Verehrter Herr Kraus!
Ich freue mich sehr, daß Sie
nach Berlin kommen
werden. Mit der Konzertdirektion Sachs habe ich sofort
nach
Eintreffen des
Briefes von Frl. Wacha gesprochen; Sie werden
den Brief der Konzertdirektion jetzt wohl schon in
Händen haben.
In betreff des Berichtes
über meine Eindrücke von
der
Gerichtsverhandlung bin ich in einer schwierigen
Lage: denn erstens gab es
kaum eine Verhandlung, da
die
ganze Sache 5 Minuten dauerte, und zweitens
waren meine Eindrücke recht
ungünstiger Natur –
nämlich
was Ihren Rechtsanwalt betrifft. So komme ich
in die peinliche Situation,
Ihnen Ihren Rechtsfreund, der
persönlich sicher ein
hochanständiger und guter Mensch
ist, ein wenig anschwärzen
zu müssen. Auch habe ich
Angst, daß dadurch „die größten Unerquicklichkeiten“
entstehen könnten. Aber
schließlich: Eindruck ist Eindruck,
und den will ich Ihnen
völlig unmaßgeblich schildern.
Die Sache begann damit, daß Ihr
Rechtsanwalt
erklärte, er habe gestern einen
30-seitigen gegnerischen
Schriftsatz zu
Händen erhalten, und sei daher nicht in
der Lage, auf die darin
enthaltenen völlig neuen
Argumente vor Rücksprache mit seinem Klienten
einzugehen (Hier möchte ich
gleich bemerken – was
übrigens
noch verhältnismäßig unwichtig ist –, daß
Ihr Rechtsanwalt schlecht, d.h. nicht überzeugend und
unsicher spricht, welche
Unsicherheit er durch ein Hin
und Herschwanken, Händeaufstützen
auf den Richter
tisch
usw. zu verbergen sucht. Der gegnerische Anwalt
stand wie eine Mauer, und sprach
ruhig und mit
Gewicht.)
Darauf sprach der gegnerische Anwalt. Er sprach
davon, wie viel Papier bereits in
dieser Sache verschwendet
worden
sei, beklagte sich darüber, daß er einen 75-sei
tigen Schriftsatz ohne
Kopie erhalten habe, sodaß er
eine solche habe anfertigen lassen müssen (da Kerr
auf Reisen gewesen), meinte, daß
in der Sache kein
Ende abzusehen
sei, und schlug endlich vor, Klage
und Widerklage zurückzuziehen, um der Sache ein
Ende zu machen und die Justiz,
die wohl wichtigere
Dinge zu tun habe
wörtlich, nicht unnütz zu belasten.
Der Sinn seiner Ausführungen
ging dahin, die
Sache als das übliche Literatengezänk hinzustellen,
das von ernsten Männern, wie
Rechtsanwälten und
Richtern,
nun einmal nicht ernst genommen werden
könne. (Kerr war übrigens anwesend und stand stumm
daneben.)
Nun finde ich, daß Ihr Rechtsanwalt sich
dadurch nicht auf der Höhe der
Situation zeigte, daß
er auf
diese Tendenz der Bagatellisierung der
Angelegenheit völlig einging und
das Kliché
Literatengezänk
bereitwilligst annahm (ohne daß das
Wort natürlich fiel.) Er sagte,
daß auch er diesen
Vorschlag
begrüße, daß er der Meinung sei, sowohl
Herr Kraus wie auch Herr Kerr
seien mit wichtigeren
Dingen
beschäftigt, als daß sie durch solch eine
Angelegenheit ihre Zeit
verlieren sollten
wörtlich, und dergleichen
mehr. Er wolle seinem Klienten jedenfalls zu dieser
Lösung (Rücknahme von Klage und
Widerklage) raten.
(Man hatte den
Eindruck, daß beide Rechtsanwälte
heilfroh sein würden, wenn sie die Sache, die ihnen
wohl über den Kopf wuchs, endlich
los wären!)
Ich muß nun sagen, daß diese
Haltung Ihres
Rechtsanwaltes (falls es nicht eine Finte war, was
ich nicht glauben kann)
deutlich zeigt, daß er den
Sinn der ganzen Angelegenheit nicht begriffen
hatte, sondern ihr bloß
formal beigekommen ist.
Natürlich ist die Sache für Herrn Kerr
unwichtig (solang
er keine
guten Gewinnchancen hat). Er hat ohne Zweifel
bessere und ihm nützlichere
Dinge zu tun. Aber daß
gerade
Sie, Herr Kraus, nichts Wichtigeres auf der
Welt
haben und daß es
Ihnen ernst mit der Sache ist,
daß hätte Ihr Rechtsanwalt – auch wenn Sie
selber
mit ihm den
Vergleich aus allgemeinen Erwägungen
und im gegebenen Augenblick
für zweckmäßig
hielten – doch
zumindest anführen müssen. Er
durfte sich auf das Niveau „Literatengezänk“ nicht
so bereitwillig
hinunterbegeben. Daher der peinliche
Eindruck, den ich von der
Verhandlung hatte.
Nun führte der gegnerische Rechtsanwalt noch
an, daß er diesen Vorschlag
zur beiderseitigen
Zurückziehung nicht als allein von sich ausgegangen
wissen wolle, sondern daß er
die Sache ja mit
seinem
werten Kollegen besprochen habe (folgen
Elogen an die Adresse von
Herrn Dr. Levi), der darin mit
ihm völlig einer Meinung
sei. Ihr Rechtsanwalt
stimmt mit einer Verbeugung
noch einmal zu
und die Sache
wird bis auf Einholung des
Bescheides vom Wiener Klienten, also auf etwa
drei
Wochen, vertagt.
Ich bitte Sie, lieber Herr Kraus, diesen meinen
vertraulichen Bericht nicht als
einen Ausdruck der
Antipathie
gegen Herrn Dr. Levi, den ich zum ersten
Mal im Leben sah, aufzufassen,
und auch nicht
als den Wunsch,
diese Sache neu anzufachen. Vielleicht
ist die vorgeschlagene Lösung
wirklich die beste
– darüber habe
ich kein Urteil. Ich habe Ihnen
hier
den
meinen
Eindruck von diesen 5 Minuten
wiedergegeben.
Mit den besten grüßen
Ihr
Ihr Sigismund v. Radecki
P.S. Falls der Vergleich
nicht zustandekommen
sollte,
wäre ich für eine Verständigung
über den Verhandlungstermin
dankbar. R.