Wien, 12. November. (Ehrenbeleidigungsprozeß Karl Kraus gegen Anton Kuh.)Vor dem Richter. Karl Kraus gegen Anton Kuh


Sehr geehrter Herr!


Ihr Gerichtssaalbericht vom 12. November 1926 ent
hält eine tatsächliche Angabe, die unvollständig ist und einer
Ergänzung bedarf, die vorzunehmen ich Sie ersuche, obwohl nach
der geltenden pressrechtlichen Praxis, eine solche Ergänzung,
durch die der wahre Sachverhalt erst hergestellt wird, nicht
verlangt werden könnte. Sie schreiben, dass ich den Strafantrag
auch darauf ausgedehnt habe, dass der Beschuldigte erzählte,
dass Karl Kraus „sich als Neunzehnjähriger bemüht habe, in die
Redaktion der ‚Neuen Freien Presse‘ hineinzukommen, aber dort
hinaus geworfen wurde.“ Ferner teilen Sie mit, dass ich diesen
Strafentrag über die ausgedehnte Anklage zurückgezogen habe,
worauf der Beschuldigte in diesem Punkte formell freigesprochen
wurde. Ich ersuche festzustellen, dass ich den Strafantrag mit
der ausdrücklichen Begründung fallen liess, weil in diesem
Stadium evident war, dass der schon durch ein Jahr verzögerte
Urteilsspruch mit Ablehnung sämtlicher Beweisanträge des Beschuldigten diesmal gefällt würde und dass der hinzugekommene
Punkt, für den ein Wahrheitsbeweis unbedingt zulässig ge
wesen wäre, eine neuerliche Vertagung des gesamten Prozesses
auf einen unabsehbaren Termin herbeigeführt hätte. Da ich
von allem Anfang an der Ansicht war, dass ein Wahrheitsbeweis
auch in einem anderen Punkt zulässig gewesen wäre und ange
ordnet werden würde, habe ich die Anklage aus dem neuen Punkt
gleich ausgedehnt, anstatt sie mir bloss vorzubehalten. Aus
Ihrer Darstellung könnte der Leser schliessen, dass aus irgend
welchem anderen, meritorischen Grund auf die Anklage verzichtet
wurde. Was dieses Meritum anlangt, ersuche ich von der spontan
abgegebenen Erklärung der „Neuen Freien Presse“ vom 12. November
1926 Notiz zu nehmen, welche, entgegen dem Vorbringen des Be-schuldigten, lautet: „Wir stehen nicht an, loyalerweise zu er
klären, dass diese Behauptung absolut unstichhaltig ist, dass
Herr Kraus niemals eine Stellung in unserem Blatte angestrebt
hat und dass daher auch von einer Zurückweisung solcher Be
strebungen keine Rede sein konnte.“


Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung


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