Sehr geehrter Herr Doktor.
Bei der heutigen
Hauptverhandlung im Ehren
beleidigungsprozesse waren
beide Angeklagten anwesend. Sie
liessen sich durch Dr. Maximilian
Reiner vertreten, der
mit Dr. Bill verwandt ist und als
nationaldemokratischer
tschechischer Anwalt und dermaliger Präsident der jüdischen
Kultusgemeinde einiges
Ansehen geniesst. Es ist immerhin
ein Zeichen für die richtige
Selbsteinschätzung des Dr. Bill,
dass er, wiewohl selbst
Anwalt, seine Vertretung einem
anderen Anwalte übertragen hat.
Unmittelbar vor der
Hauptverhandlung wurde
ein
Schriftsatz überreicht, den ich mit dem Bemerken übernom
men habe, dass ich, ohne den
Inhalt zu kennen, eine Aeusse
rung zu diesem Schriftsatze
nicht abgeben kann und mir eine
schriftliche Aeusserung
vorbehalte. Ich schliesse eine Uebersetzung des jetzt erst
gelesenen Schriftsatzes bei, aus
dem hervorgeht, dass die
Angeklagten von Dr. Schwelb gelernt
haben, der übrigens als
Zuhörer anwesend war.
Das Gericht bemühte sich um einen Vergleich
den ich nur unter den in Ihrem Briefe vom 15.XI. v.J. ange-
führten Bedingungen
abzuschliessen bereit war. Da jedoch
die Angeklagten erklärten, keine
Satisfaktionserklärung abge
ben zu können, in der sie
eingestehen, Beleidigungen gegen
die Person des Herrn
Kraus begangen zu haben, ist es zum
Abschlusse des Vergleiches nicht
gekommen. Dr. MaximilianReiner
stellte jedoch den Antrag, dass seine Mandanten
die Verpflichtung zur
Veröffentlichung folgender Satisfak
tionserklärung übernehmen, wenn
diese von Herrn
Kraus akzep
tiert und die Klage zurückgenommen wird:
„In der Nummer22 und 23 der Zeitschrift
‚AUFRUF‘ habe ich unter dem Titel
‚Die Fackel schwelt‘ einen Artikel veröffentlicht, welcher
als Antwort auf den Inhalt des
Heftes
Nr. 890 bis 905 derZeitschrift ‚Die Fackel‘ anzusehen ist. In diesem Artikel
3habe ich die Gründe
zu widerlegen getrachtet, welche der
Herausgeber der FACKEL für seine Stellungnahme
zu den in
Deutschland und
Oesterreich herrschenden Verhältnissen an
geführt hat. Nachdem sich Herr
Karl Kraus
durch einzelne
Behauptungen
meines erwähnten Artikels verletzt gefühlt hat,
erkläre ich, dass ich keine
Absicht hatte, ihn durch meine
Ausführungen persönlich zu beleidigen. Wenn er sich trotz
4dem beleidigt gefühlt hat, bedauere ich es aufs Lebhafteste.“
Diese Satisfaktionserklärung
soll nur von
Ing. Butschowitz unterzeichnet werden, da Dr. Bill dabei bleibt,
dass er den inkriminierten Artikel weder gelesen, noch in
Druck gegeben habe.
Merkwürdigerweise legte Ing. Butschowitz auf
die Fassung „nachdem … verletzt
gefühlt hat“ Wert und
wollte das Wort „nachdem“ nicht
durch das Wort „da“ ersetzt
wissen.
Dr. Reiner stellte
noch folgenden Antrag, der
allerdings nicht protokolliert wurde und nur in der mehr
privaten Auseinandersetzung über
den verhandelten Fall vor
gebracht worden ist: Da es sich
um einen literarischen Kampf
handelt, dessen gedankliches Substrat dem Gerichte nur dann
verständlich gemacht werden
könnte, wenn ihm der ganze In
halt der letzten FACKEL-Hefte bekannt wäre, resp. durch Vorlage
einer entsprechenden Uebersetzung
zur Kenntnis gebracht würde,
was
jedoch nach Ansicht Dr.
Reiners unmöglich und undurchführbar
ist, soll der Prozess vor ein
Schiedsgericht von Schriftstellern
gebracht werden, in welches jede der beiden Parteien einen Ver
trauensmann entsendet. Dieses
Schiedsgericht soll darüber ent
scheiden, in welchen Punkten
seines Artikels
Ing. Butschowitz
das Mass einer erlaubten Kritik
und literarischen Polemik über
schritten hat und welche
Satisfaktion dem Kläger hiefür zu
leisten
ist.
Zu diesem Antrage habe ich
mich offiziell nicht
geäussert und nur meiner Privatmeinung Ausdruck verliehen, dass
ich nicht wüsste, welche
Schriftsteller berufen wären, ein
Urteil in einer Herrn Kraus
betreffenden Angelegenheit abzugeben.
Trotzdem mache ich von
beiden diesen Anträgen
Mitteilung und bemerke, dass Dr. Reiner angedeutet hat, er
würde für seine Partei evtl.
Karel Čapek nominieren.
Ich habe der Strafanzeige und Anklageschrift
das
Original der Nummer 22 bis 23 des AUFRUF
mit einer beglaubig
ten Uebersetzung der inkriminierten Stellen ins Tschechische bei
geschlossen. Dies tue ich in
allen Fällen, ohne den ganzen inkriminierten
Artikel zu übersetzen, was meiner Ansicht nach
überflüssig wäre und die Kosten
des Gerichtsdollmetschs unnützer
weise erhöhen würde. Zum
erstenmal ist es geschehen, dass das
Gericht den Auftrag erteilt hat, es möge eine beglaubigte
Ueber
setzung des
ganzen inkriminierten Artikels vorgelegt
werden
und zu diesem Zwecke
die Verhandlung auf unbestimmte Zeit ver
tagt hat. Es wird mir also nichts
übrigbleiben, als den gan
zen Artikel zu übersetzen und beglaubigen zu lassen, worauf eine
neue Hauptverhandlung angeordnet
werden wird.
Ich bitte Sie, sehr geehrter
Herr
Doktor,
Herrn Kraus
diesen Bericht vorzulegen und mir dann bekanntgeben
zu wollen, ob er die von
Herrn Dr.
Reiner gestellten Anträge
als geeignete Basis für
Vergleichsverhandlungen ansieht.
Mit besten Empfehlungen an
Herrn
Kraus und
besten
Grüssen an Sie, bin ich Ihr
ergebener:
Dr. Turnovsky