Der Aufruf, 1.9.1934Die Fackel schweltDie Fackel


Sehr geehrter Herr Doktor.


Bei der heutigen Hauptverhandlung im Ehren
beleidigungsprozesse waren beide Angeklagten anwesend. Sie
liessen sich durch Dr. Maximilian Reiner vertreten, der
mit Dr. Bill verwandt ist und als nationaldemokratischer
tschechischer Anwalt und dermaliger Präsident der jüdischen
Kultusgemeinde einiges Ansehen geniesst. Es ist immerhin
ein Zeichen für die richtige Selbsteinschätzung des Dr. Bill,
dass er, wiewohl selbst Anwalt, seine Vertretung einem
anderen Anwalte übertragen hat.


Unmittelbar vor der Hauptverhandlung wurde
ein Schriftsatz überreicht, den ich mit dem Bemerken übernom
men habe, dass ich, ohne den Inhalt zu kennen, eine Aeusse
rung zu diesem Schriftsatze nicht abgeben kann und mir eine
schriftliche Aeusserung vorbehalte. Ich schliesse eine Uebersetzung des jetzt erst gelesenen Schriftsatzes bei, aus
dem hervorgeht, dass die Angeklagten von Dr. Schwelb gelernt
haben, der übrigens als Zuhörer anwesend war.


Das Gericht bemühte sich um einen Vergleich
den ich nur unter den in Ihrem Briefe vom 15.XI. v.J. ange-
führten Bedingungen abzuschliessen bereit war. Da jedoch
die Angeklagten erklärten, keine Satisfaktionserklärung abge
ben zu können, in der sie eingestehen, Beleidigungen gegen
die Person des Herrn Kraus begangen zu haben, ist es zum
Abschlusse des Vergleiches nicht gekommen. Dr. MaximilianReiner stellte jedoch den Antrag, dass seine Mandanten
die Verpflichtung zur Veröffentlichung folgender Satisfak
tionserklärung übernehmen, wenn diese von Herrn Kraus akzep
tiert und die Klage zurückgenommen wird: „In der Nummer22 und 23 der Zeitschrift ‚AUFRUF‘ habe ich unter dem Titel
Die Fackel schwelt‘ einen Artikel veröffentlicht, welcher
als Antwort auf den Inhalt des Heftes Nr. 890 bis 905 derZeitschrift ‚Die Fackel‘ anzusehen ist. In diesem Artikel
3habe ich die Gründe zu widerlegen getrachtet, welche der
Herausgeber der FACKEL für seine Stellungnahme zu den in
Deutschland und Oesterreich herrschenden Verhältnissen an
geführt hat. Nachdem sich Herr Karl Kraus durch einzelne
Behauptungen meines erwähnten Artikels verletzt gefühlt hat,
erkläre ich, dass ich keine Absicht hatte, ihn durch meine
Ausführungen persönlich zu beleidigen. Wenn er sich trotz
4dem beleidigt gefühlt hat, bedauere ich es aufs Lebhafteste.“


Diese Satisfaktionserklärung soll nur von
Ing. Butschowitz unterzeichnet werden, da Dr. Bill dabei bleibt,
dass er den inkriminierten Artikel weder gelesen, noch in
Druck gegeben habe.


Merkwürdigerweise legte Ing. Butschowitz auf
die Fassung „nachdem … verletzt gefühlt hat“ Wert und
wollte das Wort „nachdem“ nicht durch das Wort „da“ ersetzt
wissen.


Dr. Reiner stellte noch folgenden Antrag, der
allerdings nicht protokolliert wurde und nur in der mehr
privaten Auseinandersetzung über den verhandelten Fall vor
gebracht worden ist: Da es sich um einen literarischen Kampf
handelt, dessen gedankliches Substrat dem Gerichte nur dann
verständlich gemacht werden könnte, wenn ihm der ganze In
halt der letzten FACKEL-Hefte bekannt wäre, resp. durch Vorlage
einer entsprechenden Uebersetzung zur Kenntnis gebracht würde,
was jedoch nach Ansicht Dr. Reiners unmöglich und undurchführbar
ist, soll der Prozess vor ein Schiedsgericht von Schriftstellern
gebracht werden, in welches jede der beiden Parteien einen Ver
trauensmann entsendet. Dieses Schiedsgericht soll darüber ent
scheiden, in welchen Punkten seines Artikels Ing. Butschowitz
das Mass einer erlaubten Kritik und literarischen Polemik über
schritten hat und welche Satisfaktion dem Kläger hiefür zu
leisten ist.


Zu diesem Antrage habe ich mich offiziell nicht
geäussert und nur meiner Privatmeinung Ausdruck verliehen, dass
ich nicht wüsste, welche Schriftsteller berufen wären, ein
Urteil in einer Herrn Kraus betreffenden Angelegenheit abzugeben.


Trotzdem mache ich von beiden diesen Anträgen
Mitteilung und bemerke, dass Dr. Reiner angedeutet hat, er
würde für seine Partei evtl. Karel Čapek nominieren.


Ich habe der Strafanzeige und Anklageschrift
das Original der Nummer 22 bis 23 des AUFRUF mit einer beglaubig
ten Uebersetzung der inkriminierten Stellen ins Tschechische bei
geschlossen. Dies tue ich in allen Fällen, ohne den ganzen inkriminierten Artikel zu übersetzen, was meiner Ansicht nach
überflüssig wäre und die Kosten des Gerichtsdollmetschs unnützer
weise erhöhen würde. Zum erstenmal ist es geschehen, dass das
Gericht den Auftrag erteilt hat, es möge eine beglaubigte Ueber
setzung des ganzen inkriminierten Artikels vorgelegt werden
und zu diesem Zwecke die Verhandlung auf unbestimmte Zeit ver
tagt hat. Es wird mir also nichts übrigbleiben, als den gan
zen Artikel zu übersetzen und beglaubigen zu lassen, worauf eine
neue Hauptverhandlung angeordnet werden wird.


Ich bitte Sie, sehr geehrter Herr Doktor,
Herrn Kraus diesen Bericht vorzulegen und mir dann bekanntgeben
zu wollen, ob er die von Herrn Dr. Reiner gestellten Anträge
als geeignete Basis für Vergleichsverhandlungen ansieht.


Mit besten Empfehlungen an Herrn Kraus und
besten Grüssen an Sie, bin ich Ihr
ergebener:
Dr. Turnovsky


1 Beilage.


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