteil
müßte aus der Erklärung des ‚Sozialdemokrat‘ hervorgehen. Ich
stelle also mir die vom ‚Sozialdemokrat‘ abzugebende Erklärung
folgendermassen vor:


„Zu dem in der Zeitschrift SOZIALDEMOKRAT vom 16.IV.1936
veröffentlichten Artikel ‚Karl Kraus verliert einen Prozeß ‘,
erklären wir, daß der Freispruch des verantwortlichen Re
dakteurs unserer Zeitung, Dr. Emil Strauß, nicht auf Grund
des durchgeführten Wahrheitsbeweises erfolgt ist. Wir bedauern,
daß unser Artikel den Anschein erweckte, es sei dies der Fall
gewesen und erklären, daß wir nicht die Absicht hatten,
durch den Inhalt dieses Artikels die beleidigenden Be
hauptungen aufrecht zu erhalten und die Ehre des Privatan
klägers, des Herrn Karl Kraus, anzugreifen.“


Ich bitte Sie, mir mitzuteilen, ob es Ihnen
gelungen ist, Herrn Dr. Schwelb respektive Herrn Dr. Strauß zur
Abgabe dieser Erklärung zu bringen.


Mit besten Grüßen und vorzüglicher kollegialer
Hochachtung
Ihr ergebener


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