Die Fackel schweltStimmen über Karl Kraus zum 60. Geburtstag.


Sehr geehrter Herr Doktor.


Ich bestätige den Empfang Ihres Briefesvom 16. d.M., zu dessen Inhalte ich Folgendes bemerke:


1./ Das Gericht wird sich bei der Verhandlung sicher
lich ausschliesslich mit den unter Anklage gestellten beleidi
genden Aeusserungen und nicht mit dem übrigen Texte der Ehren
beleidigungsklage befassen, der nur deswegen in die Klage auf
genommen wurde, um den Richtern den inkriminierten Artikel ver
ständlich zu machen. Deswegen glaube ich, dass es genügen würde,
bei der Streit Haupt verhandlung den Satz „… bezeichnet die Zurück
weisung seiner Erwartung auf einen ‚Aufruf‘ als eine Verun
glimpfung“, in dem von Herrn Kraus gewünschten Sinne zu inter
pretieren. Ich möchte nämlich, wenn möglich, vermeiden, dass
die für das Gericht ohnehin einigermaßen komplizierte Prozess
materie noch komplizierter wird.


2./ Dass wir, vielmehr ich, den Satz „Der, der nur
‚um den Graben geht‘ …“ missverstanden haben, ist mir sehr
unangenehm. Herr Kraus dürfte mir wohl bei der abendlichen Un
terredung, in welcher wir über die Klagen gesprochen haben,
seine Interpretation dieses Satzes gegeben haben. Ich war an
diesem Abend, da ich tagsüber sehr viel gearbeitet hatte, recht
müde und habe deshalb vielleicht die Interpretation nicht behalten.


Als ich dann den Klagsentwurf verfasste,
habe ich die Erklärung dieses Satzes in dem von Herrn Kraus
als unrichtig bezeichnten Sinne stilisiert, weil ich annahm,
dass dieser Sinn in dem Satze zwar sprachlich falsch ausgedrückt
ist, jedoch ausgedrückt werden sollte. Man wird also diese
falsche Interpretation richtigstellen müssen, doch glaube ich
nicht, dass dies durch einen vorbereitenden Schriftsatz ge
schehen soll.


In der Angelegenheit gegen Verneau und Bill
hat die Vergleichsverhandlung am 11. d.M. stattgefunden. Anwe
send war Dr. Bill, die Zustellung der Klage an Lucien Verneau
konnte – wie erwartet – nicht vorgenommen werden. Da nach dem
neuen Pressegesetz der verantwortliche Redakteur nicht ver
pflichtet ist, den Autor des den Inhalt der Klage bildenden
Artikels zu nominieren, wurde mir der Auftrag erteilt, den richti
gen Namen des Beklagten und seine Adresse binnen 14 Tagen dem
Gerichte bekanntzugeben. Ich habe bereits früher und auch jetzt
vergebliche Anstrengungen gemacht, den richtigen Namen des Autors
zu ermitteln und habe alle möglichen Leute, von denen ich an
nahm, dass sie zu den Mitarbeitern des „AUFRUF“ Beziehungen
haben, befragt. Zwei Herren haben mir auch versprochen, den
Autor in den nächsten Tagen zu eruieren. Auch Herr HeinrichFischer, den ich darum ersuchte, hofft, dass es ihm in einigen
Tagen gelingen wird, festzustellen, wer dieser Herr Verneau
eigentlich ist.


Ich wollte ursprünglich diese Feststellung
abwarten und Ihnen dann in dieser Angelegenheit berichten und
dabei anfragen, ob Herr Kraus wünscht, dass das Verfahren
gegen Verneau geführt wird.


Ich stelle mir vor, dass der von Herrn Kraus beabsichtigte
Zweck auch dann erreicht wird, wenn nur Dr. Bill als ver
antwortlicher Redakteur wegen des Deliktes der Vernachlässi
gung der pflichtgemässen Sorgfalt verurteilt wird.
Dr. Bill ist, wie ich gerade in letzter Zeit wiederholt
bemerken konnte, ein nicht sehr gewandter Verhandlungs
gegner. Er beherrscht auch die tschechische Sprache sehr
mangelhaft und ist beim Pressesenat wenig beliebt.


Herr Verneau scheint schon einigermassen schlauer zu sein
als Bill. Wenn er als Angeklagter in einem Prozesse auf
tritt, wird er voraussichtlich den Wahrheitsbeweis an
treten und eine ganze Menge von Behauptungen aufstellen
und für sie Beweise anbieten, sodass der Prozess ins Uner
messliche verschleppt werden kann. Der Pressesenat ver
tagt die Hauptverhandlungen auf sehr lange Zeit und ich be
fürchte, dass das Urteil in einem Zeitpunkte erfliessen
wird, in welchem die Polemik der „antifaszistischen“
Journalisten nicht mehr aktuell sein wird.


Wenn ich auch annehme, dass der Autor des Artikels die
Schriftsätze verfassen wird, so glaube ich trotzdem, dass
Dr. Bill weder energisch, noch hinreichend gewandt sein
wird, um alle Anträge durchzusetzen und so die anscheinend
bestehende Verschleppungsabsicht zu realisieren.


Wollen Sie bitte Herrn Kraus von diesen Er
wägungen Mitteilung machen und seine Weisung darüber ein
holen, ob ich, bis ich den Namen und die Adresse des
Herrn Verneau ermittele, dem Gerichte hievon Mitteilung
machen oder nicht lieber bekanntgeben soll, dass es nicht
gelungen ist, den pseudonymen Autor des Artikels zu
eruieren. Die Richtigstellung des falsch interpretierten
Satzes kann ich in der Anklageschrift vornehmen, deren
Ueberreichung mir nach der Einvernahme des oder der Ange
klagten aufgetragen wird.


Da es trotz dem Scheitern der Vergleichs
verhandlung zu Vergleichsangeboten kommen könnte, zumal
das Gericht bei der Hauptverhandlung die Parteien immer
zum Vergleiche anregt, bitte ich doch, von Herrn Kraus
Weisungen über den Inhalt der im Vergleichsfalle zu fordern
den Erklärung einzuholen.


Ich zeichne mit vorzüglicher
Hochachtung:
Dr. Turnovsky


Vielen Dank für die Einsendung der anläßlich des 60. Geburtstageserschienenen Publikation, die ich, falls es notwendig sein
sollte, vorlegen werde.


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