[Prozessbericht über Kraus ca. Aufruf]Stimmen über Karl Kraus zum 60. Geburtstag.Die Zeit (Sudetendeutsch)České slovo, 9.6.1936 (Morgenausgabe)Die Fackel


Sehr geehrter Herr Doktor.


Zu meinem gestrigen Berichte über die
Hauptverhandlung in Sachen „AUFRUFButschowitzBill hätte
ich noch mitzuteilen, dass diesmal 2 Gerichtssaalberichterstat
ter anwesend waren, die sich Notizen machten und deren einem
Dr. Bill seine Schriftsätze zeigte. Ich habe mich erkundigt,
für welche Blätter die betreffenden Berichterstatter arbeiten,
und erfuhr, dass einer für das „ČESKÉ SLOVO“, der andere für
die Sudetendeutsche Zeitung „DIE ZEIT“ schreibt. Beide Herren
sahen mir weniger nach Germanen und Slaven, als nach Israeliten
aus. Ich habe mit ihnen natürlich nicht gesprochen.


Heute fand ich in der Morgenausgabe des„České slovo“ einen Bericht, dessen Uebersetzung ich Ihnen ein
sende. In der ZEIT habe ich bisher keinen Bericht gefunden.


Wie Sie aus dem Artikel des České Slovo
ersehen, ist der Autor nicht viel gescheiter als Dr. Bill, aber
offenbar nicht weniger lumpig als dieser. Es scheint eine Ver
einbarung aller Blätter zu bestehen, nach welcher Herr K. zur
Ueberreichung von Presseklagen provoziert werden soll, gegen
welche dann gleichartige Einwendungen erhoben werden sollen.
Nämlich, dass Herr K. demokratische Schriftsteller vor das Gericht
eines demokratischen Staates bringt und unser Pressegesetz miss-
braucht, selbst aber vor Klagen seitens der von ihm Angegriffenen
durch den Schutz, den ihm im Prozessfalle die österreichischen
Gerichte angedeihen liessen, gefeit ist. Dass er unsere Demo
kratie und unseren Präsidenten angegriffen und die tschechische
Nation geschmäht hat.


Alle diese Behauptungen können natürlich
glatt widerlegt werden, ich kann mich jedoch des Eindruckes
nicht erwehren, dass derartige Behauptungen, selbst wenn sie
von einem so gerichtsnotorischen Trottel vorgebracht werden,
wie es Dr. Bill ist, auf das Gericht irgendwie Eindruck machen.
Leider muss ich auch zugeben, dass unsere Pressesenate der an
sie gestellten Aufgabe nicht gewachsen sind und dass sich auch
in Fällen, in denen keine persönliche Abneigung oder Animosität
der Richter gegen eine der Parteien vorliegt, immer wieder zeigt,
dass das Ende eines Pressprozesses überhaupt nicht abzusehen ist.
Ich musste gestern 2 Stunden auf die Verhandlung gegen Dr. Bill
warten und war während dieser Zeit als Zuhörer im Verhandlungs
saal anwesend. Es wurden zwei politische Pressprozesse abgehan
delt, denen ein ganz einfacher Tatbestand zugrundegelegt war.
Ich habe mich bei den Anwälten erkundigt, seit wann diese Prozes
se anhängig sind und erfahren, dass beide schon mehr als zwei
Jahre geführt werden. Darin scheint mir die unverkennbare Ten
denz des Gerichtes festzustehen, die Parteien durch wiederholte
Vertagungen und durch ein Hinausziehen des Prozesses ins Unend
liche mürbe zu machen und sie zu einem Vergleiche zu zwingen.
Sie werden sich, wie das Gericht gewiss nicht mit Unrecht annimmt,
zu einem Vergleiche eher entschliessen, wenn die verhandelte An
gelegenheit ihre Aktualität verliert und das Interesse an einem
Urteile nicht mehr so brennend ist, wie unmittelbar nach der
Veröffentlichung des betreffenden beleidigenden Artikels.


Diese Tendenz scheint, wie gesagt, allgemein vorzu
liegen und nicht nur gegen die Person des Herrn K. gerichtet
zu sein. Dieser stehen allerdings die Richter, wie ich heute
auf Grund der gemachten Erfahrung feststellen muss, vollkommen
verständnislos gegenüber. Ich habe mir gewiss alle Mühe gege
ben, den Richtern einen Begriff davon zu machen, um wen es
sich handelt und wie niederträchtig die Angriffe der Journa
listen sind. Trotz diesen Bemühungen habe ich bisher nicht
konstatieren können, dass die Richter auch nur eine Ahnung
von der Prozessmaterie haben und ich glaube, dass sie in ihrer
Vorstellung mit der Person des Herrn K. der Begriff des Anti
demokraten und reaktionären Pamphletisten verknüpft ist, der
in seiner Zeitschrift Andere schmäht und sich deshalb gegen
Schmähungen dieser von ihm Angegriffenen nicht zu empfindlich
zeigen dürfte. Durch den Umstand, dass „Die Fackel“ deutsch
geschrieben ist und ihrem Inhalte nach, selbst wenn sie tsche
chisch geschrieben wäre oder ins Tschechische übersetzt werden
könnte, Leuten von dem geistigen Niveau unserer Richter nicht
zugänglich ist, wird es mir ausserordentlich schwer gemacht,
diesen bei den Richtern offenbar vorherrschenden Eindruck zu
beseitigen. Ich bin der Ansicht, dass es doch dringend geboten
wäre, einmal einen Tschechen mit klangvollem Namen als Zeugen
auftreten zu lassen, etwa Otakar Fischer, Karel Čapek, Hora, oder
sonst einen bedeutenden Schriftsteller, der zwar von den Rich-
tern höchstwahrscheinlich auch nicht gelesen und verstanden
wird, vor dessen Berühmtheit sie jedoch Respekt hätten. Wenn
ein derartiger Mann einmal für Herrn Kraus Zeugenschaft ab
legen würde, dann wäre, wie ich glaube, das Vorurteil ein
für allemal behoben und die Richter würden endlich daran ge
hen, sich mit der Prozessmaterie sachlich zu befassen und
über Behauptungen, die mit der Prozessmaterie nichts zu tun
haben, hinweg zu gehen. Ich bin überzeugt, dass jeder der
genannten drei Schriftsteller, mag er nun dermalen zu HerrnK. wie immer stehen, die Haltlosigkeit der betreffenden Be
hauptungen bestätigen würde. Die Vorlage der betreffenden Ar
tikel aus der Festschrift, aus dem „Panorama“, etc. scheint mir
hiezu deshalb nicht auszureichen, weil die Richter diese Ar
tikel nicht lesen und wenn sie sie lesen, nicht verstehen
werden.


Es wird Ihnen, sehr geehrter Herr Doktor,
als Anwalt, vielleicht merkwürdig erscheinen, dass ein Advokat
über die Gerichte seines Staates ein derartiges Urteil abgibt.
Aber es ist nun einmal so, eine Gruppe von unserer Richter
ist unfähig, der Nachwuchs ist zwar ganz gut, gewissenhaft
und auch hinreichend geschult, aber die älteren Referenten, zu
denen leider auch die Mitglieder der Pressesenate mit ganz
geringen Ausnahmen gehören, taugen nichts.


Und deswegen habe ich bei jeder neuen An
gelegenheit, welche ich für Herrn K. zu behandeln habe, ein
einigermassen banges Gefühl. Ich selbst bin überzeugt, dass
man gegen das Pressegesindel vorgehen muss, trotzdem ich voraus
sehe, dass jeder Fall einen neuen nach sich zieht und dass man
zu keinem Ende gelangt. Wenn dies auch wohl im Wesen der Sache
liegt – eine Persönlichkeit wie Herr K. wird immer wieder von
der Journaille angekläfft werden – so verhindern die oben ge
schilderten Umstände den angestrebten Erfolg oder sie verzögern
ihn wenigstens in einem Masse, durch welches er vielleicht über
haupt problematisch wird. Und das ist es, was mir bei der Ver
tretung des Herrn K., die ich als vornehmsten Zweig meiner Be
rufstätigkeit ansehe und der ich mich gerne mit allen meinen
Kräften widme, Kummer und Aufregungen bereitet, weil ich be
fürchte, dass der Verlauf der mir übertragenen Angelegenheiten
auch Herrn K. um seine Ruhe bringt und stört.


Von diesem Gesichtspunkte aus steigen bei mir
Zweifel darüber auf, ob man das Pressegesindel immer weiter ver
folgen soll oder ob es nicht geboten wäre, es zu ignorieren.


Ich bitte, mir mitzuteilen, ob der Autor des
im „České Slovo“ erschienenen Berichtes, sowie der verantwort
liche Redakteur geklagt werden sollen. Der Bericht bietet auch,
wie Sie sehen werden, die Möglichkeit für eine Presseberichti
gung.


Ich möchte nur noch bemerken, dass das ČESKÉSLOVO, nämlich die Ausgabe, in welcher dieser Artikel erschienen
ist, administrativ mit der Abendausgabe des ČESKÉ SLOVO, deren
Redakteur Jan Münzer ist, nichts zu tun hat. Trotzdem zweifle ich
nicht daran, dass Münzer von dem Artikel noch vor der Veröffent
lichung wusste und ich finde es trotz allem, was ich im Laufe
des Prozesses Melantrich über diesen Herrn und seinen Charak
ter erfahren musste, unbegreiflich, dass er das Erscheinen
des Berichtes nicht inhibiert hat. Vielleicht wollten die
Herren vom ČESKÉ SLOVO für die Berufungsverhandlung im Melantrichprozesse auf diese Art Stimmung machen. Ich hoffe, dass
ihnen dies nicht gelingen wird.


Ich wäre Ihnen, sehr geehrter Herr Doktor,
sehr verbunden wenn Sie mir bald mitteilen wollten, ob es
Herrn K. wieder gut geht und ihm meine herzlichsten Grüsse
bestellen wollten.


Ich zeichne mit dem Ausdrucke der vorzüglich
sten Hochachtung und mit besten Grüssen


Ihr ergebener:
Dr. Turnovsky


3